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Archiv "Minimale zerebrale Dysfunktion: Das MCD-Konzept ist überholt" (07.02.1992)

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AKTUELLE MEDIZIN

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Minimale zerebrale Dysfunktion

Das MCD-Konzept ist überholt

Martin H. Schmidt

1. Das nosologische Kon- zept der minimalen zerebralen Dysfunktion

Elterninitiativen oder Sonder- klassen für sogenannte MCD-Kinder lassen daran denken, daß die Zuord- nung zu dieser Gruppe nicht nur von Ärzten, sondern auch von Nichtärz- ten getroffen wird. Aber auch Ärzte schätzen die Häufigkeit (zum Bei- spiel Small 1982) und Bedeutung der MCD (zum Beispiel Ruf-Bächtiger 1987) hoch ein. Generell wird mit der Zugehörigkeit zur Gruppe der Kinder mit minimaler zerebraler Dysfunktion die Vorstellung einer verzögerten Entwicklung in verschie- denen Bereichen und in schulischen Fertigkeiten verbunden. Hinzu kom- men Verhaltensbesonderheiten, wie zum Beispiel Langsamkeit, Reiz- überempfindlichkeit, Impulsivität, Affektlabilität, Distanzstörung, Hy- permotorik, Ängstlichkeit oder auf- fallende Angstfreiheit. Diese Merk- male werden ergänzt durch Angaben über pathologische Vorkommnisse während Schwangerschaft, Geburt und postpartaler Entwicklung, wei- ter durch „feinneurologische Befun- de" und Besonderheiten im EEG.

Die Verhaltensauffälligkeiten wer- den im Gegensatz zu den anamnesti- schen Fakten und neurologischen Befunden für spezifisch gehalten, häufig wird postuliert, daß sich Schulschwierigkeiten aus ihnen zwingend ergeben, und diese werden pathogenetisch wie die Verhaltens- auffälligkeiten überwiegend einer veränderten Wahrnehmung der so- genannten MCD-Kinder zugeschrie- ben. Es besteht die Vorstellung, die

Das seit Ende der 40er Jahre in.

der Kinder- und Jugendpsychia- trie zunehmend beliebte Konzept eines Syndroms der Folgen leich- ter frühkindlicher Hirnschädigung bedarf der empirischen Überprü- fung. Die häufigen Himfunktions- störungen im Kindesalter können sich in neurologischen und neu- ropsychologischen Symptomen, Leistungseinschränkungen und Verhaltensbesonderheiten aus- drücken, ihnen kommt aber we- der Syndromcharakter noch eine spezifische Pathogenese zu. Eine bestimmte Psychopathologie läßt sich für sie nicht nachweisen, ebensowenig ein vorhersagbarer Verlauf. Kindliche Hirnfunktions- störungen beruhen weitgehend auf umschriebenen Entwicklungs- störungen. Auf sie geht die patho- genetische Bedeutung solcher Hirnfunktionsstörungen für die kinderpsychiatrische Morbidität hauptsächlich zurück. Ihre Früher- kennung und Behandlung ist des- halb gesundheitspolitisch bedeut- sam.

Gedanken, Merkmale und Sympto- me seien regelhaft im Sinne eines Syndroms verbunden.

Die Geschichte dieser Syndrom- bildung kann hier nicht nachgezeich- net werden, sie beginnt mit einer Pu- blikation von Strauss und Lethinen im Jahre 1947, die neben Körperbe- hinderungen im Sinne der zerebra- len Bewegungsstörung und neben In- telligenzminderungen Verhaltens- auffälligkeiten als einen möglichen Ursachenkomplex im Gefolge von

Hirnschädigungen in früher Kind- heit beschrieben. Bereits Strauss postulierte, daß neurologische Aus- fälle dazu nicht zwingend notwendig seien. Diesem Konzept entspricht der 1978 von Lempp eingeführte Terminus eines „frühkindlich-exoge- nen Psychosyndroms" ebenso, wie das von Corboz (1966) definierte Bild des „psychoorganischen Syn- droms" des Kindesalters oder das

„hirnorganisch-psychische Achsen- syndrom" von Göllnitz (1954). Als diagnostisches Vorgehen hat sich eingebürgert, Besonderheiten aus zwei oder drei von mindestens fünf Merkmalsgruppen zu verlangen (Ri- siken in frühester Kindheit, Abnor- mitäten der psychmotorischen Ent- wicklung, neurologische und neuro- physiologische Defizite, spezifische Teilleistungsschwächen, besondere Verhaltensweisen) und diese aufzu- summieren, ohne ihnen unterschied- liche Gewichte beizumessen. Es ist leicht erkennbar, daß dabei einem Kind mit auffälligem Verhalten, be- lasteter Geburtsanamnese und ver- langsamter frühkindlicher Entwick- lung die Diagnose zugeschrieben werden kann, ohne daß es wirkli- che Hirnschädigungszeichen zeigt.

