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Archiv "Fibromyalgiesyndrom" (05.06.2009)

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D

ie Prävalenz chronischer Schmerzen in mehre- ren Körperregionen („chronic widespread pain“, CWP) beziehungsweise des Fibromyalgiesyn- droms wird in bevölkerungsbasierten Studien zwi- schen 7 bis 11 Prozent beziehungsweise 1 bis 5 Pro- zent angegeben (1). Die Patienten haben häufig einen erheblichen Leidensdruck sowie Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und verursa- chen erhebliche direkte und indirekte Krankheitsko- sten (1, e1). Die Behandlung wird sowohl von den Be- troffenen als auch von den Behandlern häufig als ent- täuschend erlebt (2).

Klassifikation wie auch Therapie des Beschwerde- komplexes sind innerhalb und zwischen den medizini- schen Fachgebieten wie auch unter Betroffenen und Patienten umstritten. Manche Rheumatologen, Neuro- logen und Schmerztherapeuten sowie viele Patienten sehen das Fibromyalgiesyndrom (FMS) als ein dis- tinktes Krankheitsbild mit relevanten Krankheitsfak- toren in der Muskulatur und im Bindegewebe bezie- hungsweise typischen zentralnervösen funktionellen Veränderungen an (e2, e3). Die Empfehlungen der Eu- ropean League Against Rheumatism (EULAR), einem überwiegend aus Rheumatologen zusammengesetzten Expertenkommittee, welches in der Behandlung der Fibromyalgie nur Medikamenten den höchsten Emp- fehlungsgrad zuerkennt, sind ein Beispiel für die kli- nischen Konsequenzen eines neurobiologischen Kon- zeptes (3). Manche Psychosomatiker konzeptualisie- ren den Beschwerdekomplex als eine Variante einer somatoformen Störung (e4) und manche Psychiater sehen FMS als Variante einer affektiven Störung (e5).

Die „medicalization of misery“ (e6) als rheumatologi- sches Krankheitskonstrukt suggeriere ein nicht nach- weisbares rheumatisches Geschehen in der Muskula- tur und im Bindegewebe. Aus den psychosomatischen Konzepten werden Therapieempfehlungen für eine psychotherapeutische Behandlung (e7), aus den psy- chiatrischen Konzepten für eine psychopharmakolo- gische Behandlung (e8) abgeleitet. Die Reduktion auf ausschließlich psychische Ursachen wird von vielen Patienten abgelehnt.

Aufgrund der Kontroversen um das Beschwerde- bild sowie seiner unstrittigen sozialmedizinischen Re- levanz war eine deutsche interdisziplinäre Leitlinie von allen mit dem Beschwerdebild befassten Fachge- sellschaften und Patientenvertretern überfällig (4).

Der vorliegende Beitrag soll den Leser über die Fest- KLINISCHE LEITLINIE

Fibromyalgiesyndrom

Klassifikation, Diagnose und Behandlungsstrategien

Winfried Häuser, Wolfgang Eich, Markus Herrmann, Detlev O. Nutzinger, Marcus Schiltenwolf, Peter Henningsen

ZUSAMMENFASSUNG

Hintergrund: Die S3-Leitlinie nimmt zu Kontroversen der Klassifikation und Therapie des Fibromyalgiesyndroms (FMS) Stellung.

Methoden: Eine Projektgruppe mit Experten und Betroffe- nen aus zehn Fachgesellschaften und zwei Patienten- selbsthilfeorganisationen analysierte circa 8 000 Veröffent- lichungen. Die Erstellung von Empfehlungen erfolgte nach den Vorgaben für S3-Leitlinien. Die Leitlinie wurde von den Vorständen der beteiligten Fachgesellschaften begutachtet und genehmigt. Die Literatursuche und die Empfehlungen wurden vom Steuerungskomitee aktualisiert.

Ergebnisse: Da es sich um einen Beschwerdekomplex han- delt, der durch Symptome und klinische Zeichen, nicht je- doch durch konsistent nachweisbare Körperschäden defi- niert wird, ist der Begriff „Fibromyalgiesyndrom“ angemes- sener als „Fibromyalgie“. Das FMS wird durch die Kriterien des American College of Rheumatology definiert und als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert. Die Dia- gnose eines FMS wird anhand des typischen Beschwerde- musters sowie durch Ausschluss von entzündlichen und Stoffwechselerkrankungen, welche zu denselben Sympto- men führen können, gestellt. Ein abgestuftes Behandlungs- konzept mit gemeinsamer Entscheidungsfindung von Arzt und Patient bezüglich der Therapieoptionen wird empfoh- len. Höchsten Empfehlungsgrad haben aerobes Ausdauer- training, Amitriptylin, kognitive Verhaltenstherapie, multi- modale und Spa-Therapie.

Schlussfolgerungen: Durch die Leitlinienempfehlungen soll eine wirksamere Behandlung der Betroffenen erreicht wer- den. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(23): 383–91

DOI: 10.3238/arztebl.2009.0383 Schlüsselwörter: Fibromyalgie, funktionelles somatisches Syndrom, Leitlinie, Diagnosestellung, Therapiekonzept

Interdisziplinäres Zentrum für Schmerztherapie, Innere Medizin I, Klinikum Saarbrücken gGmbH: Dr. med. Häuser

Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung Innere Medizin II (Allgemeine Klini- sche und Psychosomatische Medizin) und Psychosomatische Klinik Baden- Baden: Prof. Dr. med. Eich

Institut für Allgemeinmedizin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Martin-Luther-Universität Halle: Prof. Dr. med. Herrmann

Universität zu Lübeck, Professur für Psychosomatische Medizin und Psycho- therapie: Prof. Dr. med. Nutzinger

Sektion Schmerztherapie, Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg:

Prof. Dr. med. Schiltenwolf

Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der TU München: Prof. Dr. med. Henningsen

(2)

stellungen der Leitlinie zu strittigen Fragen der Klas- sifikation, Diagnose und Therapie des Fibromyalgie- syndroms informieren.

