Atopie in Deutschland
Untersuchung zur Vorhersagemöglichkeit einer Atopie bei Geburt Erste Ergebnisse der multizentrischen Allergie-Studie 1 ' 2)
Wie verbreitet ist das Risiko bei Neugeborenen, an einer Atopie zu erkranken?
Welche Aussagekraft haben Neugeborenen-Screenings zu dieser Frage? Wel- che Faktoren aus Ernährungs- und Lebensweise sowie der häuslichen Umwelt beeinflussen die Entstehung atopischer Krankheiten? Diese und eine Reihe an- derer Fragen sind Gegenstand einer multizentrischen Kohortenstudie gewe- sen. Die Ergebnisse wie auch die Beobachtungen anderer Forschergruppen rechtfertigen zwar nicht ein allgemeines Nabelschnur-IgE-Screening zur Vor- aussage einer atopischen Erkrankung. Mit wenigen Fragen läßt sich aber in der Praxis das Risiko für ein neugeborenes Kind abschätzen, später utopisch zu erkranken. Die vorliegenden Ergebnisse belegen die große Verbreitung und Bedeutung von atopischen Krankheiten in Deutschland.
Karl E. Bergmann, Renate L.
Bergmann, Carl Peter Bauer, Walter Dorsch, Johannes Forster, Eberhard Schmidt, Jörg Schulz und Ulrich Wahn
V
an den atopischen Krankhei- ten Asthma, Heuschnupfen und Neurodermitis wird im Laufe des Lebens ungefähr ein Viertel der Bevölkerung betrof- fen, wobei auf den Heuschnupfen mit Abstand der größte Anteil entfällt.Die familiäre Häufung dieser Ge- sundheitsprobleme darf als Hinweis auf Erblichkeit gewertet werden. Der Vererbungsmodus ist nach heutigen Vorstellungen „multigenetisch" (8).
Und zwar wird sowohl die Fähigkeit, erhöhte Mengen IgE zu bilden, als auch die, mit spezifischen IgE-Anti- körpern zu reagieren, durch unter- schiedliche genetische Kontrollme- chanismen reguliert. Aber auch die bronchiale Hyperreaktivität und die Xerose (trockene Haut) werden un- abhängig vererbt. Allerdings ist die erbliche Disposition zwar eine not- wendige, nicht aber ausreichende Voraussetzung für eine atopische Er- krankung. Spezifische Allergene und unspezifische Einflußfaktoren aus der Umwelt müssen hinzukommen und bilden dann gemeinsam mit den Anlagefaktoren die „ausreichende Ursache" für eine atopische Manife- station. Von kaum wahrnehmbaren Erscheinungen ohne Krankheitsbe- deutung bis zu schweren, chroni- schen, ja sogar lebensbedrohlichen Manifestationen gibt es fließende Übergänge. Will man die Verbrei- tung atopischer Krankheiten zwi- schen verschiedenen Regionen, Al- ters- und Bevölkerungsgruppen ver- gleichen oder einen zeitlichen Trend ermitteln, so steht man vor der schwierigen Aufgabe, brauchbare Definitionen zu entwickeln oder sinnvolle Grenzwerte festzulegen.
An der Disposition kann man zunächst nichts ändern. Wenn aber Allergene und unspezifische Um- weltfaktoren in der Ätiologie atopi- scher Erkrankungen eine bedeuten- de Rolle spielen, muß grundsätzlich auch eine Prävention möglich sein.
Soll diese in einem prämorbiden Zu- stand ansetzen, dann ergibt sich die Notwendigkeit, das Atopierisiko möglichst früh, das heißt bei Geburt oder vielleicht sogar schon während der Schwangerschaft zu identifizie- ren. Dafür kommt eine Befragung der Eltern, die Bestimmung eines Multiantigen-RAST ebenfalls bei den Eltern und die Messung von im- munologischen Markern im Nabel- schnurblut, insbesondere die Bestim- mung des Nabelschnur-IgE, in Be- tracht.
Wenn beispielsweise das Nabel- schnur-IgE einen Wert von 0,9 kU überschritt, traten bei 67 Prozent der
1) Die MAS-Gruppe: U. Wahn (Studienlei- ter), K. E. Bergmann, C. P. Bauer, W.
