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Archiv "Frühkindliche Zerebralparese: Epidemiologische und klinische Aspekte" (06.06.1991)

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Academic year: 2022

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(1)

1.6 per 1000 Lebendgeborene

El >2500 g D 1500-2500 g

Ei <1500 g I E

2.2 per 1000 Lebendgeborene

1967-1970 1979-1982

Abbildung 1: Prävalenz der Zerebralparese in Abhängigkeit vom Geburtsgewicht (nach Hagberg 1979, 1989)

RET I CEPT 1 14 WLY 1 11 1111 42

Frühkindliche Zerebralparese:

Epidemiologische

und klinische Aspekte

Für die Früherfasssung der Zerebralparese haben sich folgende Hin- weise als nützlich erwiesen: Die Häufigkeit der Zerebralparese steigt mit abnehmendem Gestationsalter deutlich an. Neurologische und kli- nische Auffälligkeiten sowie Befunde bildgebender Verfahren sind pro- gnostisch weit aussagekräftiger als anamnestische Angaben über prä- und perinatale Risikofaktoren. Die neurologische Untersuchung muß die Dynamik der neurologischen Entwicklung im ersten Lebensjahr be- rücksichtigen. Andernfalls wird die Zerebralparese überdiagnostiziert.

Remo H. Largo

n der Diagnostik der früh- kindlichen Zerebralparese lassen wir uns von unserem epidemiologischen Wissen, anamnestischen Angaben über perinatale Risikofaktoren und neurologischen Untersuchungsbe- funden leiten. So gehen wir davon aus, daß bei frühgeborenen Kindern gehäuft Diplegien auftreten. Wir verfolgen Kinder, die eine Geburts- asphyxie durchgemacht haben, mit besonderer Aufmerksamkeit. Ein er- höhter Muskeltonus und gesteigerte Eigenreflexe beim jungen Säugling werten wir als Anzeichen für eine beginnende Zerebralparese.

Das Anliegen dieses Artikels ist es, auf epidemiologische und klini- sche Aspekte der frühkindlichen Zerebralparese hinzuweisen, die sich in den letzten Jahren aus verschiede- nen Studien ergeben haben, und die von Bedeutung für Kinderärzte und Allgemeinpraktiker sind, die Risiko- kinder betreuen.

Epidemiologische Aspekte

Die Häufigkeit der Zerebralpare- se wird in der Literatur mit 1,5 bis 2,5 Kinder pro 1000 Lebendgeborene an-

Abteilung für Wachstum und Entwicklung (Leiter: Prof. Dr. med. Remo H. Largo) Universitäts-Kinderklinik Zürich

gegeben (8, 23). Wir neigen dazu, die Zerebralparese vor allem mit Frühge- burtlichkeit, insbesondere extremer Frühgeburtlichkeit, in Verbindung zu bringen. Aus Abbildung 1 können wir ersehen, daß Kinder mit einem Ge- burtsgewicht unter 1500 Gramm we- niger als 20 Prozent aller Kinder mit Zerebralparesen ausmachen, 25 Pro- zent der betroffenen Kinder haben ein Geburtsgewicht von 1500 bis 2500 Gramm. Mehr als die Hälfte der Kin- der mit Zerebralparese weisen ein Geburtsgewicht von mehr als 2500 Gramm auf, sind also mehrheitlich am Termin geboren.

In den vergangenen 20 Jahren ist der Anteil der Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm von 12 Prozent auf 17 Prozent ange- stiegen. Zusätzlich nahm die Ge-

samthäufigkeit der Zerebralparese von 1,6 auf 2,2 Kinder pro 1000 Le- bendgeborene zu. In der schwedi- schen Felduntersuchung wie auch in anderen Studien mehren sich die Anzeichen, daß nicht nur mehr sehr kleine Frühgeborene überleben, son- dern auch in absoluten Zahlen die Häufigkeit der Zerebralparese unter diesen Kindern zunimmt. Diese Ent- wicklung hat einen epidemiologi- schen und einen klinischen Aspekt.

