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Einlei tung. Frank Stahnisch und Florian Steger

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Einlei tung

Alle Menschen lassen sich nach zwei Geschlechtern unterteilen. So will es das verbreitete Alltagswissen, welches von biomedizinischen Uberlegungen und The- orien gestiitzt zu den Grundannahmen unserer rnodernen westlichen Kultur bei- tragt. Zeit unseres Lebens werden wir als Frauen oder Manner angesehen und be- handelt. Diese Tatsache begegnet uns nicht nur in unseren sozialen Beziigen, son- dern sie scheint auch in unserer biologischen Natur begriindet zu sein. Die ,,posi- tive Legende der blol3en ~aturausle~un~'"

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wie dies Claudia Honegger einmal genannt hat - wirkt in wissenschaftlichen Konzeptionen und medizinischen Theo- rien genauso nach wie in gesellschaftlich geteilten Ansichten und Projektionen uber das ,Geschlecht'. Haufig scheint es, dal3 die bipolare EinteiIung der Men- schen in ,Mmner' und ,Frauen' zu den Grundkonstanten westlicher Medizin ge- horte und teilweise imrner noch geh~rt;2 steht solches doch auch in vielen rezen- ten Lehrbiicher der ~ e d i z i n . ~ Eine Ausnahme stellen jene Teilbereiche wie die SexuaIwissenschaft, die Gyniikologie oder die Andrologie dm, die sich der wis- senschaftlichen Erforschung des Feldes sowie der Behandlung von kidenszu- stlinden zuwenden, die aus den biologischen und sozialen Wurzeln der medizini- schen Geschlechterfrage er~achsen.~

1 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 2. Auflage. FrankfurwM., New York: Campus 1992, S. IX.

2 Einen fiberblick iiber die Breite medizinhistorischer Sichtweisen geben die Arbeiten von Esther Fischer-Homberger: Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern u. a.: Huber 1979; Christoph Meinef, Monika Renneberg (Hg.): Geschlechterver- halmisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Bassum, Stuttgart: Verlag fur Ge- schichte der Naturwissenschaften und der Technik 1996; Katrin Schmersahl: Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts (= Sozialwissenschaftliche Studien, 36). Opladen: Leske

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Budrich 1998. Zu Zwecken der Vereinheitlichung wurden in diesem Band durchweg runde Klammern ( ) - auch bei redaktionellen Hinweisen - venvendet, die gegeniiber den Originalzitaten entsprechend ausgewiesen wurden. Lediglich bei direkter Folge von Klamrnereinschiiben ist der zweite Be- reich rnit eckigen Klammern [ ] versehen worden.

3 Raymon M. Kirk: Chmrgische Techniken. Stuttgart: Thieme 1978; Rolf Ackermann: Grenz- gebiete zwischen Urologie und Chirurgie. In: Leo Koslowski et al. (Hg.): Lehrbuch der Chir- urgie. 3. Auflage. Stuttgart, New York: Schattauer 1988, S. 761-784.

4 Vgl. etwa Sandra L. Bern: The measurement of psychological androgyny. In: Journal of Con- sulting and Clinical Psychology 42 (1974), S. 155-162; Frank Lichtenheld: S e k u n d i Ge- schlechtschirurgie. In: Sexualmedizin 9 (1980), S. 181-183; Giinter Diirner: Neuroendocrine

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Es ziihlt zu den Topoi moderner Medizinkritik, da13 mit dem Aufschwung der naturalistischen Wissenschaften vom Menschen im 19, Jahrhundert der ,objektive Tatsachenblick' des Humanwissenschaftlers die Grundstruktur des menschlichen Korpers neu definiert und eine legitimatorische Funktion fur die soziale Aufga- benteilung zwischen den Geschlechtern iibernommen hat.5 Aus dieser bisweilen als patriarchalisch titulierten Wissenschaftsform habe sich die moderne Medizin kau~n Iosen konnen, Bis heute wird aus feministischer Perspektive kritisiert, da13 die menschlichen Krankheiten zu lange durch den mannlichen Blick verstanden worden sind. Spezifische Erkrankungen der Frau, wenn man einmal von gyniiko- logisch-geburtshilflichen Problemstellungen und bankheiten absieht, seien so nicht geniigend wahrgenommen wordena6 Seit den 1990e.r Jahren ist dieser Positi- on aus andrologischer Sicht eine kritische Perspektive an die Seite geriickt: Es wird Bhnlich argumentiert, da13 wegen der auf den Mann zentrierten und auf eine ,Norrnalisierung* der Karperfunktionen ausgerichteten Herangehensweise in der Medizin auch die Besonderheiten des mannlichen K6rpers und seiner Krankheiten iibersehen wurdene7 Bislang gait ein solches ,mannliches Gesundheitsverhalten' als weniger gravierend und wurde mit dem Hinweis auf Befindlichkeitsstorungen abgetan. Erst in jiingerer Zeit ist auf die fofgenreichen Auswirkungen nicht wahr- genommener Friihsymptome etwa im Zusammenhang mit Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems oder neurologischer Pathologien hingewiesen wordem8

FaDt man die Kernaussagen beider vorgestellter Richtungen zusamrnen, so wird deutlich, daB sie zurn einen die iiberrnasige Fixienrng der modernen Medizin auf das mannliche Paradigma zuriickweisen und zurn anderen die ungeniigende Reflexion der Geschlechterdichotomie anprangern. Dies ist nicht nur aus einer theoretisch-antl~ropologischen Perspektive, sondern auch aus einer praktischen Perspektive heraus geschehen: Die Medizin muB den Besonderheiten der Ge-

response to estrogen and brain differentiation in heterosexuals, homosexuals, and transsexu- als. In: Archives of Sexual Behaviour 17 (1988), S. 57-75.

5 Stellvertretend etwa Honegger, Ordnung (Anm. I), S. UI.

6 Zu den medizinhistorischen Studien, die dies pr2ignatlt herausgearbeitet haben, zahlen Paula A. Teichler: Feminism, Medicine, and the Meaning of Childbirth. In: Mary Jacobus et al.