Methodik

Die Leitlinie wurde koordiniert von der Deutschen In- terdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie DI- VS und von zehn wissenschaftlichen Fachgesell- schaften und zwei Patientenselbsthilfeorganisationen entwickelt. Auf direkte und indirekte Unterstützungen durch die pharmazeutische Industrie wurde verzich- tet. Ein Leitlinienkomitee mit je einem Vertreter der beteiligten Gesellschaften war für die Methodik der Leitlinie verantwortlich (Kasten 1). Neun Arbeits-

gruppen mit insgesamt 58 Personen waren in Bezug auf Geschlecht, medizinischen Versorgungsbereich und hierarchische Position im medizinischen bezie- hungsweise wissenschaftlichen System ausgewogen besetzt. Ein Leitliniensekretariat führte die Literatur- recherche über die Datenbanken Medline, PsychInfo, Scopus und Cochrane Library (bis Dezember 2006) mit den in Kasten 2 genannten Suchwörtern durch.

Weiterhin wurden die Literaturverzeichnisse systema- tischer Übersichtsarbeiten und evidenzbasierter Leit- linien gesichtet. Die Suche ergab bis Dezember 2006 insgesamt 2 101 Treffer für die Arbeitsgruppen „Defi- nition“ und „Pathophysiologie“ sowie 4 523 Treffer für die übrigen Arbeitsgruppen. Im Leitlinientext sind 272 kontrollierte Studien beziehungsweise systemati- sche Übersichtsarbeiten zitiert. Für die Aktualisierung der Leitlinie wurden bei einer Literatursuche bis De- zember 2008 für die Arbeitsgruppen zur Therapie des FMS weitere 54 randomisierte kontrollierte Studien beziehungsweise systematische Übersichtsarbeiten berücksichtigt (Grafik).

Die Kommunikation zwischen Leitliniensekretariat mit den Arbeitsgruppen sowie den Arbeitsgruppen untereinander erfolgte per E-Mail und auf einer pass- wortgeschützten Internetplattform. Die für die Emp- fehlungen verwendeten Originalarbeiten waren auf einer passwortgeschützten Internetplattform zugäng- lich. Das Leitliniensekretariat leistete bei der Litera- turbewertung für die Arbeitsgruppen logistische Hilfestellung. Die Graduierung der Evidenzstärke erfolgte nach dem Schema des Oxford Center of Evidence-Based-Medicine (e9).

Die Formulierung und Graduierung der Empfeh- lungen erfolgte in einem mehrstufigen, formalisierten Konsensusverfahren analog der Vorgehensweise im Programm für Nationale Versorgungsleitlinien in drei Delphi-Verfahren und zwei Konsensuskonferenzen (5). Die Konsensuskonferenzen wurden von Frau PD Dr. med. Kopp, einer Vertreterin der Arbeitsge- meinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), moderiert. Bei den Abstimmungen hatte jedes teilnehmende Fachgebiet beziehungsweise die Patientenselbsthilfeorganisatio- nen je eine Stimme. Die Graduierung der Konsen- susstärke erfolgte nach dem Schema der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechsel- erkrankungen (6). Die Leitlinie wurde von den Vor- ständen der beteiligten Fachgesellschaften begut- achtet und genehmigt (7). Sie wurde am 17. 4. 2008 von der AWMF angenommen (Register-Nr. 041/

004; www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/041-004.htm).

Der Leitlinientext (1) und der Methodenreport (7) wurden im Juni 2008 in Heft 3 der Zeitschrift

„Der Schmerz“ publiziert. Eine Patientenversion ist unter www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/041-004p.htm verfügbar.

Eine Aktualisierung der Evidenz- und Empfeh- lungsgrade der Leitlinie erfolgte aufgrund einer Lite- raturrecherche bis Dezember 2008 durch das Leitlini- enkomitee in einem Delphiverfahren.

KASTEN 1

Mitglieder des Steuerungskomitees der

beteiligten Fachgesellschaften und eingetragenen Vereine

>>Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich Medizinischen Fachgesellschaften

AWMF: PD Dr. med. Ina Kopp*1

>>Deutsche Fibromyalgie Vereinigung DFV: Eva Felde*3

>>Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin DEGAM:

Prof. Dr. med. Markus Herrmann

>>Deutsche Gesellschaft für Neurologie DGN: Prof. Dr. med. Claudia Sommer

>>Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie DGOOC:

Prof. Dr. med. Marcus Schiltenwolf

>>Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation DGPMR:

Dr. med. Martin Offenbächer

>>Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde

DGPPN: Prof. Dr. med. Detlev Nutzinger

>>Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

DGPM: Prof. Dr. med. Volker Köllner*2

>>Deutsche Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie und Schmerz-

forschung DGPSF: PD Dr. soc. Dipl. Psych. Kati Thieme

>>Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes DGSS:

Dr. med. Bernhard Arnold

>>Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie DGRh: Prof. Dr. med. Wolfgang Eich

>>Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie DIVS:

Dr. med. Winfried Häuser*1

>>Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin DKPM:

Prof. Dr. med. Peter Henningsen*2

>>Deutsche Rheuma Liga DRL: Sabine Erdmann*3

>>Gesellschaft für Kinder- und Jugendrheumatologie GKJR:

Dr. med. Hartmut Michels

>>Zentralverband der Krankengymnasten und Physiotherapeuten ZVK:

Christl Flügge

*1Der Koordinator der Leitlinie und die Koordinatorin der Konsensuskonferenzen waren bei den Ab- stimmungen nicht stimmberechtigt.