Epidemiologisch fallen die sehr kleinen Frühgeborenen deshalb nicht so sehr ins Gewicht, weil sie weit weniger als ein Prozent der Ge- samtpopulation neugeborener Kin- der ausmachen (Abbildung 2). 5 bis 6 Prozent aller Kinder sind frühgebo- ren, das heißt sie kommen vor der 37. Schwangerschaftswoche auf die

(2)

40-

30

20

10

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 1 2-

26 27 28 29 30 i 31 32 3334 35 36 37 38 39 40 41 42 Gestationsalter (Wochen)

500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 Geburtsgewicht (9)

25 29 32 34 37 40 Gestationsalter (W)

Prävalenz pro 1000 Lebendgeborene 350

200 300

250

150

100

50

0

Abbildung 2: Geburtenhäufigkeit in Abhängigkeit vom Gestations- alter (McFarlane 1984, Wälli et al, 1980)

Abbildung 3: Prävalenz der Zerebralparese in Abhängigkeit von Ge- stationsalter/Geburtsgewicht (Stanley et al. 1984, Largo et al. 1991, Stewart 1989)

Welt. Davon sind lediglich 5 bis 10 Prozent, das heißt 0,3 bis 0,6 Prozent aller Kinder, vor der 30. Schwanger- schaftswoche geboren.

Klinisch ist die Frühgeburtlich- keit insofern bedeutungsvoll, als die Häufigkeit der Zerebralparese mit abnehmendem Gestationsalter stark zunimmt (Abbildung 3).

Unter den Kindern mit einem Geburtsgewicht von mehr als 2500 Gramm weist lediglich ein Kind pro 1000 Lebendgeborene eine Zere- bralparese auf. Bei einem Geburts- gewicht zwischen 2500 und 1500 Gramm beträgt die Häufigkeit be- reits 25 bis 40 Zerebralparesen pro 1000 Lebendgeborene. Zwischen 1500 und 1000 Gramm Geburtsge- wicht steigt die Häufigkeit der Zere- bralparese auf 40 bis 90 pro 1000 Le- bendgeborene an. Bei einem Ge- burtsgewicht unter 1000 Gramm schließlich beträgt die Häufigkeit der Zerebralparese 100 bis 300 betroffe- ne Kinder pro 1000 Lebendgebore- ne. Die Zerebralparese ist also bei sehr kleinen Frühgeborenen 100- bis 300mal häufiger als bei termingebo- renen Kindern. Da — wie bereits er- wähnt — weit weniger als ein Prozent aller Kinder vor der 30. Schwanger- schaftswoche geboren werden, wirkt sich diese Zunahme jedoch nur ge- ringfügig auf die Gesamthäufigkeit der Zerebralparese aus. Klinisch ist eine sorgfältige Nachkontrolle dieser Kinder zweifelsohne angezeigt. Ei- nen weiteren epidemiologischen Hinweis, der klinisch hilfreich sein kann, gibt Abbildung 4.

Bei den termingeborenen Kin- dern machen Hemiplegien rund 50 Prozent aller Zerebralparesen aus, je 15 bis 20 Prozent der Kinder weisen eine Diplegie oder Dyskinesien auf, 5 bis 10 Prozent der Kinder haben ei- ne ataktische Form der Zerebralpa- rese. Mehr als 70 Prozent der neuro- logisch auffälligen frühgeborenen Kinder zeigen das klinische Bild ei- ner Diplegie, wobei häufig nicht nur die unteren, sondern auch die obe- ren Extremitäten betroffen sind,

letztere aber in einem geringeren Ausmaß. 20 Prozent der Kinder ha- ben eine Hemiplegie und 5 bis 10 Prozent eine Zerebralparese vom ataktischen oder dyskinetischen Typ.