Dorsch, J. Forster, W. König, E. Schmidt, R.
L. Bergmann, W. Bohnert, B. Ehnert, B.
Friedek, E. Genzel, Th. Gruß, M. Groeger, S. Günther, G. Hein, J. Schulz, U. Tacke, L.
Vogl-Voswinckel
2) Ein Projekt des Bundesministeriums für Forschung und Technologie Nr.
070 156 33. Projektträger: Gesundheits- forschung, GSF-München
Kinder in den ersten 11 Lebensjah- ren atopische Manifestationen auf (5). War die Familienanamnese posi- tiv, so waren in den ersten 11 Lebens- jahren bei 45 Prozent der beobachte- ten Kinder Atopien festzustellen. Im- merhin reagierten 10 Prozent der Kinder auch dann atopisch, wenn we- der das Nabelschnur-IgE erhöht noch ein Hinweis auf eine Atopie in der Familienanamnese zu finden war.
Diese und ähnliche Befunde aus europäischen Studien (3) ließen be- reits den Ruf nach einem allgemei- nen IgE-Screening laut werden. Es blieben aber Zweifel an einer ausrei- chenden Sensitivität, Spezifität und prädiktiven Wertigkeit der Bestim- mung von IgE im Nabelschnurblut.
Eine Überprüfung der beobachteten Zusammenhänge schien damit gebo- ten. Darüber hinaus gilt als letztlich ungeklärt, welchen Anteil Faktoren aus der Umwelt an der Atopie-Ent- stehung im Säuglings- und Kindesal- ter haben. Deshalb wurde mit Unter- stützung des Bundesministers für Forschung und Technologie eine multizentrische Kohortenstudie auf den Weg gebracht. Sie soll die fol- genden Fragestellungen bearbeiten:
> Wie verbreitet ist das Atopie- risiko bei neugeborenen Kindern?
> Wie groß ist die Aussagekraft und der Voraussagewert eines allge- Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 18, 7. Mai 1993 (45) A1-1341
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25-
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15-
10-
5-
0—
'Angabe Haupt- Haupt- weiterf. Abitur abgeschl abgelehnt schule schule Schule Studium
ohne mit Abschl. Abschl.
Bildungsstatus
Abbildung 1: Prozentan- teil atopischer (deut- scher) Mütter und Väter nach Schulbildung
Mutter (n= 6019)
Vater (n = 5819)
Asthma 4,1 3,6
Heuschnupfen 15,5 16,0
Tabelle 1: Lebenszeit-Prävalenz (%) von Asthma, Heuschnupfen und Neurodermitis bei allen befragten Müttern und Vätern von Neugeborenen
Neurodermitis 3,5 1,7
Tabelle 2: Veränderung der Bandbreite eines Screenings am Beispiel Asthma
Asthma 4,6 (4,5)
Screeningbedingungen Prävalenz bei deutschen Eltern in % Asthma und
mindestens 1 Symptom
3,4 (2,8)
Asthma oder
mindestens 1 Symptom
7,3 (7,1)
Grundlage der Ergebnisse: 4504 (2854) befragte deutsche Mütter (Väter)
Datenbasis: Fragebogen ATOPIE der MAS-Studie (Eigenangaben von Mutter und Va- ter)
meinen Atopiescreenings bei Ge- burt?
> Welche Faktoren aus Ernäh- rungs- und Lebensweise sowie der häuslichen Umwelt beeinflussen die Entstehung atopischer Krankheiten?
Wie groß ist ihr relativer Beitrag?
> Welche Bedeutung haben Atopien für die Gesundheit und Le- bensqualität?
> Welche Beziehungen beste- hen zwischen Atopie und Familien- struktur sowie der seelischen und kör- perlichen Entwicklung des Kindes?
> Wie ist der natürliche Ver- lauf atopischer Krankheiten im Kin- desalter?