*2und *3Bei den Abstimmungen gemeinsam eine Stimme.

(3)

Ergebnisse Definition

Das klinische Bild von Schmerzen in mehreren Körperregionen wurde bereits im 19. Jahrhundert be- schrieben. Das Beschwerdebild subsummierte man in der Folgezeit in den Konzepten von „Weichteilrheu- matismus“ oder „generalisierter Insertionstendopa- thie“. Der Begriff „Fibromyalgie“ wurde erstmals von Hench 1976 benutzt (e10). Smythe und Moldofsky (e11) und Yunus et al. (e12) formulierten diagnosti- sche Kriterien für eine Fibromyalgie sowie Müller und Lautenschläger (1990) für eine generalisierte Tendomyopathie (e13). Als Leitsymptome wurden Schmerzen in mehreren Körperregionen, weitere all-

gemeine und vegetative Symptome sowie eine lokale Hyperalgesie an Muskel-Sehnenansätzen (Tender- points) definiert. International haben sich zur Defini- tion des FMS die Kriterien des Amerikanischen Kolle- giums für Rheumatologie (ACR) durchgesetzt: Das FMS wird definiert durch einen chronischen (> 3 Mo- nate) Schmerz in mehreren Körperregionen, das heißt

>Schmerzen des Achsenskeletts (Halswirbelsäule oder vorderer Brustkorb oder Brustwirbelsäule oder Lendenwirbelsäule) und

>Schmerzen der rechten und linken Körperhälfte und

>Schmerzen oberhalb und unterhalb der Taille und

>Schmerzen bei Palpation von mindestens 11/18 definierten Tenderpoints (8).

KASTEN 2

Suchwortliste

Die Suchbegriffe wurden als Schnittmengen mit dem AND-Operator aus der gemeinsamen Suchwortliste und je einer für die Arbeitsgruppen spezifischen Suchwortliste gebildet.

G

Geemmeeiinnssaammee SSuucchhwwoorrttlliissttee ffüürr aallllee AArrbbeeiittssggrruuppppeenn::

Medline:

>>„Fibromyalgia“ [MeSH] OR „fibromyalgia syndrome“ OR „chronic widespread pain“ OR „widespread musculoskeletal pain“

>>für die Arbeitsgruppen zu therapeutischen Verfahren „Guideline“ [MeSH] OR „Meta-Analysis“ [MeSH] OR „Review“

[Publication Type] OR „Review Literature“ [MeSH] OR „randomized controlled trial“ [MeSH] OR „clinical trial“ [MeSH]

>>für die Arbeitsgruppen „Definition“ und „Pathophysiologie Review“ [Publication Type] OR „Review Literature“ [MeSH]

Soweit möglich, wurden für die Suche in SCOPUS ENTREE terms als Keywords verwendet. Die Literatursuche in der Cochrane Library erfolgte nach folgender Strategie: Thema „Fibromyalgia“ oder „chronic widespread pain“

S

Sppeezziiffiisscchhee SSuucchhwwoorrttlliisstteenn ffüürr ddiiee AArrbbeeiittssggrruuppppeenn::

Arbeitsgruppe 1 – Definition und Klassifikation: definition, classification, epidemiology, tender points, prognosis Arbeitsgruppe 2 – Ätiopathogenese und Pathophysiologie: pathophysiology, etiopathogenesis, etiology

Arbeitsgruppe 3 – Medikamente: analgesics, central acting agent, antidepressive agent, central nervous system agents, drug therapy

Arbeitsgruppe 4 – Medizinische Trainingstherapie, Physiotherapie und physikalische Therapie: aerobic, exercise, acupuncture, electro acupuncture, magnet therapy, magnetotherapy, electromagnetic field, massage, chiropractic, bal- neotherapy, movement therapy, trigger point injection, physical exercise training, transcutaneous electrical nerve stimulation (TENS), laser therapy, ultrasound, body cryotherapy

Arbeitsgruppe 5 – Psychotherapie: cognitive-behavioral therapy (CBT), behavior therapy, hypnosis, hypnotherapy, guided imagery, relaxation, relaxation training, psychodynamic therapy, (electromyographic) biofeedback (training), meditation, body centered psychotherapy, behavioral, behavioral psychotherapy, group therapy, operant, psychoanalytic

Arbeitsgruppe 6 – Komplementäre und alternative Verfahren: complementary medicine, alternative medicine, CAM, reiki, johrei, qi gong, healing touch, intercecessory prayer, therapeutic touch, distant healing, putative energy, Alexander technique, bowen, chiropractic, craniosacral therapy, feldenkrais, massage, osteopathic, reflexo- logy, rolfing, trager bodywork, tui na, neural therapy, acupressure, acupuncture, meditation, imaging, place- bo, expectancy, breathing exercise, Traditional Chinese Medicine, ayurvedic, naturopathy, homeopathy, an- throposophy, herbal medicine, phytotherapy, balneology, bath, junge bath, dietary, diet