Prognostische Aussagekraft von perinatalen Risikofaktoren

Welche Bedeutung haben ana- mnestische Angaben über die

Tabelle 1: Risikofaktoren mit prognostischer Bedeutung für die post- natale Entwicklung

pränatal

— Mutter: Medikamente, Drogen, Gestose, Rauchen

— Kind: Untergewicht, Kleinwuchs, Mikrozephalie, gehäuft kleine und/

oder große Mißbildungen perinatal

—tiefes Gestationsalter (perinatale Komplikationen wie tiefer Apgar- score sind wenig aussagekräftig!)

—eindeutige neurologische Auffälligkeiten im Neugeborenenalter (schwere Hypotonie, wiederholte, langdauernde Krampfanfälle usw.)

—Auffälligkeiten im Ultraschall, CT oder MRI (Leukomalazie, Hirn- blutungen, Entwicklungsmißbildungen)

postnatal

- sozioökonomische Faktoren (berufliche Stellung, Arbeitsweise [Schicht!], Wohnsituation)

- psychosoziale Faktoren (alleinstehende Mutter, Scheidungssituati- on, schwere körperliche oder psychische Krankheiten, Tod in der Fa- milie)

—kulturelle Faktoren (zum Beispiel unterschiedliche Erziehungshal- tungen bei Eltern differierender kultureller Herkunft)

(3)

Prozentuale Verteilung der verschiedenen CP-Formen bei termin- und frühgeborenen Kindern

70-

fl

Termingeborene

EI}

Frühgeborene 60 -

50 - 40- 30 - 20 - 10- 0-

Hemiplegie Diplegie

Tetraplegie Ataxie

Dyskinesie

Zysten

67 96 62 97

"prolonged flares"

Schwangerschaft, Geburt und Neo- natalperiode? Hinweise auf Risiko- faktoren, die sich aus der Schwan- gerschaftsanamnese ergeben, sind zumeist unergiebig. Wesentliche An- gaben betreffen Medikamentenein- nahme, Drogenkonsum, Gestose und das Zigarettenrauchen (Tabelle 1).

Befunde, die beim Neugebo- renen selbst erhoben werden und die auf eine gestörte intrauterine Entwicklung hinweisen, sind be- deutungsvoller: Untergewichtigkeit, Kleinwüchsigkeit und Mikrozepha- lie. Das Vorliegen von kleinen und großen Mißbildungen wird gehäuft bei Neugeborenen beobachtet, de- ren Wachstum und Entwicklung postnatal gestört verlaufen.

Fachleute wie auch Eltern nei- gen dazu, die postnatalen Auswir- kungen von Geburtskomplikationen zu überschätzen. Grünes Fruchtwas- ser, tiefes Nabelschnur-pH oder ein niedriger Apgarscore werden als ominöse Zeichen betrachtet, denen eine prognostische Bedeutung zu- kommt. In den vergangenen Jahren hat eine Reihe von Studien überein- stimmend gezeigt, daß einzelne Risi- kofaktoren und sogar eine Kumulati- on von Risikofaktoren nur einen schwachen allgemeinen und zumeist überhaupt keinen statistisch gesi- cherten Einfluß auf die postnatale Entwicklung haben. In der Zweiten Zürcher Longitudinalstudie wurde ein sogenannter Perinataler Optima- litäts-Score verwendet, der mehr als 90 Risikofaktoren der Perinatalzeit umfaßte. Wir konnten in bezug auf

Abbildung 4:

Relative Häufigkeit der verschiedenen Formen der Zerebralparese bei termin- und frühgeborenen Kindern (nach Hagberg 1989)

die spätere neurologische Entwick- lung keinen signifikanten Einfluß einzelner Risikofaktoren und des Gesamtscores nachweisen (5). Ein- zelne Risikofaktoren, aber auch das Vorliegen von mehreren Geburts- komplikationen sind keine zuverläs- sigen Hinweise auf eine mögliche Gefährdung der postnatalen Ent- wicklung eines Kindes.

Warum sind perinatale Risiko- faktorefi so wenig aussagekräftig?

