Deutsches Ärzteblatt
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27. April 2012 A 865GRAFIK
Klinisches Ergebnis, gemessen als gesicherter Rückfall, bei Patienten mit schubförmig-remittierender multipler Sklerose
STUDIEN IM FOKUS
Laquinimod ist ein oral applizierba- rer Immunmodulator, der bei Pa- tienten mit multipler Sklerose (MS) geprüft wird. Präklinischen Studien zufolge verringert die Substanz die Infiltration von Entzündungszellen ins Zentralnervensystem, die De- myelinisierung und die axonale Schädigung, während es Myelin produzierende Zellen schützt. Au- ßerdem soll es den Brain-derived neurotrophic factor modulieren, dem eine wichtige Funktion bei der Aufrechterhaltung der axonalen In- tegrität zukommt.
In der von Teva finanzierten ALLEGRO*-Studie wurden Wirk - samkeit und Verträglichkeit von La- quinimod (0,6 mg/Tag) über zwei Jahre multizentrisch, randomisiert und doppelblind im Vergleich zu Placebo untersucht. Aufgenommen wurden 1 106 Patienten mit schub- förmig remittierender MS im Alter von 18 bis 55 Jahren. Primärer End- punkt war die jährliche Anzahl der Schübe im Untersuchungszeitraum, zu den sekundären Endpunkten ge- hörten die Progression der Behinde- rung, gemessen anhand der Zunah- me der EDSS (Expanded Disability Status Scale), die Wirkungen auf die Hirnatrophie und MRT-basierte Veränderungen nach einem und nach 2 Jahren.
Laquinimod senkte die jährliche Schubrate signifikant von 0,39
± 0,03 unter Placebo auf 0,30
± 0,02 (p = 0,002). Ohne Rückfall blieben 62,9 % der Patienten unter Laquinimod und 52,2 % der Patien- ten unter Placebo (p < 0,001). Das Progressionsrisiko (EDSS) verrin- gerte sich signifikant um relativ 36 % (11,1 vs. 15,7 %, Hazard Ra- tio 0,64 p = 0,01). Bei den MRT-ba- sierten Endpunkten wurden Gadoli- nium anreichernde Läsionen durch Laquinimod um 37 % (p < 0,001), neue oder vergrößerte T2-Läsionen nach 12 und 24 Monaten um 30 % (p < 0,001) im Vergleich zu Placebo
verringert. Die Hirnatrophie nahm ebenfalls signifikant ab (–0,87% vs.
–1,30 %, p < 0,001). Im Verumarm stiegen Leberenzymwerte häufiger als bei Placebo (5 % vs. 2 %). Die Erhöhungen waren aber asympto- matisch und reversibel.
Fazit: Laquinimod senkt bei schub- förmig remittierender MS die jähr- liche Schubrate im Vergleich mit Placebo statistisch signifikant. Und nach Meinung von Prof. Dr. med.
Volker Limmroth, Klinikum Köln- Merheim, hat der Immunmodulator ein gutes Sicherheits- und Tolerabi- litätsprofil. Aber – so problematisch ein Vergleich verschiedener Phase- III-Studien auch sei: Die Wirksam- keit von Laquinimod bleibe hinter den Erwartungen zurück. Eine Re- duktion der Schubrate von 24 % sei niedriger als bei herkömmlichen und anderen oralen Substanzen wie Fingolimod oder Fumarsäure (je- weils über 50 %). Schwer zu verste- hen sei, warum die Reduktion der Schubrate weniger ausgeprägt sei als die der Erkrankungsprogression.
Die Reduktion der Progression sei der „härtere“ Parameter in den kli- nischen MS-Studien und liege nu- merisch in allen Studien bisher im- mer hinter der Reduktion der Schubrate zurück. Direktvergleiche mit anderen oralen Substanzen müssten zeigen, wo Laquinimod seinen Platz in der Therapie finden könne. Dr. rer. nat. Susanne Heinzl Comi G, et al.: Placebo controlled trial of oral laquinimod for multiple sclerosis. NEJM 2012;
366: 1000–9.