Arbeitsgruppe 7 – Multimodale Therapie: multidisciplinary treatment, multimodal treatment, combined modality therapy, rehabilitation, occupational therapy

Arbeitsgruppe 8 – Kinder und Jugendliche: adolescent, children, childhood, juvenile

Arbeitsgruppe 9 – Allgemeine Behandlungsgrundsätze und Patientenschulung: patient education, patient management, primary care

(4)

Im Unterschied zu den Definitionen von anderen Be- schwerdebildern ohne erklärende strukturelle Gewebe- schädigung oder biochemische Abweichungen, zum Beispiel von chronischen Spannungskopfschmerzen durch die Neurologie oder Reizdarmsyndrom durch die Gastroenterologie, verwenden die ACR-Kriterien neben Symptomen und Zeitdauer auch einen klinischen Befund („Tenderness“ bei Palpation vonTenderpoints) zur Defi- nition. Die diagnostische Validität der ACR-Kriterien in- klusive der Abgrenzung zu somatoformen oder affekti- ven Störungen wurde außerhalb des rheumatologischen Kontextes nicht überprüft. Der klassifikatorische und diagnostische Nutzen der Tenderpoints wird kontrovers diskutiert. Die fehlende Standardisierung der verbalen Instruktionen des Patienten vor und während der Tender- pointüberprüfung, die fehlenden Angaben zur Druck- dauer sowie die mangelnde Operationalisierung von

„Tenderness“ führt zu sehr geringer Reliabilität (9). Re- präsentanten der Rheumatologie halten an dem Nutzen der Tenderpoint-Überprüfung fest (10).

Epidemiologische Studien zeigen, dass die ACR- Klassifikationskriterien (Schmerzorte, Tenderpoints) des FMS in der allgemeinen Bevölkerung innerhalb eines Kontinuums verteilt sind (12). Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) und FMS gemäß den ACR-Klassifikationskriterien sind daher keine kategorialen beziehungsweise distinkten Krankheitsentitäten. Das FMS kann als ein möglicher Endpunkt eines Schmerz-Distress-Kontinuums kon- zeptualisiert werden (14).

Klassifikation

Das Problem der Klassifkation von chronischen körper- lichen Beschwerden ohne eindeutig nachweisbare kör- perlichen Schaden (funktionelle somatische Syndrome) betrifft alle medizinischen Fachgebiete. Die fachge- bietsbezogenen Definitionen berücksichtigen nicht die bei den meisten Patienten zudem bestehenden weiteren, nicht in das eigene Fachgebiet fallenden, körperlichen Beschwerden und seelischen Symptome (15, 16).

Die „Fibromyalgie“ ist in der Internationalen Klas- sifikation der Krankheiten im Kapitel „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes“

in dem Unterkapitel „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes, anderenorts nicht klassifiziert“

(ICD 10 GM M79.70), aufgeführt (17). Die Leitlinie empfiehlt, das FMS als funktionelles somatisches Syndrom und nicht als psychische Störung zu klassifi- zieren (1). Komorbide psychische Störungen sind zu- sätzlich zu kodieren.

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung – Bei 40 bis 70 % der Patienten lassen sich relevante emotionale oder psychosoziale Konflikte im zeitlichen Zusammen- hang mit der Manifestation oder Intensivierung der Schmerzsymptomatik explorieren (2). 60 % der Pati- enten geben selbst relevante emotionale oder psycho- soziale Konflikte im zeitlichen Zusammenhang mit der Manifestation oder Intensivierung der Schmerz- symptomatik an (18).

Affektive Störung und Angststörung – In Abhängigkeit von der Versorgungsstufe sowie den verwendeten Kriteri- en und Diagnoseinstrumenten liegt die Prävalenz af- fektiver Störungen zwischen 20 und 80 % (e14) und von Angststörungen zwischen 15 und 65 % (e8).

Polysymptomatisches funktionelles somatisches Syndrom – In Abhängigkeit von der Versorgungsstufe sowie den verwendeten Kriterien und Diagnoseinstrumenten liegt die Prävalenz anderer funktioneller somatischer Syndrome (FSS) wie Reizdarmsyndrom oder Chro- nic-Fatigue-Syndrome zwischen 20 und 80 % (19).

Diagnose

Die Diagnose eines FMS wird anhand der typischen Beschwerden sowie dem Ausschluss von Erkrankun- gen, welche zu demselben Beschwerdemuster führen können, gestellt. Die Prinzipien der Diagnostik sind in Tabelle 1dargestellt.

GRAFIK Darstellung der

Literaturrecherche der Arbeitsgruppen zur Therapie des Fibromyalgie-

syndroms

(5)

Anamnese

Die Verwendung einer Schmerzskizze und eine voll- ständige medizinische Anamnese werden empfohlen.

Körperliche Untersuchung

Zur Abklärung struktureller Erkrankungen, welche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregio- nen einhergehen (zum Beispiel Gelenkschwellungen bei entzündlich-rheumatischer Erkrankung, Hautver- änderungen bei Morbus Fabry) ist eine vollständige körperliche Untersuchung erforderlich. Die Überprü- fung der ACR-Tenderpoints ist fakultativ.