Der Hauptgrund hierfür ist wohl der folgende: Nach wie vor macht eine kleine Zahl von neugeborenen Kin- dern schwere perinatale Komplika- tionen durch. Die diagnostischen

und therapeutischen Möglichkeiten in der Perinatologie sind aber heut- zutage so groß, daß die Komplikatio- nen keine Langzeitauswirkungen mehr haben. So entwickelt ein Kind beispielsweise ein schweres Atem- notsyndrom. Dank der heutigen Technik der künstlichen Beatmung kann sichergestellt werden, daß das Neugeborene weder eine schwere Hypoxie erleidet, noch an den früher gefürchteten Nebenwirkungen der Beatmung Schaden nimmt (4). Er- krankt ein Neugeborenes an einer bakteriellen Infektion, wird durch frühzeitige antibiotische Behandlung verhindert, daß eine Sepsis zu Me- Tabelle 2: Prognostische Aussagekraft von Ultraschalluntersuchungen, durchgeführt in der Neonatalperiode, für das Vorliegen einer Zerebralparese im Alter von 18 Monaten (Graham et aL 1985)

richtig Positive

richtig Positive + falsch Negative richtig Negative

richtig Negative + falsch Positive

positiver richtig Positive

präd. Wert richtig Positive + falsch Positive

negativer richtig Negative

präd. Wert richtig Negative + falsch Negative

periventrikuläre Blutung

67 53 11 95 Sensitivität

Spezifität

(4)

6 9 12 Alter (Monate)

Abbildung 5: Häufigkeit eines erhöhten Muskeltonus und gesteigerte Eigenreflexe bei gesunden termingeborenen Knaben und Mädchen (Zweite Zürcher Longitudinalstudie)

ningitis, Organversagen und Schock führt. Prognostisch relevant ist heut- zutage weit weniger das Ausmaß und der Schweregrad der durchgemach- ten perinatalen Komplikationen als vielmehr die Qualität der perinatolo- gischen Betreuung.

Der wichtigste perinatale Risi- kofaktor ist — wie oben bereits ausge- führt worden ist — das Gestationsal- ter des Kindes. Je tiefer das Gestati- onsalter, desto größer das Risiko für eine gestörte neurologische Entwick- lung. Mit abnehmendem Gestations- alter nimmt die Vulnerabilität des Zentralnervensystems progressiv zu.

Neurologische Befunde, die in der Neonatalzeit erhoben werden, haben einen gewissen prognosti- schen Wert. Neugeborene, die eine Apathie, eine schwere Hypotonie oder Krämpfe durchgemacht haben, weisen gehäuft postnatale Entwick- lungsstörungen auf.

Eine zunehmend größere pro- gnostische Bedeutung kommt schließlich den Befunden bildgeben- der Verfahren zu, die in den ersten Lebenstagen und -wochen erhoben werden (Ultraschalluntersuchungen, Computertomographie und Magnet- resonanz). Die prognostischen Mög- lichkeiten und Grenzen von Ultra- schalluntersuchungen sind in Tabelle 2 anhand der Studie von Graham und Mitarbeitern (1985) dargestellt.

Bezüglich der periventrikulären

Blutungen wurde eine Sensitivität und Spezifität von 53 Prozent und 67 Prozent ermittelt. Der positive prä- diktive Wert beträgt lediglich 11 Pro- zent, während der negative prädikti- ve Wert mit 95 Prozent hoch ist.

Dichteverminderungen des Paren- chyms (prolonged flares) haben eine niedrige Sensitivität und einen posi- tiven prädiktiven Wert, während die Spezifität und der negative prädikti- ve Wert 85 Prozent und 92 Prozent betragen. Von größter prognosti- scher Aussagekraft sind Parenchym- zysten; einzuschränken ist wiederum, daß der positive prädiktive Wert le- diglich 62 Prozent erreicht.