Lempp (1980) hat zwar die Schwie- rigkeiten der Diagnose betont, so- fern sie sich allein auf den psychi- schen Befund verlassen, er sagt aber, dieser Befund könne „im Einzelfall Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med.

Dr. rer. nat. Martin H. Schmidt) am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim/Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg

A1-378 (40) Dt. Ärztebl. 89, Heft 6, 7. Februar 1992

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so ausgeprägt sein, daß eine weitere körperliche Diagnostik nicht erfor- derlich ist" (Seite 359). Manchmal seien bereits die psychopathologi- schen Auffälligkeiten so typisch, daß man auch beim Fehlen anamnesti- scher Hinweise und körperlicher Symptome mit hinreichender Sicher- heit die Diagnose eines frühkindlich- exogenen Psychosyndroms stellen könne. Auf die häufig fälschliche Gleichsetzung mit dem hyperkineti- schen Syndrom (Ochroch 1981, zu- letzt Ruf-Bächtiger 1987) sei nur am Rande hingewiesen.

Schon der Begriff „minimal" im MCD-Konzept legt die Vorstellung von einer Verdünnungsreihe nahe, an deren schwächerem Ende die be- troffenen Kinder in der Nähe zur Normalität einzuordnen sind. Die verwendeten diagnostischen Merk- male messen häufig nicht einen pa- thologischen Zustand, sondern die Nichtoptimalität einer Funktion. Sie weisen relativ hohe Basisraten auf, zeigen eine unterschiedliche Daten- qualität und erklären sich in unkla- rem Ausmaß gegenseitig. Werden diese Merkmale also ungewichtet summiert, können der gleichen Dia- gnose sehr unterschiedliche Kombi- nationen zugrundeliegen und diese auch in unterschiedlichen Ausprä- gungsgraden. Eine weitere Haupt- schwierigkeit ist aber die Vorstellung einer Spezifität der psychopathologi- schen Symptomatik, an ihr wurden auch schon frühzeitig Zweifel geäu- ßert (Rutter 1977, Sieber 1978, Poustka 1979).

2. Spezifische Psycho- pathologie, Syndrom- charakter, einheitliche Ätiologie?

Daraus ergibt sich die Frage, ob Kinder mit klaren Zeichen einer Hirnfunktionsstörung typische psy- chopathologische Symptome aufwei- sen. Diese Frage ist nicht an Inan- spruchnahmepopulationen unter- suchbar, denn es ist unklar, ob nicht solche Inanspruchnahmepopulatio- nen bevorzugt eine bestimmte Leit- symptomatik für sogenannte MCD- Syndrome zeigen. Aus derartigen Feldstudien ist aber bekannt, daß bei

Kindern mit Hirnfunktionsstörungen keine bestimmten Symptome oder bestimmten Diagnosen häufiger vor- kommen, als diese nach der allge- meinen Symptom- und Diagnosen- verteilung zu erwarten wären (Esser und Schmidt 1987). Auch dem erfah- renen Kliniker kann also keine Un- terscheidung zwischen sogenannten frühkindlich-exogenen Psycho- syndromen und anderen psychopa- thologischen Bildern gelingen. So- weit dennoch typische Merkmale auszumachen sind, handelt es sich dabei um Begleitsymptome des Lei- stungsverhaltens, das aber mit psy- chometrischen Verfahren zuverlässi- ger und gültiger zu beschreiben ist und einen allgemeinen Entwick- lungsrückstand signalisiert. Retar- diertes Verhalten hat in der Regel aber keine qualitativ anderen Phäno- mene, als sie in der regelrechten Entwicklung vorkommen, und das unterscheidet es von einem spezi- fisch psychopathologischen Bild (sol- che Phänomene machen ja zum Bei- spiel die Abgrenzung zwischen Intel- ligenzminderung und frühkindli- chem Autismus möglich).