*Assessment of oral Laquinimod in preventing progression in multiple sclerosis
MULTIPLE SKLEROSE
Laquinimod senkt Schubrate und Progressionsrisiko
Jährlich erhalten fast 10 000 Frauen in Deutschland die Diagnose „Ova- rialkarzinom“. Da es kaum spezifi- sche Beschwerden im Frühstadium gibt, werden die Tumoren häufig spät erkannt. Die noch bis Mai gel- tende AWMF-S2-Leitlinie stellt fest, ein generelles Screening mit Vaginalsonographie oder regelmä- ßiger Bestimmung des Tumormar- kers CA125 könne derzeit mangels belegtem Vorteil für eine Früher- kennung nicht empfohlen werden.
Die Bestimmung der prädiktiven Werte von Risikofaktoren und die Entwicklung eines evidenzbasier-
ten Algorithmus, der für den nieder- gelassenen Arzt geeignet ist, Frauen mit erhöhtem Risiko zu erkennen, war das Ziel einer prospektiven Studie an der britischen Universität Nottingham (1). Grundlage für die Erfassung und Validierung von Ri- sikofaktoren für das Ovarialkarzi- nom waren Daten von 1 158 723 Patientinnen zwischen 39 und 84 Jahren (2,03 Millionen Personen- jahre), die innerhalb von 10 Jahren (bis 2010) in 564 Praxen der Pri- märversorgung behandelt worden waren. Ausgeschlossen wurden Frauen mit bereits diagnostiziertem OVARIALKARZINOME
Wichtige Risikofaktoren sind quantifiziert worden
Wochen nach Randomisierung
Gesicherter Rückfall (Zahl der Patienten kumuliert) modifiziert nach: N Eng J Med 2012; 366: 1000–9
M E D I Z I N R E P O R T
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27. April 2012 Ovarialkarzinom oder Hinweisendarauf aus den letzten 12 Monaten.
Unabhängige und altersadjustier- te Risikofaktoren waren abdomi- nelles Spannungsgefühl mit einer Hazard Ratio von 23,1, Familien- anamnese mit einem Ovarialkarzi- nom (HR 9,8), Schmerz im Abdo- men (HR 7,0), postmenopausale Blutung (HR 6,6), Appetitverlust (HR 5,2), Hämoglobin unter 110 g/l in den letzten 12 Monaten (HR 2,3) und unbeabsichtigter Gewichtsver- lust sowie Blutung im Rektum mit jeweils einer HR von 2,0.
Die Daten unterstützen die im April 2011 überarbeiteten Richtlini- en des britischen National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) zur Diagnostik von Ovari- alkarzinomen und Erstversorgung
der Patientinnen (2), so die Autorin- nen. Anämie, postmenopausale und rektale Blutungen, die sich in der aktuellen Studie als unabhängige Risikofaktoren für die Entwicklung eines Ovarialkarzinoms erwiesen hätten, seien in der NICE-Richtlinie allerdings nicht eingeschlossen.
Fazit: In einer prospektiven briti- schen Studie sind unabhängige Ri - sikofaktoren für die Entwicklung eines Ovarialkarzinoms qualitativ und quantitativ beschrieben worden.
„Der entwickelte Score gibt dem Allgemeinarzt Hinweise, wann er an die Diagnose Ovarialkarzinom den- ken muss und eine weitere Abklä- rung zu erfolgen hätte“, erläutert Prof. Dr. med. Barbara Schmalfeldt, Frauenklinik der Technischen Uni-
versität München. „Bei den abge- fragten Beschwerden handelt es sich um Spätsymptome, die für fortge- schrittene Ovarialkarzinome typisch sind.“ Der Algorithmus ermögliche also wahrscheinlich nicht die Früher- kennung mit der Option prophylakti- scher Maßnahmen, sondern ledig- lich, die Patientinnen schneller einer Therapie zuzuführen. Ob sie davon profitierten und sich dadurch die Mortalität reduziere, lasse sich auf Basis dieser Daten nicht beurteilen.