(Hg.): Rody/Politics. Womcn and tlw Discourses of Science. New York, London: Routledge I990, S. 113-138; Ornella Moscucci: The Science of Woman. Gynaecology and Gender in England 1800-1929. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press 1993.

7 Uber den Begriff der ,Normalisierung' in der Medizingeschichte siehe Volker Hess: Die moralixhe Okonomie der Normalisierung. Das Beispiel Fiebermessen. In: Werner Sohn, Herbert Mertens (Hg.): Normalittit und Abweichung. Studien zilr Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft. Wiesbaden: Opiaden 1999, S . 222-243: Nicholas D. Jewson:

The Disappearance of the sick man from medical cosmology 1770-1870. In: Alan Beattie et al. (Hg.j: Health and Wellbeing: A Reader. Houndsmith, London: Macmillan Press 1993, S. 44-54.

8 Vg1. etwa Anita Rieder, Brigitte Lohff (Hg.): Gender Medizin. Geschlechtsspezifische Aspekte fur die klinische Praxis. Wien u. a,: Springer 2004, Petra Kolip: Frauen und Manner.

In: Friedrich Wilhelm Schwartz et al. (Hg.): Das Public Health Buch. Gesundheit und Ge- sundheitswesen. Miinchen u. a.: Urban & Schwarzenberg 1998, S. 506-516.

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schlechtsabhiingigkeit vieler Krankheiten aufgeschlossener gegeniiber treten?

Auch wenn diese Sichtweisen noch nicht in das Zentrum iirztlichen Verstiindnis- ses vorgedrungen sind, so kann doch eine das Geschlecht themacisierende Medi- zin zusarnrnen mit benachbarten heilkundlichen Feldern (Padiatrie oder Geronto- logie) auf Befunden aus der genetischen Pharmakologie oder altersspezifischen Stoffwechselforschung und Physiologie aufbauen; sie kann diese auch fur den Problembereich geschlechtsspezifischer Versorgung fruchtbar machen: Es wird seit den letzten funf Jahren verstiirkt auf die Beachtung alters- und geschlechtsab- hangiger Faktoren aufmerksam gemacht, welche die medikamentose wie nicht- medikamentiise Behandlung von patient1nnenI0 betreffen, so dal) inzwischen von vielen ~ r z t ~ n n e n spezifische Empfehlungen fiir den Umgang mit Medikamenten sowie mit besonderen Belastungsprofilen und Erholungsweisen

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etwa in Puber-

tiit, Schwangerschaft und Senium

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gegeben werden." Es zeichnet sich tatsachlich ein gewisser Trend zur Subjektivierung von Krankheit und zur Individualisierung von Therapieoptionen in der modernen Medizin ab.

a e r den engeren konzeptuellen Rahmen von Medizin und Medizinhistorio- graphie hinaus ist bemerkenswert, dal3 die Kulturwissenschaften bereits eine For- schungsorientierung erfahren haben, in der nicht allein das individuelie Selbstver- sthdnis von Menschen in unserer modernen Kultur thematisiert wird.I2 Vielmehr wurde auch ein besonderes Interesse an andersartigen sozialen und historischen Kulturen geltend gemacht.13 Darin konnte die Einbettung der Geschlechterfrage in verschiedene sozialhistorische Hintergriinde als relevant verstanden und ein Be- zug zu anderen Kulturen hergestellt werden.I4 Mit dieser Ausrichtung egeben

9 Deepa M. Reddy et al.: Gender and health. In: Stan Maes et al. (Hg.): International Review of Health Psychology. Chichester: Wiley 1992, S. 3-31.

10 Die geschlechterneutrale Schreibweise von Personen und Personengruppen ist in diesem Band uneinheitlich belassen, um den unterschiedlichen Stil der Autorinnen und Autoren im Umgang mit dieser Frage beizubehalten. Die Herausgeber mijchten aber darauf hinweisen, da5 auch in Fallen von rein maskuliner oder wechselnder femininer und maskuliner Schreib- weise irnrner an eine Gleichbehandlung der Geschlechter gedacht ist.

11 Fiir eine entsprechende Sichtweise aus der Public-Health-Forschung siehe etwa Margit Eichler et al.: Richtlinien zur Vemeidung von Gender Bias in der Gesundheitsforschung. In:

Zeitschrift f i r Gesundheitswissenschaft 8 (2000), S. 293-310; Cornelia Helfferich: Die Schwierigkeiten, Geschfechtsdifferenzen in gesundheitsbezogenem Risikoverhalten zu erkla- ren. In: Gesundheitswesen 57 (1993, S. 157-160.

12 Einfiihrend etwa Claudia Wiesemann: Vorbemerkungen zu einer Medizingeschichte aus postmodemer Perspektive. In: Thomas Schnalke, dies. (Hg.): Die Gtenzen des Anderen. Me- dizingeschichte aus postmoderner Perspektive (= Sozialwissenschaftliches Forum, 28). Koln u. a.: Bohlau 1998, S. 9-24.

13 Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schliisselwiirter. FrankfurtlM.:

Suhrkamp 2001, S. 443-466: Martin Dinges: Neue Kulturgeschichte. In: Joachim Eibach, Giinther Lottes (Hg.): Kompafi der Geschichtswissenschaft - ein Handbuch. Gottingen:

Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 179-192 und 246-250; Marvin Harris: Kulturanlhropolo- gie. Ein Lehrbuch. Engl. 1987. Frankfurthi.: Campus, S. 332-364.

14 Vgl. etwa die Beitrage im Band von Florian Steger (Hg.): Kultur: ein Netz von Bedeutungen.

Analysen zur symbolischen Kulturanthropologie. Wurzburg: Kirnigshausen & Neumann 2002.