Anders verhält es sich mit um- schriebenen Entwicklungsstörungen, die bei Kindern mit Hirnfunktions- störungen definitionsgemäß häufig gefunden werden. Hier ist das klini- sche Bild dadurch geprägt, daß bei intakten Leistungen in den meisten Bereichen in einem oder zwei typi- schen Leistungssektoren auffallende Minderleistungen vorliegen, etwa in der Sprachproduktion (was zum Bild eines Sprachentwicklungsrückstan- des führt) oder beim Erwerb der Le- sefähigkeit (was eine umschriebene Lese-Rechtschreibschwäche zur Fol- ge haben kann).

Schon Anfang der 60er Jahre wurde dargelegt (Bax und McKeith,

1963), daß nicht alle Hirnschädigun- gen zu einer Störung der Hirnfunk- tionen führen müssen, und daß bei einem Teil aller hirnfunktionsgestör- ten Kinder keine Hirnschädigungen nachweisbar sind. Das hat damals zum Begriff der leichten (minima- len) Hirnfunktionsstörung anstelle der leichten (minimalen) Hirnschä- digung geführt. Beeinträchtigungen der Hirnfunktionen können sich in neurologischen Symptomen sowie

Veränderungen im Hirnstrombild — auch in den evozierten Potentialen — äußern, also im Bereich neurophy- siologischer Funktionen. Separat da- von können neuropsychologische Funktionsstörungen bestehen. Lie- gen solche vor, dann sind psychische Funktionseinschränkungen wahr- scheinlich, wenn auch nicht zwin- gend. Neuropsychologische Defizite bilden also neben der morphologi- schen und neurophysiologischen ei- ne dritte mögliche Manifestations- ebene für Hirnfunktionsstörungen.

Eine vierte Manifestationsebene stellt das Verhalten dar, also die Summe aller auf der Basis der Mög- lichkeiten des Zentralnervensystems erlernten Reaktionen und Tätigkei- ten. Daraus kann das Leistungsver- halten im engeren Sinne abgegrenzt werden, das wegen der größeren Rolle der zentralnervösen Basis eine geringere Varianz aufweist als etwa Kreativität, Verstehen sozialer Si- gnale, affektive Reaktionen oder Kommunikation. Leicht ist ersicht- lich, daß in diesem Bereich lebensge- schichtliche Zusammenhänge und Lernerfahrungen in der Regel die Rolle der zugrundeliegenden zen- tralnervösen Aktivität deutlich über- lagern, was die oben beschriebene fehlende Korrelation von Verhal- tensauffälligkeiten und Hirnfunkti- onsstörungen erklärt. Noch stärker ist das im Bereich des subjektiven Erlebens der Fall, weshalb in aller Regel darauf verzichtet wird, Hirn- funktionsstörungen an nicht lei- stungsbezogenem Verhalten und an Äußerungen über subjektives Erle- ben zu diagnostizieren.

Für die Diagnostik von Hirn- funktionsstörungen verbleiben damit neurophysiologische, neuropsycholo- gische und Leistungsparameter, da morphologische Veränderungen über Hirnschädigungen nur bedingt etwas über Hirnfunktionsstörungen aussagen. Besteht nun wirklich ein Syndrom minimaler zerebraler Dys- funktion, dann müssen in diesem Syndrom bestimmte Verhaltensauf- fälligkeiten und Defizite regelhaft miteinander verknüpft sein, das heißt, es sollten obligate Symptome des Syndroms definiert sein. Das kli- nische Vorgehen ist von einem sol- chen Zustand aber weit entfernt, es Dt. Ärztebl. 89, Heft 6, 7. Februar 1992 (41) A1-379

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summiert bei der Diagnostik fakulta- tive Symptome. Schon das wider- spricht dem Syndromcharakter.

Dennoch müßte man wenigstens fol- gern, daß gröbere Normabweichun- gen in den Hirnfunktionen aus ver- schiedenen der genannten Manife- stationsebenen gehäuft zusammen auftreten, wenn der minimalen zere- bralen Dysfunktion Syndromcharak- ter zuerkannt werden soll.