Methoden
In sechs Entbindungsabteilun- gen in Berlin, Düsseldorf, Mainz, Freiburg und München wurden zwi- schen dem 1. Januar und dem 31. De- zember 1990 6019 Mütter (79 Pro- zent) und 5819 Väter (77 Prozent) von insgesamt 7609 Neugeborenen nach dem Vorkommen von atopi- schen Diagnosen, Symptomen und positiven Allergietests befragt. Die Befragung der Eltern schloß auch die älteren Geschwister der Neugebore- nen mit ein. Bei 6398 Neugeborenen (84 Prozent) war eine Bestimmung
des Nabelschnur-IgE möglich. Hatte das Nabelschnur-IgE einen Wert von mehr als 0,9 kU/1 oder ergaben sich bei mindestens zwei Familienmitglie- dern sichere Anhaltspunkte für eine
atopische Erkrankung, so wurden die Eltern mit ihrem Kind zur Teilnahme an unserer prospektiven Studie ein- geladen. Durch ein dynamisches Randomisierungsverfahren wurde si- multan eine Kontrollgruppe aus den übrigen neugeborenen Kindern iden- tifiziert und ebenfalls zur Teilnahme eingeladen. Es entstand eine Kohor- te von 1322 Kindern, von denen etwa 40 Prozent entweder eine doppelte familiäre Atopiebelastung oder ein erhöhtes Nabelschnur-IgE aufwie- sen.
Die Antworten wurden durch ei- ne Wiederholungsbefragung und die Bestimmung eines Multiallergen- suchtests (Phadiatop) an einer Un- terstichprobe von 793 Müttern sowie 353 Vätern validiert.
Über die Ergebnisse des Scree- nings bei Geburt wird im folgenden berichtet.
Ergebnisse
Tabelle 1 zeigt die Prävalenz von Asthma, Heuschnupfen und atopi- schem Ekzem nach den Angaben der
A1 -1342 (46) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 18, 7. Mai 1993
Asthma
AH AD AHD
80 70 60 - 50- 40 30 - 20 - 10- 0
54,3%
V A
Neurodermitis
57,4%
n = 202
26,2%
-• 5% ••
%
A /
80 70 60 - 50 - 40- - 20 - 10-
0 AD HD AHD
Heuschnupfen 80
70 - 601 50 - 40- 30- 20 -
10- 0
77,4%
4,4%
• 5 ' 7% 2,5%
n = 923
AH HD AHD
A = Asthma D = Neurodermitis H = Heuschnupfen 6019 Mütter und 5819 Väter; dabei
sind auch die ausländischen Eltern mit ausreichenden Kenntnissen der deut- schen Sprache berücksichtigt: 22 Pro- zent der Mütter und 21 Prozent der Väter leiden nach unseren gesamten Befragungsbedingungen an minde- stens einer atopischen Manifestation.
Wegen der größeren Komplexi- tät dieser Fragen werden die Ant- worten dazu in Tabelle 2 nur für die deutschen Eltern präsentiert, die den Fragebogen vollständig beantwortet hatten. Dabei zeigt sich, daß zwar 4,6 (4,5) Prozent der Mütter (Väter) von ihrem Asthma wußten, daß aber in Wirklichkeit 7,3 (7,1) Prozent der Mütter (Väter) anhand typischer Symptome einschlägige Hinweise auf eine Asthmaerkrankung aufwiesen.
Wir können also davon ausgehen, daß Asthma in Deutschland insge- samt unterdiagnostiziert wird.
Nimmt man alle verfügbaren Hinweise auf eine Atopie zusammen, so zeigt sich ein deutlicher Einfluß des Bildungsgrades: Aus Abbildung 1 geht hervor, daß Mütter und Väter, die nur die Hauptschule besucht ha- ben, seltener eine atopische Krank- heit angaben als Eltern mit einer wei- tergehenden Bildung.
Die verschiedenen atopischen Manifestationen kommen bei einer Person häufig in Kombination vor.
Abbildung 2 gibt dies für Asthma, Heuschnupfen und Neurodermitis wieder. Danach kommt Asthma am seltensten (in 32 Prozent der Fälle), Heuschnupfen am häufigsten (in et- wa 77 Prozent der Fälle) allein vor.