Technische Untersuchungen

Die empfohlenen obligaten technischen Basisuntersu- chungen bei Erstevaluation sind in Tabelle 2darge- stellt.

Ohne klinische Hinweise ist eine routinemäßige Untersuchung auf Antikörper, die mit entzündlich- rheumatischen Erkrankungen assoziiert sind, nicht sinnvoll. Bei typischem Beschwerdekomplex und feh- lendem klinischen Hinweis auf internistische, or-

thopädische oder neurologische Erkrankungen wird empfohlen, keine weitere technische Diagnostik (wei- terführendes Labor, Neurophysiologie, Bildgebung) durchzuführen (1).

Die Ausschlussdiagnostik sollte geplant und zeit- lich gestrafft durchgeführt werden. Bei typischem Be- schwerdemuster ist bereits vor Einleitung der Aus- schlussdiagnostik auf die wahrscheinliche Differenzi- aldiagnose eines FMS hinzuweisen (e15).

Fachärztliche Untersuchungen

Bei klinischem Verdacht auf internistische, orthopädi- sche oder neurologische Erkrankungen als Ursache von CWP (chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen) ist eine fachärztliche Untersuchung notwendig. Die von der Leitlinie empfohlenen klini- schen Konstellationen für eine fach-psychothera- peutische Untersuchung (Facharzt für Psychosomati- sche Medizin und Psychotherapie, ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut, Facharzt für Psychia- trie und Psychotherapie) sind in Tabelle 3 aufge- führt (1).

TABELLE 1

Allgemeine Prinzipien der Diagnostik

strukturierte Schmerzerfassung (Schmerzskizze) vollständige Anamnese

>Allgemeinsymptome (Müdigkeit, Schwäche), weitere körperliche (zum Beispiel Stuhlunregelmäßigkeiten, Bauch- schmerzen, dyspeptische Beschwerden, Miktionsbeschwer- den, Sicca-Symptome, allgemeine Reizüberempfindlichkeit) und psychische Beschwerden (zum Beispiel Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, Antriebsschwäche)

>Begleiterkrankungen

>aktuelle Medikation

>Beeinträchtigungen in Alltagsfunktionen

>subjektive Ursachenüberzeugungen und Krankheitsängste

>psychosoziale Stressoren Ganzkörperstatus

geplante, zeitlich geraffte technische Ausschlussdiagnostik

TABELLE 2

Obligate Laboruntersuchungen bei Erstevaluation bei chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen

>Blutsenkungsgeschwindigkeit, C-reaktives Protein, kleines Blutbild (Hinweise auf Polymyalgia rheumatica, rheumatoi- de Arthritis)

>Kreatinkinase (Hinweise auf Muskelerkrankungen)

>Kalzium (Hinweise auf Hyperkalziämie)

>Thyreoidea-stimulierendes Hormon basal (Hinweise auf Hypothyreose)

TABELLE 3

Indikationen für fachpsychotherapeutische Exploration bei Patienten mit der Diagnose FMS (1)

>anamnestische Angaben von aktuellen schwerwiegenden psychosozialen Stressoren

>anamnestische Angaben von aktuellen oder früheren psychiatrischen Behandlungen und / oder Einnahme von Psychopharmaka

>anamnestische Angaben von schwerwiegenden inklusive traumatischen biografischen Belastungs- faktoren

>Hinweise auf maladaptive Krankheitsverarbeitung (zum Beispiel Katastrophisieren, unangemessene körperli- che Schonung oder Durchhaltestrategien)

>subjektive psychologische Ursachenüberzeugungen

TABELLE 4

Wesentliche Aussagen einer Beratung anlässlich der Erstdiagnose eines FMS

Die Beschwerden bestehen bei den meisten Patienten dauerhaft.

Das Beschwerdebild führt nicht zur Invalidität und verkürzt nicht die Lebenserwartung.

Das Erreichen einer vollständigen Beschwerdefreiheit ist in den meisten Fällen nicht möglich.

Therapieziele sind eine Verbesserung beziehungsweise der Erhalt der Lebensqualität (Funktionsfähigkeit im Alltag) und die Symptomreduktion.

Regelmäßige Aktivitäten (zum Beispiel Herzkreislauftraining) tragen zu einer Symptomreduktion beziehungsweise einer besseren Adaptation an die Beschwerden bei.

(6)

Diagnostische Kriterien

Als Kompromisslösung zwischen den in der Einlei- tung skizzierten kontroversen Positionen empfiehlt die deutsche Leitlinie, die Fibromyalgiesyndrom-Dia- gnose entweder nach den Kriterien des Amerikani- schen Kollegiums für Rheumatologie oder nach sym- ptombasierten Kriterien (chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen und Steifigkeits- und Schwellungsgefühl der Hände oder Füße oder des Ge- sichts sowie körperliche beziehungsweise geistige Müdigkeit oder Schlafstörungen) zu stellen (1).

Die Empfehlungen zu einer symptombasierten Dia- gnose mit Verzicht auf Tenderpoint-Überprüfung gründen auf Befragungen von FMS-Patienten, bei de- nen diese Symptome von fast allen Patienten angege- ben wurden (18, e16).

Die Angabe von Druckschmerz an sogenannten Kontrollpunkten (zum Beispiel Hypothenararmmus- kulatur, Fingermittelphalanx, Stirnhöcker) wird in Deutschland manchmal zum Anlass genommen, die Diagnose des FMS in Frage zu stellen und eine Simu- lation beziehungsweise eine somatoforme Schmerz- störung zu postulieren (e17).