In der Tat sind gröbere Normab- weichungen in neurophysiologi- schen, neuropsychologischen und Leistungsparametern überzufällig häufig in der Bevölkerung zu finden, das heißt, sie kommen in extremen Ausprägungen weitaus häufiger vor, als es den Verteilungsgesetzmäßig- keiten für biologische oder biolo- gisch fundierte Merkmale, die sich in der Regel nach der Gaußschen Normalverteilung richten, ent- spricht. So fanden Esser und Schmidt (1987) bei achtjährigen Kin- dern bei einer Erwartungswahr- scheinlichkeit von jeweils 2,3 Prozent neurophysiologische Störungen in 6,6 Prozent und spezifische Lei- stungsdefizite in 5,3 Prozent, ledig- lich neuropsychologische Beein- trächtigungen wurden nur bei zwei Prozent der untersuchten Zufall- stichprobe mit einem Intelligenzquo- tienten von > 85 gefunden; (bei Kin- dern mit einem Intelligenzquotien- ten von lediglich > 70 stieg die Rate der spezifischen Leistungsdefizite auf 8,5 Prozent).

Bei Kindern mit derartigen Ex- tremvarianten in bestimmten Funkti- onsbereichen wäre bei einer regel- haften Verbindung derselben mit deutlichen Überschneidungen sol- cher Auffälligkeiten zu rechnen.

Kinder mit Einschränkungen in mehr als einem dieser Bereiche wer- den aber in weniger als ein Prozent unausgelesener Stichproben gefun- den. Das bedeutet, daß — falls es sich hier um ein regelhaftes Vorkommen handelt — die minimale zerebrale Dysfunktion ein seltenes Ereignis ist (etwa so häufig, wie die Manifestati- on einer Schizophrenie beim Er- wachsenen), daß aber von einem Syndrom, das bei 18 Prozent aller Schulkinder vorkommt (so beispiels- weise Lempp 1978) keine Rede sein kann.

Die Frage, ob Hirnfunktionsstö- rungen, wie häufig angenommen (Ruf-Bächtiger, 1987, distanziert sich allerdings von dieser Annahme und hält dominant vererbte Hirn- funktionsstörungen für möglich), mit schädigenden Ereignissen in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in der Perinatalzeit einherge- hen, muß ebenfalls negativ beant- wortet werden. Bei Esser und Schmidt (1987) war dem diesbezüg- lich fehlenden Zusammenhang zwi- schen anamnestischen Angaben der Eltern und späteren Hirnfunktions- störungen der Kinder auch nicht durch die Verwendung von Auszü- gen aus geburtshilflichen Protokol- len abzuhelfen.

3. Klinische Bedeutung von Hirnfunktions- störungen und weiter- führende Üb erlegungen

Haben Beeinträchtigungen der neurophysiologischen oder neuro- psychologischen Funktionen oder Schwächen in spezifischen Teillei- stungen also überhaupt eine Bedeu- tung für die kinderpsychiatrische Morbidität? Diese Frage ist zu beja- hen: fast 40 Prozent der hirnfunkti- onsgestörten Kinder zeigen kinder- psychiatrische Auffälligkeiten von Krankheitswert gegenüber 16 Pro- zent in unausgelesenen Stichproben.

Umgekehrt ist der Anteil hirnfunkti- onsgestörter Kinder unter psychia- trisch auffäligen erhöht. Vorwiegend finden sich psychiatrische Auffällig- keiten bei Kindern mit umschriebe- nen Leistungsschwächen, selten bei Kindern mit rein neurologischen Auffälligkeiten. Diese Häufung ist auch der Hintergrund der Spekula- tionen um ein MCD-Syndrom. Ge- mäß diesem Zusammenhang sam- meln sich hirnfunktionsgestörte Kin- der in kinderpsychiatrischen und kin- derärztlichen Sprechstunden, Ambu- lanzen, Polikliniken und Kliniken.

In der von Esser und Schmidt (1987) untersuchten Inanspruchnah- mestichprobe Achtjähriger fanden sich knapp 17 Prozent hirnfunktions- gestörte Kinder (ähnlich bei Rem- schmidt et al. 1988 bei 20 Prozent der 6- bis 9jährigen) gegenüber 12,6

Prozent in einer Grundschulpopula- tion. Häufiger als unter den unaus- gelesenen Kindern zeigen Inan- spruchnahmepatienten Hirnfunkti- onsstörungen in zwei Manifestati- onsebenen (7,2 Prozent gegenüber 0,7 Prozent). Ein Syndromcharakter der Hirnfunktionsstörungen ist aber auch für diese Patienten ebensowe- nig nachweisbar wie eine spezifische Psychopathologie oder eine einheit- liche Ätiologie.