Die Antworten zu den Fragen nach atopischen Erkrankungen der Geschwister des Neugeborenen ha- ben wir unter dem Gesichtspunkt analysiert, ob die Heredität der Ato- pie „unspezifisch" ist. Abbildung 3 gibt unsere Ergebnisse wieder. Wenn bei den Eltern keine Atopie vor- kommt, haben dennoch 1,2 Prozent der Kinder ein Asthma. Wenn Vater oder Mutter atopisch sind, aber kein Asthma haben, dann leiden 2,3 Pro- zent der Kinder unter einem Asthma.
Wenn Vater oder Mutter an einem Asthma leiden, dann haben 5,5 Pro- zent der Kinder ebenfalls ein Asth- ma. Die Ergebnisse lassen eine spezi- fische Vererbung der atopischen Ma- nifestation vermuten, wobei die fami-
Abbildung 2: Kombinationshäufigkeiten von Asth- ma, Heuschnupfen und Neurodermitis bei 1234 Müttern, die wenigstens von einer dieser vier schon einmal betroffen waren oder aktuell betrof- fen sind
liäre Ubereinstimmung bei der Neu- rodermitis besonders auffällt.
Die Validierung der Antworten zu dem Familienfragebogen mit dem Ergebnis des Multiallergen-Suchtests (Phadiatop) auf inhalative Allergene
identifizierte diejenigen Fragen, die am besten mit dem Testergebnis über- einstimmten. Mit einer logistischen Regressionsanalyse wurde schließlich eine kleine Gruppe von Fragen einge- grenzt, die das Testergebnis annä- hernd so gut voraussagte wie der um- fangreiche Fragebogen insgesamt.
Danach läßt sich die familiäre Atopie- belastung auch mit wenigen Fragen hinreichend gut ermitteln, nämlich:
1. Leiden oder litten Sie an all- ergischem Asthma?
2. Haben oder hatten Sie einen allergischen Schnupfen (Heuschnup- fen, allergische Bindehautentzün- dung)?
3. Leiden oder litten Sie, ohne dabei erkältet zu sein, an einer juk- kenden, verstopften oder laufenden Nase und/oder an verschwollenen juckenden Augen, und zwar
> regelmäßig im Frühjahr oder Sommer?
> fast immer beim Umgang mit bestimmten fell- oder federtragen- den Tieren?
Da bei etwa einem Drittel aller Patienten mit atopischem Ekzem kei- ne Sensibilisierung nachweisbar ist, bei diesen Patienten der Multialler- gentest deshalb auch negativ ausfal- len mußte, sollte man zusätzlich noch nach dem Vorkommen eines atopi- schen Ekzems fragen:
4. Leiden oder litten Sie jemals an einem juckenden Ekzem, beson- ders in den Ellenbeugen oder Knie- kehlen, beziehungsweise an einer Neurodermitis? (Kontaktekzeme, zum Beispiel auf unechten Schmuck oder Hautreaktionen auf Medika- mente sind nicht gemeint.)
Bei neun Prozent der Neugebo- renen fanden sich IgE-Werte im Na- belschnurblut von 0,9 kU/1 oder mehr, also erhöhte Werte. Abbildung 4 erlaubt einen Überblick über das atopische Risikopotential bei Ge- burt, es gelangten hier nur die 4951 Fälle zur Auswertung, bei denen so- wohl ein vollständig ausgefüllter Fra- gebogen, als auch ein Nabelschnur- IgE-Wert vorlag. Bei 59 Prozent der Kinder gab es bei den Eltern keinen Hinweis auf eine atopische Bela- stung. Entsprechend hatten bei etwa 31 Prozent der neugeborenen Kinder entweder Vater oder Mutter eine A1 -1344 (48) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 18, 7. Mai 1993
N 3500
M: Mutter V: Vater
- : Atopie negativ + : Atopie positiv
IgE-: Nabelschnur- IgE < 0.9kU/I IgE+: Nabelschnur- IgE > 0.9kU/I
1375 27,7%
MAS-Studie N: 4951
M- M- M+ M+ M+ M+
und V- und V- oder V+ und V+ oder V+ und V+
IgE- IgE+ IgE- IgE- IgE+ IgE+
Abbildung 4: Atopisches Risikopotential bei Neu- geborenen: Parentale Atopiebelastung und Na- belschnur-IgE (Fälle mit vollständigen Daten)
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Atopiestatus Eltern
• keine Atopie bei beiden Eltern ungleiche Manifestation bei Eltern und Kind IM identische Manifestation
bei Eltern und Kind 30
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Asthma Heuschnupfen Neurodermitis n = 2407 n = 2382 n = 2387
Atopie, bei fünf Prozent waren Vater und Mutter atopisch (Abbildung 4).