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sich weiterfiihrende Problemstellungen und AnschluBfragen, welche uns die kul- turellen Codierungen von Gesundheit und Krankheit neu verstehen lassen." Diese kulturwissenschaftliche Orientierung macht somit eine umfassende Thematisie- rung der biomedizinischen Kategorienbildung und der sozialen Definitionsmacht kulturell eingebetteten Wissens moglich. Gleichzeitig haben die rezenten Theo- riendebatten in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu methodisch innovativen Fragestellungen gefuhrt, die auch fur die Medizinhistoriographie von groBem For- schungsinteresse sind: Dies gilt beispielsweise fur die Frage nach einer ,Wissen- schafts- und Sozialgeschichte von unten', in denen die Lebensbedingungen und Erfahrungsstile der PatientInnen besondere Beachtung finden. Ferner sind Macht- und Hierarchieverhaltnisse in ihrem soziokulturellen Bedingungsgefuge sichtbar geworden, ebenso wie normative Wer&vorsteIlun en, die in itven kontingenten Hintergriinden verstandlich und erkliirbar werden. 18

Irn Rahmen dieser neuen Forschungsorientierung ist ein wichtiger For- schungsschwerpunkt deutlich geworden, der im Bereich des menschlichen Kor- pers selbst und dessen individueller Geschichte liegt.I7 Besonders diskussions- wiirdig ist weiterhin die Auffassung eines Dualismus von ,Leib' und ,Korper'.

Vor ailem von phanomenologischen Ansatzen beeinfluBte Philosophlnnen und HistorikerInnen hatten betont, daB die direkte Wahrnehmung und Erfahrung von Kiirperlichkeit nur in ihrer subjektiven Fassung verstanden werden konne." So sei die Fiihigkeit und Kompetenz fur die Erkenntnis von Gesundheit und Krankheit im Zustiindigkeitsbereich des einzelnen Menschen und seines Erfahrungshorizonts zu beachten. AuBerdem miifiten die leiblichen Kompetenzen der Ernpathie und einer mitfiuhlenden Teilhabe freigesetzt werden, weIche stilisiert und sublimiert sind, statt den Rang eines konzeptionellen Erkenntnismittels einzunehmen.Ig Die phanomenologische Kiitik hat die Diskussion um den Korper darnit starker durch Momente der wissenschaftlichen Verdinglichung wie kalter Materialitiit beschrie-

15 Sie finden auch einen Niederschlag in den Beziehungen zwischen Literatur und Medizin.

Gerade in literarischen Repdsentationen von Gesundheit und Krankheit kann Kranksein in seinen anthropologischen und soziokui~urellen Dimensionen weit uber die biologischen Be- schreibungen hinaus verstandlich werden. Vgl. hierzu Dietrich von Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bd. 1 und 2. Hiirtgenwald: Guido Pressler 1991 und 2000; vgl. weiter die Beitri4ge in Bettina von Jagow, Rorian Steger (Hg.): Reprllsentationen. Medizin und Ettrik in Literatur und Kunst der Modeme (= Beitdge zur neueren Literaturgeschichte, 207). Hei- delberg: Universittitsverlag Winter 2004: vgl. ferner Beaina von Jagow, Florian Steger (Hg.):

Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Oattingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005 (in Vorb.).

16 Dinges, Kulturgeschichte (Anm. 13).

17 Dies schIagt sich eindrucksvoll nieder in den Arbeiten von Werner Kutschmann: Der Natur- wissenschaftler und sein K6rper: die Rolle der ,inneren Natur' in der experimentellen Natur- wissenschaft der fflhen Neuzeit. FrankfurtlM.: Suhrkamp 1986; Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einftuhrung in die Korpergeschichte (= Historische Einfiihrungen. 4). Tubin- gen: Edition Diskord 2000; Honegger, Ordnung, (Anm. I), insbesondere S. 4-6.

18 Beispielsweise in Elenor Jain: Schwachsinniges Geschlecht oder Symbolon? Reflexionen zum Verhattnis von Philosophie und Ferninismus (= Beitrage zur Philosophie, 2). Sankt Augustin: Akademia 1989, S. 65-73.

19 Hermann Schmitz: System der Philosophie. 2. Band, 1. Teil: Der Leib. Bonn: Bouvier 1965;

Kutschmann, Naturwissenschaf~ler (Anm. 17), S. 407f.

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ben und auf die Vereinnahmung des Korpers durch gesellschaftspolitische Ein- fliisse aufmerksam gemacht.20 Gewissermakn als Reflex auf die zunehrnende ,Entklirperlichung' seit der friihen Neuzeit, die im 19. Jahrhundert eine eklatante Beschleunigung erfuhr und schlie0lich im medizinischen Kontext den Korper durch Maschinen, Apparate und Medikamente distanziert habe, wurde geltend gemacht, daB auch ,Sinnlichkeit' und ,Sensibilitat' als psychische Qualitaten und ostentative Interaktionsmoglichkeiten in sozialer Kommunikation staker zu be- achten ~ e i e n . ~ ' Nach Mdgabe phiinomenologischer Ansatze gilt es diese Perspek- tive auch auf die Geschlechterdifferenz in der Medizin zu iibertragen und histo- riographisch fruchtbar zu m a ~ h e n . * ~ Im Zuge dieser theoretischen Entwicklungen sind die Debatten in der historisch orientierten Geschlechterforschung anspruchs- voller geworden und haben eine Ausrichtung auf das Detail e r f a l ~ e n . ~ ~ Dennoch blieb bislang weitgehend aus, die Verbindungen und Wechselwirkungen rnit den Einzelwissenschaften wie der Medizin in gleicher Weise zu stirken. Es wire wiin- schenswert, diese Querbeziehungen zu verdeutlichen und zu vertiefen, nicht zu- letzt da in der medizinischen Forschung und Therapie die Frage nach der Bedeu- tung der Geschlechterkategorie von immer mehr k t ~ n n e n und Wissenschaftle- rInnen thernatisiert wird.

Auch aus historischer Perspektive kommt der Medizin eine besondere Rolle fiir den Definitionszusammenhang des ,Korpers' und des ,Korperlichen9 wie der Entwicklungsbestimmung der Kategorie ,Geschlecht3 zu:" Dies gilt etwa rnit

20 Vgl. etwa die Arbeit von Regula Giuliani: Korpergeschichten zwischen Modellbildung und haptischer Hexis: Thomas Laqueur und Barbara Duden. In: Silvia Stoller, HeImuth Vetter (Hg.): Phanomenologie und Geschlechterdifferenz. Wien: UniversitiitsverIag 1997, S. 148- 165.