Bildgebende Verfahren haben eine weit größere prognostische Aus- sagekraft als anamnestische Anga- ben. Aber auch sie können nur rund zwei Drittel der späteren neurologi- schen Auffälligkeiten voraussagen.

Inwieweit auch Beeinträchtigungen der intellektuellen Entwicklung pro- gnostizierbar sind, ist derzeit noch ungewiß. Bei der Interpretation bild- gebender Untersuchungen ist zu be- achten, daß das Untersuchungsalter, die Qualität der Aufnahmen und die Kompetenz des Untersuchers die Aussagekraft dieser Verfahren we- sentlich mitbestimmen.

Postnatale Faktoren sind für die neurologisghe Entwicklung von un- tergeordneter Bedeutung (Abbildung ,

3).

Sie bestimmen aber die intellek-

tuelle und sozio-emotionale Ent- wicklung weit mehr als alle anderen Risikofaktoren (7).

Klinische Aspekte

Im folgenden kann es auch nicht nur annähernd darum gehen, die neurologische Untersuchung im Säuglings- und Kleinkindsalter um- fassend abzuhandeln. Es wird ledig- lich ein Aspekt dargestellt, der die klinische Relevanz einer neurologi- schen Untersuchung erheblich be- einträchtigen kann: Die Dynamik der normalen neurologischen Ent- wicklung.

Neurologische Untersuchungs- konzepte für Kinder wurden ur- sprünglich aus der Erwachsenenneu- rologie übernommen und waren da- her statischer Natur. Erst mit der Einführung der Entwicklungsneuro- logie in den 60iger Jahren wurde der Dynamik des kindlichen Organismus zunehmend Rechnung getragen. Die Erkenntnis setzte sich immer mehr durch, daß eine zuverlässige neuro- logische Beurteilung die Dynamik der kindlichen Entwicklung mitein- beziehen muß. Die Abbildung 5 zeigt, daß selbst klassische neurologische Zeichen wie der Muskeltonus oder die Eigenreflexe je nach chronologi- schem Alter unterschiedlich ausge- prägt sind.

(5)

Abbildung 6:

Häufigkeit eines feinschlägigen Tremors bei gesunden termingeborenen Knaben und Mädchen (Zweite Zürcher Longitudinalstudie)

UKnaben El Mädchen

Tabelle 3: Auffälligkeiten der Haltung und der Bewegungen bei Kin- dern mit frühkindlicher Zerebralparese

Haltung

—ungenügende Kopfkontrolle

—ungenügende Rumpfkontrolle - Retroflexion des Kopfes

—Henkelstellung der Arme

—Streckstellung der Beine

—eingeschränkter Langsitz

Bewegung

— Häufigkeit vermindert/ver- mehrt

—eingeschränkter Bewegungsum- fang

— Bewegungsablauf nicht glatt, abrupt, zerhackt

Im Alter von einem bis drei Mo- naten weisen etwa 20 Prozent der ge- sunden, mit keinerlei perinatalen Ri- siken belasteten Kinder einen erhöh- ten Muskeltonus und lebhafte Eigen- reflexe auf. In den folgenden Mona- ten schwächen sich der Muskeltonus wie auch die Eigenreflexe bei den meisten Kindern wieder ab. Ein er- höhter Muskeltonus und lebhafte Ei- genreflexe im ersten halben Lebens- jahr sind nicht beweisend für eine Zerebralparese! Dieses Entwick- lungsphänomen läßt uns verstehen, warum bei den Vorsorgeuntersu- chungen der ersten Lebensmonate die Zerebralparese bis um das 10fa- che überdiagnostiziert wurde.

Ein vergleichbares Phänomen konnten wir in unseren Studien in bezug auf die Häufigkeit einer asym- metrischen Körperhaltung beobach-

ten. Rund ein Drittel der gesunden Kinder wiesen im Alter von drei Mo- naten im Sitzen eine leichte, zumeist linkskonvexe Skoliose auf. Bei allen Kindern war diese Haltungsasymme- trie nicht fixiert, das heißt, wenn die Kinder seitlich geneigt wurden, stell- te sich die Wirbelsäule gerade ein oder bog sich auf die andere Sei- te. Diese Haltungsasymmetrie ver- schwand bei allen Kindern bis Ende des zweiten Lebensjahres. Keines der Kinder war einer Physiotherapie zugeführt worden.