Wurden auch die Geschwister be- rücksichtigt, so hatten sieben Prozent der Neugeborenen mindestens zwei atopische Familienangehörige.
Das Vorkommen einer Atopie nach der Familienanamnese hatte ei- nen nur geringen Einfluß auf erhöhte Nabelschnur-IgE-Werte: bei negati- ver Familienanamnese hatten durch- schnittlich 8,2 Prozent, bei positiver Familienanamnese durchschnittlich 10,7 Prozent der Kinder ein erhöhtes Nabelschnur-IgE. Abbildung 5 stellt diese Zusammenhänge differenziert nach dem Geschlecht des Neugebo- renen und der Art der familiären Be- lastung dar: Jungen haben häufiger erhöhte Nabelschnur-IgE-Werte als Mädchen (p<0,01). Nur bei Mädchen ist ein schwach signifikanter Einfluß der Familienanamnese auf die Ver- breitung erhöhter Nabelschnur-IgE- Werte zu verzeichnen, und zwar nur dann, wenn die Mutter Atopikerin ist.
Eine Atopie des Vaters ist ohne Be- deutung. Hier sei vermerkt, daß in die Auswertung nur solche IgE-Wer- te eingegangen sind, bei denen das gleichzeitig gemessene IgA nicht er- höht gefunden, also eine Kontamina- tion ausgeschlossen worden war.
Auch bei andersartigen Auswertun- gen bestätigte sich, daß die Atopie des Vaters keinerlei Einfluß auf das Nabelschnur-IgE hatte.
Abbildung 3: Erkran- kungsquote bei Geschwi- stern und Atopiestatus der Eltern
Diskussion
Unsere Ergebnisse bestätigen die in nationalen und internationalen Vergleichsstudien beobachtete er- hebliche Verbreitung der Atopie in der Bevölkerung. Nach der sorgfälti- gen Validierung unserer Befragung durch eine Wiederholungsbefragung und der Messung von immunologi- schen Markern bei einer Unterstich- probe halten wir unsere Erhebung für eine gute Approximation an die realen Verhältnisse bei Erwachsenen
im reproduktiven Alter in der Bun- desrepublik Deutschland. Die durch schriftliche Befragung ermittelte grö- ßere Verbreitung von Atopien bei Erwachsenen mit zunehmendem Bil- dungsstand könnte darauf beruhen, daß Krankheitserscheinungen dort besser zugeordnet werden können.
Jedoch bestätigen dies auch Beob- achtungen aus den Vereinigten Staa- ten, nach denen positive Hauttests mit zunehmendem Bildungs- und So- zialstatus ebenfalls häufiger gefun- den wurden (6). Desgleichen halten wir den Einfluß der Nationalität für real, obgleich er durch unseren Erhe- bungsmodus (Fragebogen) vermut- lich überschätzt wird.
Im Widerspruch zur Literatur scheinen unsere Ergebnisse über das Nabelschnur-IgE zu stehen. Es sei aber festgestellt, daß zum Thema Voraussage der Atopie auf der Grundlage des Nabelschnur-IgE- Wertes nur bis 1990 eine gewisse Eu- phorie zu herrschen schien. Danach gab es bereits erste kritische Äuße- rungen, unter anderen auch bereits von uns (2, 7, 9). Der prädiktive Wert der Nabelschnur-IgE-Bestimmung muß durch die Ergebnisse der Nach- untersuchungen ermittelt werden.