21 Vgl. hierzu etwa Volker Rittner: Krankheit und Gesundheit. Veranderungen in der sozialen Wahrnehmung des Kijrpecs. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Die Wiederkehr des Korpers (= edition suhrkamp, NF, 132). FrankfualM.: Suhrkamp: 1982, S. 40-51: hier S. 42f.

22 Siehe Barbara Duden: Body History. A repertory (= Reihe Tandem Kultur- und Sozial- geschichte. 1). Wolfenbuttel: Tandem 1990; Biige Krondorfer: Von Unterschieden und Gleichgiiltigkeiten. Eine Stellungnahme wider die Auflosung von WILeiblichkeit. In:

Elisabcth Mixa (Hg.): Korper

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Gcschlecht - Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin. Innsbruck, Wien: Studien Verlag 1996, S. 60-74.

23 Vgl. etwa die Studien von Edward Shorter: Der weibliche Kijrper als Schicksal. Zur Sozial- geschichte der Frau, Miinchen 1984; Comelie Usborne: Frauenkorper - Volkskirper. Gebur- tenkontrolle und Bevolkerungspolitik in der Weimarer Republik (= Theorie und Geschichte der burgerlichen Gesellschaft, 7). Miinster 1994; Ute Frevert: Historische Frauenforschung.

In: Deutsche Forschungsgemeinschitft (Hg.): Sozialwissenschaftliche Frauenforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: DFG 1993, S. 157-167.

24 Vgl. einftihrend Barbara Duden: Geschichte unter der b u t . Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Klett-Cotta: Stuttgart 1987; insbesondere S. 7-15; Stefan Hirschauer:

Die soziale Konstruktion der Transsexualitat. FrankfurtlM.: Suhrkamp 1993; hier S. 116-320;

Johanna Bleker: Die Frau als Weib. Sex und Gender in der Medizingeschichte. In: Christoph Meinel, Monika Renneberg (Hg.): Geschlechterverhaltnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Bassum. Stuttgart: Verlag fur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik: 1996, S. 15-29.

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Blick auf die anatomische ~ o r s c h u n ~ ? ~ die in der einen oder anderen Schwer- punkfsetzung stets aIs Grundpfeiler der medizinischen Betrachtungen uber den Menschen galt und ohne die das Funktionieren des lebendigen Korpers nicht ver- standen werden kann. Ferner miissen die mit zunehmenden Manipulationsmog- lichkeiten ausgestatteten Entwicklungen in der modernen Medizin, etwa der plas- tischen Chirurgie, der Bioprothetik oder der Humangenetik, in Betracht gezogen werden," urn zu einern adaquaten VerstIndnis dariiber zu gelangen, wie die Er- kenntnisse und Fortschritte biomedizinischer Forschung zu Modifikationen der Geschlechterdifferenz beitragen haben.

Ihre grofle gesellschaftspolitische Bedeutung und Brisanz ist der Medizin teilweise auch ,subcritatt' ~u~ewachsen,~' insofern als durch die stillschweigende Annahme einer Hierarchisierung des Geschlechterverhaltnisses vielfaltig mogli- che Klassifikationsschemata zu Gunsten bipolarer umgewidmet wurden. Mit dem Hinweis auf die vermeintlich unstrittigen biologischen Grundlagen haben kogniti- ve Differenzauffassungen und emotional besetzte Zuschreibungen von Gender- eigenschaften soziale Zementierung e~fahren.~* Solche Denkmodelle und Norm- setzungen sind weiter tradiert worden und lassen vielerorts den konstruktiven Charakter und die kuliurelle Abhlngigkeit der Geschlechtskategorie kaum erken- nen, wenn sie nicht gerade Gegenstand von kulturwissenschaftlicher Betrachtung oder der Getzder Studies ~ i n d . ' ~

Die im vorliegenden Sammelband zusammengestellten Beitrtige stellen inso- fern den Versuch dar, ,,korperhistorische Rekonstruktionen von Identitsten und Differenzen" auf die Kategorie ,Geschlecht6 zu beziehen. Dabei wird auch den Einschreibungspraktiken allgemeiner Fragen nach der Gescblechtsidentitiit im Koncext der Medizin und ihrer Teilwissenschaften n a ~ h ~ e ~ a n ~ e n . ~ ' Wihrend die- ser Forschungsansatz in der Vergangenheir prim& aus der Perspektive der femi-

25 Nancy Tuana: Der schwachere Samen. Androzentrismus in der Aristotelischen Zeugungs- theorie und der Galenschen Anatomie. In: Barbara Orland, EIvira Scheich (Hg.): Das Ge- schlecht der Natur (= edition suhrkamp, NF, 727). Ft-ankfurtlM.: Suhrkamp 1995, S. 203-223.

26 Donna Haraway: A manifesto for Cyborgs: Science, technology, and socialist feminism in the 1980. In: Socialist Review 80 (1980), S. 65-108.

27 Barbam Duden: Auf den Spuren des Korpers in einer technogenen Welt (= Schriftenreihe der Internationalen Frauenuniversitat .,Technik und Kultur", 4). Opladen: Leske

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Budrich 2002;

Dies.: Geschichte dcs Ungeborenen: zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.-20. Jahrhundert (= Veroffentlichungen des Max-Planck-Instituts fiir Geschichte, 170). GBttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002; Dies.: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Ant und seine Patientinnen urn 1730. Stuttgart: Nett-Cotta 1987.

28 Evelyn Fox Kelier: Geschlecht und Wissenschaft: Eine Standortbestirnmung. In: Barbara Orland, Elvira Scheich (Hg.): Das Geschlecht der Natur (= edition suhrkamp, NF, 727).

FrankfudM.: Suhrkamp 1995, S. 64-91; hier S. 64-67.

29 Fur den hItu~lissenschaftlichen Ansatz vgl. etwa Dietmar Kamper: Gescbichte der mensch- lichen Natur. Miinchen: Hanser 1983; Ders.: Die Wiederkehr des Korpers. FrankfurtEM.:

Suhrkamp 1982. Fiir eine wissenschaftshistorische Gender-Analyse siehe Linda Birke: Wo- men, Feminism, and Biology. The Feminist Challenge. Sussex: Harvester Press 1986 Ruth Bleier: Feminist Approaches to Science. New York: Pergamon Press 1986.