Ein potentielles MCD-Syndrom müßte — bezogen auf den kindlichen Lebenslauf — Stabilität oder abneh- mende Häufigkeit zeigen (Gillberg et al. 1982, Ruf-Bächtiger 1987).

Auch das ist aber unzutreffend (Schmidt und Esser 1991). Vielmehr ergeben sich bei Rückgriff auf die — angesichts des fehlenden Syndrom- charakters einzig mögliche — statisti- sche Definition zwar „Besserungen"

dergestalt, daß bei 50 Prozent der Dreizehnjährigen, die als Achtjähri- ge Hirnfunktionsstörungen aufge- wiesen hatten, solche nicht mehr nachweisbar waren, aber es fand sich eine ebenso hohe Rate von „Neuer- krankungen" an Hirnfunktionsstö- rungen. Dieser Befund widerspricht der Vorstellung von einer nosologi- schen Einheit, die pathogenetisch mit dem Lebensanfang in Verbin- dung steht.

Warum erfreut sich das MCD- Konzept trotz seiner offensichtlichen und zumindest aus nosologischer Sicht vernichtenden Schwächen sol- cher Beliebtheit? Die gültigen, aber in sich nicht schlüssigen Regeln zu seiner Diagnose führen leicht zur Annahme einer organischen Genese allfälliger kinderpsychiatrischer Auf- fälligkeiten, denn die zugrundelie- genden Merkmale sind quasi ubiqui- tär (ließen sich beispielsweise bei drei Vierteln aller Kinder in der Stich- probe von Esser und Schmidt, 1987, nachweisen). Die Diagnose entlastet zudem die Eltern und sichert bei gün- stiger Spontanprognose wenigstens bei jedem zweiten Kind den Eindruck therapeutischer Erfolge.

Auch diese vermeintlichen Vor- teile des Konzepts rechtfertigen aber nicht, daß wir uns seiner künftig be- dienen. Auch die Versuche, die pa- thogenetische Bindung an exogene Traumen aufzugeben (Black 1981, A1-382 (44) Dt. Ärztebl. 89, Heft 6, 7. Februar 1992

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Ruf-Bächtiger 1987), indem metabo- lische Störungen und Malnutritionen oder hereditäre Störungen in die Pathogenese einbezogen werden, ist nicht hilfreich. Die dazu angeführte Begründung, die minimale zerebrale Dysfunktion sei mit einer Prävalenz zwischen 10 Prozent und 20 Prozent (Ochroch 1981) beziehungsweise zwischen 3 Prozent und 10 Prozent (Small 1982) die häufigste psychiatri- sche Diagnose im Kindesalter, die Behandlung dieser Störung sei stets langwierig, und unbehandelt komme es unweigerlich zu Behinderungen, ist nicht überzeugend. Die häufigen spezifischen Entwicklungsstörungen, die sich hinter diesem Bild verber- gen, sind nämlich im Hinblick auf ih- re Prognose und Bedeutung (Esser 1990) eine gezieltere Diagnostik und Therapie wert, um die daraus resul- tierenden kinderpsychiatrischen Stö- rungen nach Möglichkeit zu vermei- den. Stigmatisierungen als frühkind- lich hirngeschädigt werden den be- troffenen Kindern dabei erspart und die Beteiligung der Familie für die Bewältigung solcher Leistungsein- schränkungen betont.

Unser Verständnis für umschrie- bene Leistungsstörungen und die nö- tigen diagnostischen Prozeduren müssen verbessert und geeignete In- terventionsmethoden untersucht werden, von der Vorstellung einer globalen minimalen zerebralen Dys- funktion als häufiger kinderpsychia- trischer Störung aber müssen wir Abschied nehmen. Hirnfunktions- störungen bei Kindern sind jedoch häufig Bedingung kinderpsychiatri- scher Erkrankungen und als solche der diagnostischen und therapeuti- schen Mühe des Kinder- und Ju- gendpsychiaters sowie des Kinder- arztes wert.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.