Einen anderen Verlauf in den ersten Lebensmonaten zeigt der feinschlägige Tremor, der am häufig- sten im Bereich des Kinns und der Fingerchen zu beobachten ist (Abbil- dung 6). Fast die Hälfte der gesun- den Kinder weisen im ersten Lebens- monat einen feinschlägigen Tremor auf, der in der Folge rasch an Häu- figkeit abnimmt. Diese Art von Tre-

mor stellt keine neurologische Auf- fälligkeit dar.

In der Diagnostik der frühkindli- chen Zerebralparese muß die Dyna- mik der neurologischen Entwicklung berücksichtigt werden. Studien der letzten Jahre zeigen zudem, daß die Diagnostik der Zerebralparese sich nur bedingt aus den klassischen neu- rologischen Einzelsymptomen wie Muskeltonus oder Eigenreflexen er- gibt. Entscheidend ist die Beobach- tung der Körperhaltung und des Be- wegungsmusters (Tabelle 3).

Literatur

1. Graham, M.; Levine, M. I.; Trounce, J. Q.;

Rutter, N.: Prediction of cerebral palsy in very low birth weight infants: prospective ultra- sound study. Lancet II (Sept. 12, 1987) 593 2. Hagberg, B.: Epidemiological and preven-

tive aspects of cerebral palsy and severe mental retardation in Sweden. European Journal of Pediatrics 130 (1979) 71-78 3. Hagberg, B.; Hagberg, G.; Olow, I.; von

Wendt, L.: The changing panorama of ce-

rebral palsy in Sweden. V. The Birth Year Period 1979-82. Acta Paediatrica Scandina- vica 78 (1989) 283-290

4. Lanmann, J. L. S.: History of oxygen thera- py and retrolental fibroplasia. Pediatrics 57 Suppl. (1976) 591

5. Largo, R. H., et al.: Significance of prenatal, perinatal and postnatal factors in the deve- lopment of AGA-preterm children at 5-7 years. Development Medicine and Child Neurology 31 (1989) 440-456

6. Largo, R. H., et al.: Intellectual outcome, speech and school performance in high risk AGA-preterm children. European Journal of Pediatrics 149 (1990a) 845

7. Largo, R. H., et al.: Neurological outcome at schoolage of high risk AGA-preterm chil- dren. European Journal of Pediatrics 149 (1990b) 835

8. Mc Farlane, A.; Mugford: Birth Counts.

Statistics of Pregnancy and Childbirth. Lon- don: HMSO (1984)

9. Paneth, N.; Kiely, J.: The Frequency of Ce- rebral palsy: A review of population studies in industrialized nations since 1950. In: Stanley, F.; Alberman, E.: (Editors): The Epidemiolo- gy of the Cerebral Palsies. Clinics in Develop- mental Medicine 87 (1984) 46

10. Stanley, F.; Albermann, E.: Birthweight, Ge- stational age and the cerebral palsies. In:

Stanley, F.; Alberman, E.: (Editors): The Epi- demiology of the Cerebral Palsies. Clinics in Developmental Medicine 87 (1984) 57 11. Stewart, A. L.: Outcome. In: Harvey, D.,

Cooke, R. W. I., Levitt, G. A.: The baby un- der 1000 g. London: Wright (1989) 331 12. Wälli, R.; et al.: Gewicht, Länge und Kopf-

umfang neugeborener Kinder und ihre Ab- hängigkeit von kindlichen und mütterlichen Faktoren. Helvetica Paediatrica Acta 35 (1980) 397-418

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. R. H. Largo Universitäts-Kinderklinik Steinwiesstraße 75 CH-8032 Zürich

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