30 FUr einen kritischen Ansatz vgl. etwa Dieter Lenzen: Krankheit als Erfindung. Medizinische Eingriffe in die Kultur. Frankfurt/M.: Fischer 1991.

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nistischen Bewe ung sowie des politischen Diskurses der 1970er Jahre themati- sic* worden ist!' griff die historische und soziologische Frauenforschung diese Fragestellungen akademisch auf. Durch die Anwendung der Kategorie des ,sozia- len Geschlechts' konnten nicht allein gesellschaftspolitische Fragen untersucht werden, sondern auch Manner sind selbst erst als Geschlechtswesen erkennbar geworden. Gleichwohl musten diese Begrifflichkeiten nicht in gleicher Weise in der Biomedizin erfolgreich sein, die ihren Gelrungsanspruch gerade auf das Mo- ment einer von individuellen und sozialen Einfliissen unabhangigen Realitat der gegebenen Natur griindet. Solch eine herausgehobene Sonderstellung macht den Forschungsbereich sehr attraktiv, da sich Einfliisse kultureller Vorannahmen fin- den lassen, die den ,Urngang' mit Medizin nun in historisch-kontingenter Weise veranschaulichen.

Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daB trotz des universalistischen Geltungsanspruchs der Wissenschaften niemand deren soziale Relativitat stiirker erlebt habe als Frauen. Den Zweifeln mannlicher Wissenschaftler gegeniiber den Ertragen der Genderforschung, uberh6hter Rhetorik hinsichtlich geschlechtsneu- traler Forschungsfelder, der vorgeblichen Gleichstellung von Frauen im Lehr- und Forschungsbetrieb sowie den verbreiteten Vorurteilen in der individuellen Vertei- lung von wissenschaftlicher Potentialitat und intellektuellem Vermogen sind ins- besondere Frauen entgegengetreten.3' Diese Entwicklung wird hier aufgenommen und damit eine Rekonzeptionalisierung und Historisierung der Kategorie ,Ge- schlecht' hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte von Identitaten und Diffe- renzen in der und durch die Medizin notwendig. Es geht in diesem Band darum, die besondere Resonanz und die thematische Breite zu dokumentieren, welche die Bezuge der medizinhistorischen Aufarbeitung der sozialen Bedeutung der Katego- rie Geschlecht erkennen

asse en.^^

Die medizin- und wissenschaftshistorische Be- schiiftigung mit der Kategorie ,Geschlecht' integriert wesentlich mehr Aspekte ats die einer individualisierbaren Frauen- und Mhnergeschichte an den beiden Polen des Spektrums. Deutlich gerat die Geschlechterkategorie aus dem Bereich des naturlichen Faktums einer biologisch-korperIichen Disposition des Menschen heraus und wird in ihrer kulturhistorischen Dimension besti~nmbar.~~ Zwar wur- den in verschiedenen historischen Perioden wie auch in unterschiedlichen Gesell- schaften Frauen und Mannern je spezifische Eigenschaften zugewiesen. Dennoch 31 Siehe einfiihrend in Evelyn Fox Keller: Liebe, Macht und Erkenntnis: Mannliche und weibli-

che Wissenschaft? Engl. 1981. Munchen, Wien: Hanser 1986.

32 Die wissenschaftshistorische Auseinandersetzung mit der Geschlechterkategorie wird deut- lich in: Karin Hausen, Helga Nowotny (Hg.): Wie mannlich ist die Wissenschaft. Frank- furt/M.: Suhrkamp 1986.

33 Wr den deutschen Sprachraum sind zu nennen die grundlegenden Arbeiten von Esther Fischer-Homberger: Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau.

Bern u. a.: Huber 1979; Johanna Geyer-Kordesch, Annette Kuhn (Hg.): Frauenkorper

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Medizin

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Sexualitat. Auf dern Weg zu einer neuen Sexualmoral. Dusseldorf: Patmos 1986;

Johanna Geyer-Kordesch: Geschlecht und Gesellschaft. In: Berichte zur Wissenschafts- geschichte I0 (1987), S. 195-205.

34 Lenzen, Krankheit (Anm. 30).

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hat sich aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven gezeigt, daB diese Ansich- ten teilweise starken Wandlungsprozessen unterliegen, die an die soziokulturelle VerfaBtheit der einzelnen Gesellschaften zuruckgebunden sind. WZihrend auf der einen Seite die Frage nach sozialen Machtbeziehungen zwischen den Geschlech- tern aufgeworfen wurde, trat auf der anderen Seite die epistemische Frage nach grundlegenden Bedingungen wissenschaftlicher wie soziater Typisienmg, Katego- risierung und Hierarchisierung des menschlichen Korpers hervor.

In der Forschung sind eine ganze Reihe von Studien publiziert worden, die sich dem Korper zuwenden und die grundlegenden Modi der Einschreibung von ,Mannlichkeit' oder ,Weiblichkeit' thematisieren. Medizinhistorische Ergebnisse sind hier jedoch nur unzureichend berucksichtigt ~ o r d e n . ~ ~ Gleichwohl hat die Medizingeschichte inzwischen viele Aspekte der Korperhistoriographie, etwa aus dem Bereich der ~ n a t o m i e ~ e s c h i c h t e , ~ ~ der ~atientengeschichte" oder der Ge- schichte des medizinischen ~usbildungswesens~~ erforscht. Als Grund fiir bisher nur unzureichend erkannte Forschungsergebnisse isr sicherlich anzufuhren, daB die einzeln erbrachten Ergebnisse zu wenig vernetzt wurden: Die Stiirkung einer zunehmenden Vernetzung, sei es innerhalb des eigenen Faches oder in einern transdisziplinaren ForscherInnenverbund, ist als ein wichtiges Desiderat der me- dizinhistorischen Forschung anzusehen. Erst durch die Biindelung der einzelnen Forschungsleistungen in dia- wie synchroner und in intra- wie interdisziplin&er Perspektivc wird sich ein synergistischer Effekt einstellen.