Dieses Postulat wurde bisher nie empirisch über- prüft. Sowohl in der Stichprobe, anhand derer die Klassifikationskriterien des FMS entwickelt wurden (8) als auch bei weiteren Studien in Rheumaambulan- zen (e18) gaben bis zu 60 % der Patienten eine Druck-

schmerzhaftigkeit an Kontrollpunkten an. Die Leitli- nie empfiehlt daher, keine Kontrollpunktüberprüfung durchzuführen beziehungsweise die Diagnose eines FMS nicht in Frage zu stellen, wenn Patienten bei der körperlichen Untersuchung „Schmerzen überall“ an- geben (1).

Ätiopathogenese und Pathophysiologie Physische und psychische Stressoren am Arbeits- platz sowie vermehrte Depressivität sind in prospekti- ven bevölkerungsbasierten Studien gesicherte Risiko- indikatoren für die Entwicklung eines FMS. Verschie- dene pathophysiologische Veränderungen sind mit dem FMS assoziiert, ohne dass die Ursache-Wir- kungs-Relation geklärt ist. Dazu gehören Störungen der zentralen Schmerzverarbeitung, eine Hyporeakti- vität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren- achse, eine Störung des Wachstumshormon-Systems, erhöhte proinflammatorische und verminderte antiin- flammatorische systemische Zytokinprofile und Ver- änderungen des dopaminergen und serotonergen Systems (20).

Therapie

Diagnosemitteilung und Patientenschulung

Die explizite Mitteilung der Diagnose eines FMS in- klusive Informationen über die Behandlungsmöglich- keiten wird empfohlen (21). Wesentliche Inhalte eines TABELLE 5

Optionen für eine zeitlich befristete Therapie des Fibromyalgiesyndroms mit Empfehlungsgrad A beziehungsweise Evidenzgrad 1a Therapieverfahren Literatursuche Anzahl randomisierter Quantitative Empfehlungs- Stärke Konsens Literaturstelle

bis kontrollierter Studien Analyse grad

(Metaanalyse) aerobes

Ausdauertraining Juni 2005 15 ja A stark (e23)

Antidepressiva August 2008 8 ja A stark (e24)

(Amitriptylin)*1

Antidepressiva*2 August 2008 8 ja B mehrheitliche (e24)

(Duloxetin, Fluoxetin, Zustimmung

Milnacipran, Paroxetin)

Balneotherapie Juli 2006 12 nein A Konsens (e25)

kognitive Dezember 2006 14 nein A stark (23)

Verhaltenstherapie

multimodale Dezember 2006 14 ja A stark (e26)

Therapie

Pregabalin*3 Dezember 2008 5 ja B mehrheitliche (e27)

Zustimmung

Bewegungstherapie Dezember 2006 8 nein A Konsens (e28)

im Wasser

*1Amitriptylin ist in Deutschland zur Therapie chronischer Schmerzen im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes zugelassen.

*2Abstufung des Empfehlungsgrades aufgrund fehlender Zulassung für FMS in Deutschland; Duloxetin, Fluoxetin und Paroxetin sind in Deutschland zur Therapie depressiver Störungen, nicht jedoch zur Therapie des FMS zugelassen.

Milnacipran ist in Deutschland weder zur Therapie depressiver Störungen noch zur Therapie des FMS zugelassen.

Die Zulassung von Duloxetin zur Therapie des FMS wurde von der Europäischen Arzneimittelbehörde abgelehnt.

Die Zulassung von Milnacipran für das FMS ist bei der Europäischen Arzneimittelbehörde beantragt.

*3Pregabalin ist in Deutschland zur Behandlung peripherer und zentraler neuropathischer Schmerzen, nicht jedoch zur Therapie des FMS zugelassen.

Die Zulassung von Pregabalin für das FMS wurde von der Europäischen Arzneimittelbehörde abgelehnt.

(7)

Erstdiagnosegespräches beziehungsweise von Patien- tenschulungen sind in Tabelle 4aufgeführt. Diese In- formationen sollen durch Verweise auf die Patienten- version der deutschen FMS-Leitlinie sowie auf Schu- lungsprogramme der Selbsthilfeorganisationen (e19) ergänzt werden.

Allgemeine Behandlungsprinzipien

Bei der Betreuung der Patienten wird die Berücksich- tigung der Prinzipien der psychosomatischen Grund- versorgung (patientenzentrierte Gesprächsführung) und eine gemeinsame Entscheidungsfindung („shared decision making“) bezüglich Therapieoptionen emp- fohlen (21).

Realistische Therapieziele sollen gemeinsam mit dem Patienten erarbeitet werden. Bei der Auswahl der Therapieverfahren sind Patientenpräferenzen sowie die lokal verfügbaren Behandlungsoptionen zu berücksichtigen. Eine regelmäßige Evaluation des Nutzens (positive Effekte, Nebenwirkungen, Auf- wand) jeder Therapieoption ist sinnvoll.

Abgestuftes Behandlungskonzept

Therapieoptionen mit höchstem Evidenz- beziehungs- weise Empfehlungsgrad für eine zeitlich befristete Therapie (bis zu sechs Monate für medikamentöse, bis zu 24 Monate für einige nicht medikamentöse Thera- pien) sind in Tabelle 5 aufgeführt. Ein abgestuftes Therapiekonzept wird in Anlehnung an die Empfeh- lungen für eine Stufentherapie bei funktionellen so- matischen Syndromen (16) sowie der Empfehlungen der American Pain Society zur Therapie des FMS (e20) auf der Basis von Expertenkonsens empfohlen (Kasten 3).