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
1. Hippisley-Cox J, Coupland C: Identifying women with suspected ovarian cancer in primary care: derivation and validation of algorithm. BMJ 2011; 344: d8009, doi:
10.1136/bmj.d8009; published online January 4, 2012
2. www.nice.org.uk/guidance/CG122
Die Betreuung von Patienten mit Demenz und Verhaltensstörungen in Alten- und Pflegeheimen gehört zu den schwierigsten Problemen der medizinischen Versorgung. Die meisten Leitlinien stimmen darin überein, dass bei Verhaltens- und psychologischen Problemen mit agitierten, aggressiven oder psy- chotischen Patienten zunächst ein nichtmedikamentöser Therapiever- such gemacht werden sollte. Weil dies oft schwierig bis unmöglich ist, wird von den betreuenden Ärz- ten vielfach die Verschreibung von Antipsychotika erwartet, obwohl dies eigentlich die Ultima Ratio sein
sollte. Seit einigen Jahren gibt es Warnungen vor einem erhöhten Mortalitätsrisiko bei Patienten un- ter entsprechender Medikation.
Die Frage einer Studie war, ob sich verschiedene Substanzen in die sem Kriterium unterscheiden.
Analysiert wurden Krankenversi- cherungsdaten von 75 445 Patien- ten (Alter ≥ 65 Jahre), die zwischen 2001 und 2005 in US-amerikani- schen Heimen lebten und Antipsy- chotika (Haloperidol, Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon oder Ziprasidon) neu erhielten. Mit statistischen Verfahren (Propensity Score Adjustment) wurden poten- zielle Störfaktoren herausgerechnet.
Verglichen mit dem am häufigs- ten verschriebenen Risperidon war das Mortalitätsrisiko unter Halope- ridol verdoppelt (Hazard Ratio 2,07; 95-%-Konfidenzintervall 1,89–
2,26) und unter Quetiapin leicht re- duziert (HR 0,81; 95-%-KI 0,75–
0,88). Die anderen Substanzen un- terschieden sich nicht wesentlich von Risperidon. Der Effekt war am stärksten kurz nach Beginn der Be- handlung, war bei allen Dosierun- gen und für alle untersuchten To- desursachen (mit Ausnahme von
Krebserkrankungen) erkennbar, so- wohl bei Patienten mit Demenz als auch bei solchen mit Verhaltensstö- rungen. Für alle Medikamente au- ßer für Quetiapin wurde eine Dosis- Wirkung-Beziehung in Bezug auf die Mortalität beobachtet.
Fazit: Die Gabe von Antipsychotika ist mit unterschiedlichen Mortali- tätsrisiken bei geriatrischen Patien- ten assoziiert. Kausale Zusammen- hänge lassen sich durch populati- onsbasierte Kohortenstudien wie diese ebenso wenig belegen wie Störfaktoren ausschließen. Den- noch bekräftigen die sehr robusten Daten das Risiko durch Antipsy- chotika bei Patienten in Pflegehei- men sowie die Notwendigkeit, die- se nur bei dringendem Bedarf und in der niedrigsten erfolgverspre- chenden Dosis anzuwenden, so die Autoren. Haloperidol solle vermie- den werden. Quetiapin scheine zwar mit einem geringeren Risiko assoziiert zu sein, aber für diese Substanz gebe es bislang wenig schlüssige Evidenz für eine Wir- kung bei neuropsychiatrischen Pro- blemen dementer Patienten.
Josef Gulden
Huybrechts KF, et al.: Differential risk of death in older residents in nursing homes prescribed specific antipsychotic drugs: Population based cohort study. Br Med J 2012; 344: e977.
ANTIPSYCHOTIKA IN ALTEN- UND PFLEGEHEIMEN
Mortalität bei Haloperidol-Behandelten am höchsten
GRAFIK
Kaplan-Meier-Kurven für einen nichtkrebsbedingten Tod
Überlebenswahrscheinlichkeit
Beobachtungsdauer (in Tagen)
modifiziert nach: Br Med J 2012; 344: e977