Die Medizingeschichtsschreibung sotlte sich deshalb sttirker als bisher mit ihrem Potential in die kulturwissenschaftlichen Diskussionen einbringen, medi- zinhistorische Ergebnisse prasentieren und Perspektiven aufieigen, welche die Geschichte des eigenen Korpers oder die fremder Korper plastisch erscheinen lassen. Dies gilt auch fiir die relationalen Aspekte, welche rnit dem weit verbreite- ten und vie1 diskutieren terntinus technicus ,gender' zu fassen sind. In der Fokus-

35 Vgl. beispielsweise Claudia Benthien: Haut: Literaturgeschichte, Kiirperbilder, Grenzdiskur- se. Hamburg: Reinbek 1999; Dies. (Hg.): Karperteile - eine kulturelle Anatomic. Hamburg:

Reinbek 2001.

36 Karin Stukenbrock: ,,Der zerstiickte Corper": zur SoziaIgeschichte der anatomischen Sektio- nen in der friihen Neuzeir (1650-1800) [= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft. l6].

Stuttgart: Steiner 2001.

37 AmaIie M. Kass: The Obstetrical Casebook of Walter Channing, 181 1 - 1822. In: Bulletin of the History of Medicine 67 (1993). S. 493-523: Johanna Geyer-Kordesch: Whose Enlighten- ment? Medicine, Witchcraft, Melancholia and Pathology. In: Roy Porter (Hg.): Medicine in the Enlightenment (= Clio Medica, 29). Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1995, S. 113-127.

38 Vgl. Christine Eckelmann: hztinnen in der Weimarer Zeit und im Nationalsozislismus. Eine Untersuchung zur Geschichte des Bundes Deutscher Arztinnen. Wermelskirchen: WFT 1992;

Johanna Bleker: Anerkennung durch Unterordnung? ~rztinnen und Nationalsozialismus. In:

Eva Brinkschulte (Hg.): Weibliche b t e . Die Durchsetzung des Berufsbiides in Deutschland (= Reihe Deutsche Vergangenheit, 108). Berlin: Edition Hentrich 1994, S. 126-139; Eva Brinkschulte: Professor Dr. Rahel Hirsch (1870-1953)

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der erste weibliche Professor der Medizin

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vertrieben, verfolgt, vergessen; ebenda, S. 103-1 10. Marita Krauss: Die Frau der Zukunft. Dr. Hope Bridges Adams-Lehmann, 1855-1916. ~ r z t i n und Reformetin. Miinchen:

Buchendorfer Verlag 2002.

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sierung auf die rnittlerweile gangigen relationalen Perspektiven von ,mannlich9 und ,weiblich', ,sex' und ,gender' sowie ,transgender' und ,queer' wird deutlich, dal3 solche Konzeptionen fur das Verhaltnis moderner Gesellschaft zur Biomedi- zin konstitutiv ~ i n d . ~ ~ Das heifit, die Perspektive der Geschlechterdifferenz er- scheint als eine quer zu den Disziplinen organisierte?O insofern mit dieser Aus- richtung Beziige zu etablierten Forschungsgebieten

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wie zur Historischen An- thropologie oder zur Sozialhistoriographie

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hergestellt werden, wiihrend der Fo- kus auf eine eigenstlndige Prob~emstellung gerichtet bleibt. ~ b e r den engeren akademischen Rahmen hinaus besitzt die Frage nach der Beziehung von Medizin, Geschichte und Geschlecht eine wichtige gesellschaftspolitische Bedeutung, die nicht zuletzt durch die offentliche Wahrnehmung der wissenschaftlichen Aktivita- ten in der Medizin bestirnmt ist. Mannigfache Fragen nach entwicklungsorientier- ten Bestimmungen des Geschlechterunterschieds, wie sie durch die anatomischen und auch physiologischen Objektwissenschaften aufgeworfen werden, nach der Ausbildung von soziokulturellen Konzepten der Leib-Korper-Differenz oder nach den Folgen geschlechtsspezifischer Sozialisationsprozesse stehen auf dem Ta- bleau historischer Forschung. Sie sind weder fiir sich noch in ihren Wechselbezii- gen hinreichend untersucht. Zudem fiihrt die soziale Erfahrung mit anderen Kijr- pern und die eigene Korpererfahrung, auf der Folie der Verbreitung medizini- schen Wissens und medizinischer Praktiken, zu weiterer ~rkenntnis~roduktion.~

Sie besitzt fiir den Alltag und nicht zuletzt fiir das Handeln in der Medizin groRe Relevanz. Dies muB als eine wichtige Schnittstelle zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen verstanden werden, welche sich dem ,Korper', den Diskursen und Wahmehmungen von ,Eigenem' und ,Fremden', von ,Krankem' und ,Gesundemi oder von ,Starkem' und ,Schwachemi verschrieben haben. Es stellt sich dabei die Frage nach Kontinuitat und Verandemng sowie nach Transfer und Abbriichen in einer diachronen ~erspektive.~' Hier kann die Medizingeschichte fundierte Ant- worten auf einzelne Kontexte und Fragen von Typologien sowie deren gesell- schaftlicher Bedeutung geben, wenn man den Korper in das Verhaltnis zu seinem materiellen, mentalen und sozialen Umfeld ~ t e l l t . ~ ~

39 Dies wird besonders deutlich in den Arbeiten von Duden, Spuren (Anm. 27) und Stefan Hrschauer: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie soziaJer Ord- nung. In: Kdlner Zeitschrift fiir Soziologie, Sonderheft 41 (2001), S. 208-225.

40 Christina von Braun, Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einfiihrung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000.

41 Vgl. etwa die Charakterisierung in Michael Stolberg: Homo padens. Krankheits- und Korper- erfahrung in der Friihen Neuzeit. Koln u. a.: BiShlau 2003.

42 Zur interdistiplinaen Frage des Kulturtransfers in der Medizingeschichte siehe Florian Steger, Kay Peter Jankrift (Hg.): Wissen zwischen Briicken und Bruchen. Gesundheit und Krankheit von der Sparantike bis in die Friihe Neuzeit (= Archiv fiir Kulturgeschichte, Bei- heft. 55). Keln u. a.: BBhlau 2004.