Martin H. Schmidt

Kinder- und Jugendpsychatrische Klinik am Zentralinstitut

für Seelische Gesundheit J5

W-6800 Mannheim 1

Hypomotilität bei nichtulzeröser Dyspepsie

Die nicht ulzeröse Dyspepsie (Reizmagen) umfaßt einen gro- ßen Sammeltopf unterschiedlicher Krankheitsbilder mit verschiedener Pathophysiologie, wobei offensicht- lich bei der Mehrzahl der Patienten eine verzögerte Magenentleerung angenommen werden kann. In einer prospektiven multifaktoriellen Ana- lyse bei 50 Patienten mit einer Reiz- magensymptomatik wurden Magen- entleerungsstudien für feste Mahl- zeiten, eine Magensekretionsanaly- se, eine hepatobiliäre Sequenzszin- tigraphie und ein H2-Atemtest durchgeführt. Aufgrund der im Vor- dergrund stehenden Symptome wur- den 22 Patienten als Reizmagen vom Motilitätsstörungstyp, 14 als essenti- elle Dyspepsie, 11 als Reizmagen vom Refluxtyp und drei als Dyspep- sie vom Ulkustyp eingestuft. In der Gesamtpopulation war die Magen- entleerung für feste Speisen auf 102 Minuten verlängert, bei 26 Patienten fand sich eine histologische Gastritis, bei 18 war die Untersuchung auf He- licobacter pylori positiv. Es bestand eine inverse Korrelation zwischen Magenentleerung und Säureoutput:

Je niedriger die säuresekretorische Leistung, desto langsamer die Magenentleerung. Auch die oralzö- kale Transitzeit war in der Gesamt- population verlängert, bei sieben Pa- tienten lag eine bakterielle Kontami- nation des Dünndarms vor. Eine As- soziation zwischen bestimmten Sym- ptomen und objektiv faßbaren Pa- thologica ließ sich nicht feststellen.

Zusammenfassend läßt sich fest- halten, daß bei vielen Patienten mit Reizmagensymptomatik eine Hypo- motilität im Sinne einer Gastropare- se und eine verzögerte Transitzeit im Dünndarm vorliegt.

Waldron, B. P. I. Cullen. R. Kumar, D.

Smith, J. Jankowski, D. Hopwood, D. Sut- ton, N. Kennedy, F. C. Campell: Evidence for hypomotility in non-ulcer dyspepsia: a prospective multifactorial study. Gut 32:

246-251,1991 Department of Surgery

Ninewells Hospital and Medical Score Dundee, DD1 GY

Großbritannien

Folge-Malignome nach akuter lymphoblastischer Leukämie im Kindesalter

Die derzeitig angewandten The- rapieformen zur Behandlung der akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL) führen zu Fünf-Jahres-Über- lebensraten von über 70 Prozent, gel- ten aber selbst als kanzerogen. Um die Häufigkeit von Folge-Maligno- men und mögliche Risikofaktoren bei ihrer Entstehung festzustellen, untersuchten die Autoren in einer retrospektiven Kohortenstudie 9720 Kinder, die von 1972 bis 1988 wegen einer ALL behandelt worden waren (verschiedene Therapieprotokolle der „Childrens Cancer Study Group"

mit variabler Anwendung von Dau- norubicin, Doxorubicin, Cyclophos- phamid und cranio-spinaler Radia- tio). Die mediane Nachbeobach- tungszeit lag bei 4,7 Jahren (Zwei Monate bis 16 Jahre). Insgesamt fan- den sich 43 Folge-Malignome, davon 24 ZNS-Tumoren, zehn (neue) Leu- kämien und Lymphome und neun andere Malignome. Dadurch ergab sich ein siebenfach erhöhtes Risiko für alle Malignome, für das Auftre- ten von ZNS-Tumoren sogar ein 22fach erhöhtes Risiko. Die zu er- wartende Rate an Folge-Maligno- men für alle behandelten Kinder lag nach 15 Jahren bei 2,53 Prozent. Für Kinder unter fünf Jahren war das Ri- siko eines Folge-Malignoms, insbe- sondere eines ZNS-Tumor noch hö- her. Die ZNS-Tumoren traten nur bei Kindern mit ZNS-Bestrahlung auf, eine Assoziation zu einzelnen Medikamenten bestand nicht. acc

Neglia, J., A. Meadows, L. Robinson, T.

Kim, W. Newton, F. Ruyman, H. Sather, G. Hammond: Second Neoplasms After A cute Lymphoblastic Leukemia In Child- hood. N. Engl. J. Med. 325 (1991) 1330-1336.

Dr. Hammond, Children's Cancer Study Group, 440 E. Huntington Dr., Suite 300, P. 0. Box 60012, Arcadia, CA 91066-6012, USA.

A1 -384 (46) Dt. Ärztebl. 89, Heft 6, 7. Februar 1992

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