Eine Behandlung sollte bei relevanten Beeinträch- tigungen von Alltagsfunktionen erfolgen. Die Wahl der Therapiestufen ist abhängig vom Ansprechen auf die Behandlungsmaßnahmen der vorherigen Thera- piestufe nach einer Behandlungsdauer von sechs Mo- naten. Eine kontinuierliche Überprüfung der Verträg- lichkeit und Wirksamkeit der eingeleiteten Therapien sowie eine Reevaluation am Ende der Therapie sowie sechs und zwölf Monate nach Therapieende werden KASTEN 3

Empfehlungen zu einer stufenweise Therapie des Fibromyalgiesyndroms

((BBeehhaannddlluunnggssssttuuffee uunndd TThheerraappiieeooppttiioonneenn ssoolllleenn iinn ggeemmeeiinnssaammeerr EEnnttsscchheeiidduunnggssffiinndduunngg vvoonn PPaattiieenntt uunndd BBeehhaannddlleerr uunntteerr B

Beerrüücckkssiicchhttiigguunngg ddeerr PPaattiieenntteennpprrääffeerreennzzeenn uunndd KKoommoorrbbiiddiittäätteenn ggeewwäähhlltt wweerrddeenn)) S

Sttuuffee 11

> kognitiv-verhaltenstherapeutische und operante Schmerztherapie inklusive Patientenschulung (Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad A, starker Konsens)

> an individuelles Leistungsvermögen angepasstes aerobes Ausdauertraining (Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad A, starker Konsens)

> Bewegungstherapie im Wasser/Aquajogging (Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad A, Konsens)

> Spa-Therapie (Baden in warmem Wasser von Thermalquellen) (Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad A, Konsens)

> Amitriptylin 25–50 mg/d (Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad A, starker Konsens)

> Diagnostik und Behandlung komorbider körperlicher Erkrankungen und seelischer Störungen (Evidenzgrad 5, Empfehlung offen, starker Konsens)

S Sttuuffee 22

> multimodale Therapie (obligat eine aufeinander abgestimmte medizinische Trainingstherapie oder andere Formen der aktivierenden Bewegungstherapie in Kombination mit psychotherapeutischen Verfahren) (Evidenzgrad 1a,

Empfehlungsgrad A, starker Konsens)

– primär ambulant; (teil-)stationär, wenn ambulante Maßnahmen nicht ausreichend beziehungsweise nicht möglich – (Abteilung für Schmerztherapie oder Psychosomatische Medizin in Akutkrankenhaus beziehungsweise rheumatologische

oder psychosomatische Rehabilitationsklinik) S

Sttuuffee 33

> zeitlich befristet: Duloxetin 60–120 mg/d oder Fluoxetin 20–40 mg/d oder Milnacipran 100–200 mg/d oder Paroxetin 20–40 mg/d oder Pregabalin 150–300 mg/d (Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad B, mehrheitliche Zustimmung)

> zeitlich befristet: Hypnotherapie/geleitete Imagination (Evidenzgrad 2b, Empfehlungsgrad B, Konsens) oder therapeutisches Schreiben (Evidenzgrad 2b, Empfehlungsgrad B, starker Konsens)

> multimodale Intervall- beziehungsweise Boostertherapie (Evidenzgrad 5, Empfehlung offen, starker Konsens)

> zeitlich befristet: komplementäre Therapieverfahren (Homöopathie beziehungsweise vegetarische Kost) (Evidenzgrad 2b, Empfehlungsgrad offen, Konsens)

(8)

empfohlen. Im Falle einer unzureichenden Wirksam- keit der Behandlung ist eine erneute Diagnostik (Überprüfung der Diagnose FMS sowie körperlicher und psychischer Komorbiditäten, negativer Einfluss psychosozialer Stressoren wie Arbeitslosigkeit oder Rentenbegehren) sinnvoll.

Langzeitbetreuung

Mit den Patienten soll ein individualisiertes Behand- lungsprogramm durch gemeinsame Entscheidungs- findung erstellt werden.

Bei einer Langzeitbetreuung sind Selbstverantwor- tung und Eigenaktivität (zum Beispiel Ausdauertrai- ning, eigenständige Wärmeanwendungen) der Betrof- fenen zu stärken.

Für die längerfristige Therapie des FMS sind Thera- pieverfahren zu bevorzugen, für die es Hinweise auf an- haltende positive Therapieeffekte nach Therapieende gibt: aerobes Ausdauertraining (22), Psychotherapie (ko- gnitive und operante Verhaltenstherapie, Hypnotherapie/

geleitete Imagination) (23) und multimodale Therapie (mindestens ein Verfahren der medizinischen Trai- ningstherapie und der Psychotherapie) (24). Der Wirk- samkeitsnachweis einer medikamentösen Therapie ist bis zu einer Dauer von drei Monaten für Amitriptylin und von sechs Monaten für Duloxetin, Milnacipran und Pre- gabalin gesichert. Eine medikamentöse Dauertherapie kann man bei nachgewiesenem Nutzen, Patientenwunsch und eventueller Symptomexazerbation nach Auslass- versuch erwägen (25). Absetzsyndrome sind bei Antide- pressiva und Pregabalin möglich.