43 Volker Roelcke: Medikale Kultur: Moglichkeiten und Grenzen der Anwendung eines kultur- wissenschaftlichen Konzepts in der Medizingeschichte. In: Norbert Paul, Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. FrankfurtlM. u. a.: Campus 1998, S. 45-68; ders.: Medizin

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eine Kutturwissenschaft? Wissenschaftsverstiindnis, Anthro- pologie und Wensetzungen in der modernen Heilkunde. In: Klaus E. Miiller (Hg.): Phanomen

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Hinsichtlich des Verhlltnisses von Korper-Analyse und Geschlechterkategorie ist zentral, wie gesellschaftliche und wissenschaftliche Konstruktionsprozesse mit den medizinischen Erkenntnissen sowie den damit verbundenen arztlichen Erfah- rungen harmonisierten, interagienen und in zeitlicher Hinsicht Modifizierung er- fuhren. Parallel soliten auch psychologische und sozialhistorische Erklarungsmo- delle aufgegriffen werden, urn unterschiedliche Wahrnehmungsformen von ,Mannlichkeit' und ,Weiblichkeit* bewerten zu konnen. Selbst wenn hier die Per- spektiven der Sozialhistoriographie und der historischen Frauenforschung bereits fruchtbare Gegenstandsbereiche ausgewiesen haben, so riefen ihre Forschungser- gebnisse auch Widerspruche hervor. Epocheniibergreifend bleibt die doppelte Fragestellung virulent, wie medizinische Phanomene zu Geschlechterphiinomenen werden konnten beziehungsweise wie Geschlechtseigenschaften kutturhistori- schen Phgnomencharakter erhalten haben. Des weiteren sind individuelle und so- ziale Erfahrungskategorien von grofler Bedeutung

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sei es die Erfahrung von Frauen und Mannern mit Medizin oder diejenige von ~ r z t ~ n n e n und PatientInnen in der Medizin. Sie sind ebenso Medium wie Beweggrund zur Verandemng der kulturellen Kategorie ,Geschlecht' und einer eingehenden historiographischen Analyse wiirdig.

In kulturwissenschaftlicher Hinsicht wird in den einzefnen Beitragen dieses Bandes dem Verhaltnis der Geschlechterkategorie zur Medizin, den unterschiedli- chen Modi allgerneiner Erfahrung mit Medizin sowie den Einfliissen von kulturell bedingten Wissensbestiinden und in historisch-soziale Kontexte eingebetteten Wissenschaftspraktiken besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Selbstreflexi- vitat von ~ r z t ~ n n e n und Biowissenschaftlerlnnen sowie die Betrachtung der histo- rischen Pluralitat von Wissen und Wissenschaft bieten einen wichtigen theoreti- schen Ausgangspunkt, der es erlaubt, dieses Wechselverhaltnis in seinen zeitli- chen, riiumlichen und kontextuellen Beziigen zu analysieren. Gleichzeitig geht es urn einen Briickenschlag zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich dem Korper zuwenden. Dabei wird Mar, in welchem AusmaB medizinische, wissen- schaftliche und soziale Wahrnehmungskategorien von einer dichotomischen AE- tribuierung oben genannter Kategorien wie ,Mannlichkeit' and ,Weiblichkeit', ,Eigenesv und ,Fremdes' oder ,bankheir' und ,Gesundheit1 getragen werden.

Insofern sind Folgen zu erwarten, die nicht nur an den Grenzen des gesellschaftli- chen Teilsystems ,Medizin9 sichtbar werde-nTU sondem auch innerhalb der Medi- zin selbst wirkmachtig und der historischen Analyse zuganglich sind.

Kultur. Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript 2003, S. 107-130.

44 Fur Luhmann stellen soIche Dichotornien spezifische RationalitIhstandards dar, nach denen sich gesellschaftliche Teilsysteme ausdifferenzieren. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme.

GrundriB einer allgerneinen Theorie. 4. Auflage. FrankfurttM.: Suhrkamp. 1993, S. 22f. Wiir- de man die Luhmannsche Perspektive an dieser Stelle in die Geschlechterforschung einbezie- hen, so lieBen sich Querbeziehungen zwischen konzeptuellen Dichotomien sowie der Ausprii- gung von Kommunikations-, Macht- und Hierarchiebedingungen dingfest machen und in ei- nem breiteren Kontext sozialwissenschaftlicher Theoriebildung analysieren: ahnlich etwa in

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Die genannten dichotomen Differenzen werden in den Beitragen des vorlie- genden Sammelbandes ,,Medizin, Geschichte und Geschlecht" aufgenommen und in Fonn von zwei Themenquerschnitten systematisch prtisentie~. Diese Themen- bereiche sind durch die Entstehung von ,Differenzen9 und die Konstnrktion von ,Identitateny beschrieben. Bereits in dieser doppelten Pointierung wird die wichti- ge Perspektive der Geschlechterkategorie deutlich, welche eine Herangehensweise in sozialhistorischer, korperhistorischer, kulturwissenschaftlicher und wissen- schaftshistorischer Hinsicht notig macht, da sie sich produktiv nur aus einer inter- diszipliniiren Perspektive heraus bearbeiten l a ~ t . ~ ' Die Geschlechterforschung hat besonders im angelsachsischen Sprachraum auch wissenschaftshistorische For- schungsergebnisse r e ~ i ~ i e r t . ~ ~ Tatsachlich konnen diese Impulse kaum iiberschitzt werden. Verglichen mit ihrem Potential haben medizin- und wissenschaftshistori- sche Perspektiven im deutschsprachigen Raum eher sparlich Eingang in die aktu- ellen kulturwissenschaftlichen Debatten gefunden. Insbesondere Aspekte der

~iir~er~eschichte:' Untersuchungen zur politischen Genese der Geschlechterver- h l ~ t n i s s e ~ ~ oder des historischen Moments der Ausbildungsbedingungen von ~ r z - tinnen und ~issenschaftlerinnen~~ bieten wichtige Ankniipfungspunkte fur die Diskussion der Geschlechterverh;iltnisse im professionellen Umfeld und therapeu- tisch-heilungsbezogenen Kontext des Arzt-Patienten-Verhaltnisses in der Medi- zin.

