P O L I T I K
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A480 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 8½½½½22. Februar 2002
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m 18. Mai 2006: Die Stations- ärzte Lars Lakai, Bertram Büttel und Karl Knecht hacken seit Stunden fiebernd und geifernd zahllose ICD-Schlüssel in die Masken ihrer Stations-PCs und verfolgen mit sabbernden Lefzen und feuchten Augen die sich stetig erhöhenden Endsummenentwick- lungen ihrer High-Speed-Grouper.Die Uhr tickt; noch sechs Minuten, vierzehn Sekunden. Hinter ihrem Rücken stehen Chef, Oberarzt und Geschäftsführer und feuern die drei mit immer neuen Kampfschreien an.
Vorbei, Timeout. Heutiger Sieger:
Karl Knecht an der Entlassdiagno- senliste der tumorkranken Oma Wipperfürth mit 4 328,50Afür vier
Tage Liegedauer. Chef, Oberarzt und Geschäftsführer beglückwün- schen sich selbst und den Tagessie- ger für den heutigen Gipfel ärztli- cher Kunst.
Science Fiction? Schön wär’s! In einer schier endlosen „Immer-feste- druff-Taktik“ verwaltungsmäßiger Berufsverfremdung soll den Klinik- ärzten nun auch das letzte Bonbon namens ökonomischer Exekutive und Verantwortlichkeit der Hospital- finanzen geschenkt werden. Vielen Dank! Jetzt wäre wohl der Zeitpunkt gekommen, dass sich die Ärzte ge- schlossen gegen die bald völlige Entärztlichung des Medizinerdaseins wehren. Doch realiter? Wie immer!
Politik zu Verwaltung, zu Chef, zu
Oberarzt, zu Assistent: Es muss halt gemacht werden!
Irgendwann werden sich auch die letzten Konformisten wundern – dann nämlich, wenn in einigen Jah- ren nur noch überangepasste, über- abhängige und überhelfersyndromi- sche Nach-Hippokraten die Patien- ten und PCs betreuen, dann, wenn der Anzeigenteil des Deutschen Ärzteblattes dreimal so dick ist wie der Rest, und wenn auch die letzte Viertelstunde Arzttag der Admi- nistration gewichen ist. Dann wird sich vielleicht etwas ändern, dann wird hoffentlich die Stimme der Unmutigen lauter als die der Untäti- gen sein. Den Rest besorgt der Grouper. Dr. med. Michael Feld
GLOSSEN
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s gibt medizinische Fachdiszipli- nen, die ihre eigene Daseinsbe- rechtigung auch ohne Patienten herleiten, getreu dem Motto: viel For- malismus, viel Leistung, viel Geld.Das ist bitterer Ernst. Beispiel?
Conni Lustig will Krankenschwe- ster werden. Weil sie, ohne sitzen zu bleiben, die mittlere Reife schafft, ist sie erst 17 Jahre alt. Deshalb rät man ihr an der örtlichen Krankenpflege- schule, doch noch ein Freiwilliges So- ziales Jahr (FSJ) zu absolvieren.
(Schließlich kann man ja eine erst 17- jährige Schülerin nur zeitlich limitiert einsetzen.) Beworben für eine Tätig- keit in der örtlichen Uni-Chirurgie, angenommen – und schon geht’s los.
Denkste! Zunächst verlangt die Or- ganisation, die das FSJ betreut, ein aktuelles Gutachten über die gesund- heitliche Eignung. Der Hausarzt ver-
anlasst, weil ihm der Zweck des Gut- achtens bekannt ist, die volle Palette der diagnostischen Möglichkeiten (Laborchemie, Bakteriologie, Virolo- gie, Parasitologie, Immunologie). Al- les bestens, bis auf die Tatsache, dass niemand das Gutachten bezahlen will. Dann geht es aber ab in die Kli- nik, denkt Conni Lustig. Aber nicht so einfach. Erst einmal zur Arbeits- medizinischen Untersuchungsstelle, wenige Tage später das Gleiche von vorn. Welch medizinisches Wunder, auch hier alles bestens.
Conni Lustig verbringt ein inter- essantes FSJ in der Chirurgischen Uni-Klinik, wird in ihrem Berufs- wunsch bestärkt und bewirbt sich er- folgreich an einer Krankenpflege- schule. Ganz oben auf dem Pflicht- programm: eine aktuelle arbeitsme- dizinische Einstellungsuntersuchung
an dem Krankenhaus, dem die Kran- kenpflegeschule angehört, und, ei- nen Tag später, eine arbeitsmedizi- nische Abschlussuntersuchung beim bisherigen Arbeitgeber, weil das FSJ nun beendet ist.
Fazit: vier Untersuchungen, ob- wohl auch zwei ausgereicht hätten, weil die Kollegen Arbeitsmediziner es grundsätzlich ablehnten, auf die Befunddaten der anderen zurückzu- greifen.
Es wird mir – auch nach fast zwan- zig Dienstjahren – ein Rätsel bleiben, warum Arbeitsmediziner und Be- triebsärzte ein so sonderbares Ver- hältnis zu den gutachterlichen Äuße- rungen ihrer eigenen Kollegen ent- wickeln. Es bleibt die Frage: Wird man als Arbeitsmediziner so, oder wird man, weil man so ist, Arbeitsme-
diziner? Jörg Lehmann