Diskussion

Die FMS-Leitlinie kann nicht die aktuellen Kontro- versen um die Definition und Klassifikation des FMS lösen. Es ist abzuwarten, ob die anstehenden Neuauf- lagen von ICD-11 und DSM-V von „medically unex- plained somatic symptoms“ Auswirkungen auf die Klassifikation des FMS haben werden. Die deutsche Leitlinie hat als Alternative zu den ACR-Kriterien ei- nen Vorschlag zu einer symptombasierten Definition und klinischen Diagnose des Beschwerdekomplexes gemacht. Weiterhin wird ein abgestuftes Behand- lungskonzept des FMS empfohlen, welches – im Ge- gensatz zu den EULAR-Empfehlungen (3) – die be- sonderen Angebote des deutschen Versorgungssys- tems wie ambulantes Funktionstraining und stationäre multimodale Therapie berücksichtigt. In Anbetracht der unterschiedlichen Interessen der an der Leitlinie beteiligten Organisationen (Betroffene und Behand- ler, Ärzte und Psychologen, Allgemein- und Fachärz- te, niedergelassene Ärzte und Kliniker, Ärzte in Akut- kliniken und Rehabilitationseinrichtungen) ist der starke Konsens, der bei den meisten Empfehlungen erreicht wurde, hervorzuheben. Im Gegensatz zu der Leitlinie der US-amerikanischen Schmerzgesellschaft APS (e20) und den EULAR-Empfehlungen (3) wer- den in der deutschen Leitlinie die Prinzipien der ge- meinsamen Entscheidungsfindung von Patient und Behandler bezüglich der Therapieoptionen in allen

Behandlungsstufen dezidiert festgeschrieben und an Therapieoptionen in der dritten Behandlungsstufe auch alternative und komplementäre Verfahren ge- nannt. Weiterhin gibt die vorliegende Leitlinie erst- mals Empfehlungen zu einer Langzeitbetreuung der Patienten. Im Gegensatz zu den Empfehlungen der deutschen nationalen Versorgungsleitlinien zur koro- naren Herzerkrankung und chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (e21, e22) wurden die Empfehlun- gen zur Langzeitbetreuung nicht auf die Arztgruppe der Hausärzte beschränkt, sondern beziehen mitbe- handelnde Fachgruppen mit ein. Eine Kooperation mit der American Pain Society bezüglich der Aktuali- sierung der Leitlinienempfehlungen (Literatursuche und -bewertung, Erstellung von gesundheitssystem- übergreifenden Basisempfehlungen) ist geplant.

Interessenkonflikt

Dr. Häuser erhält Honorare für Vorträge von Eli Lilly, Jansen-Cilag, Mundi- pharma und Pfizer sowie Honorare für Beratungstätigkeiten für Eli Lilly und Pfizer und Reisekosten durch Eli Lilly. Prof. Dr. Eich erhält Vortragshonorare von Pfizer und Lilly sowie Forschungsmittel von Ergonex. Prof. Dr. Nutzinger erhielt Reisekosten von der Firma Lilly. Prof. Dr. Schiltenwolf ist als Berater für MSD und Pfizer tätig. Prof. Dr. Herrmann und Prof. Dr. Henningsen er- klären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des Internatio- nal Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten

eingereicht: 17. 3. 2009, revidierte Fassung angenommen: 25. 3. 2009

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Anschrift für die Verfasser Dr. med. Winfried Häuser

Interdisziplinäres Zentrum für Schmerztherapie, Innere Medizin I Klinikum Saarbrücken gGmbH

Winterberg 1, 66119 Saarbrücken E-Mail: whaeuser@klinikum-saarbruecken.de

SUMMARY C

Clliinniiccaall PPrraaccttiiccee GGuuiiddeelliinnee::

FFiibbrroommyyaallggiiaa SSyynnddrroommee——CCllaassssiiffiiccaattiioonn,, DDiiaaggnnoossiiss,, aanndd TTrreeaattmmeenntt Background: This S3 guideline takes positions on currently conten- tious issues in the classification and treatment of fibromyalgia syn- drome (FMS).

Methods: A panel of experts from 10 specialist societies and patients belonging to 2 patient self-help organizations reviewed a total of ap- proximately 8000 publications. Recommendations were developed according to the suggested procedure for S3 guidelines and were then reviewed and approved by the boards of the participating spe- cialist societies. The steering committee ensured that the literature review and the recommendations were kept up to date.

Results: Because this disorder is defined by its symptoms and signs, rather than by any consistently identifiable bodily lesion, the term

"fibromyalgia syndrome" is a more appropriate designation for it than

"fibromyalgia." FMS is defined by the criteria of the American College of Rheumatology and is classified as a functional somatic syndrome.

FMS is diagnosed from the typical constellation of symptoms and by the exclusion of inflammatory and metabolic diseases that could cau- se the same symptoms. A stepwise treatment approach in which the patient and the physician decide jointly on the treatment options is recommended. The most strongly recommended forms of treatment are aerobic exercise, amitriptyline, cognitive behavioral therapy, and spa therapy.

Conclusions: The guideline recommendations are intended to promote more effective treatment of this disorder.

Dtsch Arztebl Int 2009; 106(23): 383–91 DOI: 10.3238/arztebl.2009.0383 Key words: fibromyalgia, functional somatic syndrome, guideline, diagnosis, treatment

Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:

www.aerzteblatt.de/lit2309

The English version of this article is available online:

www.aerzteblatt-international.de

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