Jedoch glauben wir aufgrund anderer bereits jetzt vorliegender Untersu- chungen sagen zu dürfen, daß eine routinemäßige Bestimmung des Na- belschnur-IgE-Wertes nicht sinnvoll
A1 -1346 (50) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 18, 7. Mai 1993
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Jungen (n:2524) ----
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V: Vater M: Mutter
Atopie negativ +: Atopie positiv 0-
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V- und M- und M- V- und M+ V+ und M+
Atopieindex Eltern
scheint. Im Zusammenhang mit For- schungsvorhaben kann man diese Messung dagegen vertreten.
Nach bisher vorliegenden Er- kenntnissen erhöht es das Risiko ei- nes Kindes, an einer Atopie zu er- kranken, wenn Vater oder Mutter oder beide Atopiker sind, das heißt jemals in ihrem Leben an einer atopi-
schen Manifestation litten.
Um Kinder nicht zu Unrecht zu stigmatisieren, sollten die Eltern dar- auf aufmerksam gemacht werden, daß nicht alle Kinder, bei deren El- tern Atopien bekannt sind, an einer Atopie erkranken. Auch bei biparen- taler Atopie hat das Kind eine Chan- ce von fast 50 Prozent, ohne jede Atopie durch das Leben zu kommen (1).
Möglichkeiten, einer atopischen Erkrankung vorzubeugen, sollten aber aufgezeigt werden. Derzeit wird empfohlen, Kinder mit einem erhöh- ten Risiko möglichst vier bis sechs Monate lang ausschließlich zu stillen, die sogenannte „heimliche Flasche"
auf der Wochenstation zuverlässig zu meiden und Beikost möglichst spät einzuführen. Mit diesen Empfehlun- gen können allerdings auch Kinder ohne familiäre Atopiebelastung opti- mal ernährt werden. Die Verwen- dung sogenannter „hypoallergener"
Hydrolysatnahrungen vermag bei nicht gestillten Kindern atopische Manifestationen wahrscheinlich hin- auszuzögern. Aus dem Umfeld eines Säuglings oder Kindes können — mit unterschiedlichem Aufwand — auch potentielle inhalative Allergene, wie Hausstaubmilben, eliminiert werden.
Die Suche nach „Trigger"-Substan- zen aus der Umwelt ist noch im Fluß.
Nach den bisherigen Erkenntnissen ist aber Tabakrauchexposition ein unspezifisches Adjuvans, dem das Kind nicht ausgesetzt werden sollte (4).
Welche Rolle allgemeine Hygie- ne, Infekte, Impfungen, Hautpflege, Lebensbedingungen, psychosoziale und andere Faktoren spielen, soll auch in dem hier vorgestellten MAS- Projekt eingegrenzt werden. Ob die genetische Disposition, die gleiche Exposition oder eine erhöhte Auf- merksamkeit für die häufige Über- einstimmung zwischen den atopi- schen Manifestationen von Eltern
Abbildung 5: Atopiesta- tus der Eltern, Geschlecht des Neugeborenen und Nobelschnur-IgE >0.9 kU/I
und Geschwistern verantwortlich ist, müssen weitergehende Analysen und Beobachtungen erhärten.
Deutsches Ärzteblatt
90 (1993) A 1 -1341-1347 [Heft 18]
Literatur
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Schulz, T. Graß, U. Wahn: Prediction of atopic disease in the newborn: methodolo- gical aspects. Clinical and Experimental Al- lergy 20, 21-26, 1990
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4. Burr, M. L., F. G. Miskelly, B. K. Butland, T. G. Merret, E. Vaughan-Williams: Envi- ronmental factors and Symptoms in infants at high risk of allergy. J. Epidemiol. Comm.
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5. Croner, S., N.-I. M. Kjellman: Development of atopic disease in relation to family histo- ry and cord blood IgE levels: Pediatric Al- lergy and Immunology 1, 14-20, 1990 6. Gergen, P. J., P. C. Turkeltaub: Prevalence
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In Marsh, D. G., M. H. Blumenthal: Gene- tic and Environmental Factors in Clinical Allergy. Univ. Minnesota Press, Minneapo- lis, 1990
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Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Karl E. Bergmann im Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie
des Bundesgesundheitsamtes Postfach 33 00 13
W-1000 Berlin 33
Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 18, 7. Mai 1993 (51) A1-1347