In der ersten Rubrik zu Rekonstruktionen von Identitaten werden zunachst Korperwahmehmungen im kulturellen Kontext wie auch im Gefuge sozialer Dis- kurspraktiken beschrieben. So untersucht Sabine Filllinger in ihrem Beitrag zum Verhaltnis von Geschlecht und Korperwahrnehrnung in der fruhgriechischen Dichtung die Konstruktionsprozesse von geschlechtsgebundenen Ich-Zuschrei- bungen und macht wichtige Unterschiede im Verhalten von Mannern und Frauen zu ihrem Korper aus. Sie verweist auf die tragende Rolle, welche die Konzeption des Alters in der griechischen Antike fiir die Gender-Dichotomie hatte. Das Alter wird in Follingers Beitrag zu einer begrifflichen Referenz, der quer zum Diskurs der Geschlechterdifferenz steht, und der in der friihgriechischen Dichtung sogar eine egalitlire Sichtweise auf die Schonheit der K-r ermoglicht hat.

Das Verhaltnis von Wahrnehmung und Idealisierung korperlicher Schonheit nirnmt auch Sabine Sander in ihrem Beitrag iiber arttliche Ratgeberliteratur in der

Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimitst. FrankfurtlM.: Suhrkamp 1982.

45 Karin Hausen: Geschlechterforschung und Interdisziplinaritat - Perspektiven in Umbruchzei- ten. In: Werkstatt Geschichte 19 (1998)- S. 59-68.

46 Vgl. etwa Londa Schiebinger: The Mind has no Sex? Women and the Origins of Modem Science. Cambridge, MA: Cambridge University Press: 1989; Evylyn Fox Keller: Gendw and Science. Origin, History, and Politics. In: Osiris 10 (1995). S. 27-38; Sally Gregor Kohlstedt:

Women in the history of Science: An Ambiguous Place. In: Osiris 10 (19951, S. 39-58.

47 Arthur E. Irnhof et al. (Hg.): Der Mensch und sein Kiirper von der Antike bis heute.

Munchen: Beck 1983.

48 Meinel, Renneberg, Geschlechterverhilltnisse (Anm. 2).

49 Brinkschulte, Weibliche Arzte (Anm. 38).

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Friihen Neuzeit auf. In der argumentativen Verschrankung von sozialhistorischen mit episternischen Fragen zum Wissen und zur Wahrnehmung von Schonheit greift sie auf kosmetische Monographien zuriick, urn jene Kenntnisse zu rekon- struieren, die zwischen 1500- 1800 in der Landessprache an medizinische Laien vermittelt worden sind und welche die Grundlage fdr kosmetische Praktiken leg- ten, die teilweise im Einklang und teilweise im Widerstreit mit Idealvorstellungen mannlicher ~ r z t e uber die Schijnheit des weiblichen Korpers standen.

Thomas Schnalke analysiert in seinem Beitrag zum expandierten Menschen Fragestellungen zur Konstitution von Korperbildern in anatomischen Sarnmlun- gen des 18. Jahrhunderts. Auf dem Terrain des anatomischen Sammlungspriipa- rats macht er deutlich, wie dieses neben Text, Bild und Nachbildung zu einem dinglichen Wissensreferenten fiir die Identitat von Korperbildern wurde. Zugleich macht er deutlich, daR sich in der anatomischen Sammlungspraxis zwar unter- schiedliche Sichtweisen vom weiblichen und miinnlichen Korper finden, daB die Blicktraditionen und Raumkonzeptionen aber den Menschen relativ geschlechts- neutral als naturhistorisches Objekt exponiert haben.

Marion M. Ruisinger fokussiert in ihrem Beitrag zur Patientinnengeschichte des 18. Jahrhunderts Fragen des sozialen Geschlechterverhaltnisses am Beispiel der Eigenwahrnehmungen von Patientinnen im Brief sowie Fremdzuschreibungen von &ten oder Ehemannern. Diese eng an den Quellen iirztlicher Konsiliarkor- respondenz gefiihrre Untersuchung fiihrt zu einer grofltmoglichen Ann$iherung an die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster kranker Frauen und doku- mentiert das Produkt: vielfdltiger Austauschprozesse sowie Mischperspektiven, die hinsichtlich der Krankheiten der Frauen, den Erwartungen der Patientinnen und den kursierenden Genesungsratschlagen von a n t e n und Privatpersonen deutlich werden.

Eva Brinkschulte entwickelt an ihrem Beispiel aus der Frauenemanzipation an deutschen Universitlten historische Einblicke in das Verhgltnis zwischen Mgn- nern und Frauen sowie die Hierarchiebeziehungen in der Organisationsweise des akademischen Lehibetriebs urn 1900. Eindrucksvoll zeichnet sie universittke Konstruktionsweisen von Miinnlichkeit wie auch mimetische Angleichungspro- zesse bei den ersten Medizinstudentinnen nach. Die Zulassung weiblicher Studen- tinnen an den deutschen Universitaten stellte die Reproduktionsbedingungen von Miinnlichkeit in Frage, was in der Diskussio~l urn das akademische Biirgerrecht von Frauen besonders deutlich wird.

Gegenstand des Beitrags von Marita Krauss ,,Die neue Zeit mit ihren Neuen Forderungen verlangt auch ein neues Geschlecht" sind die Hoffnungen und Er- wartungen, welche die ersten Medizinstudenrinnen in Deutschland an ihre berufli- che Kaniere und ihre private Anerkennung gekniipft haben. So thernatisiert Krauss die Bestrebungen der hztin und Publizistin Dr. Hope Bridges Adams Lehmann zu einer VerHnderung der Lebensbedingungen und Lebensentwiirfe von Frauen

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nicht nur am Beispiel professioneller Gleichstellung, sondern auch in privater, politischer und gemeinschaftlicher Hinsicht

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zu gelangen. Ihr englischer Erziehungshintergrund und ihre Einbindung in die sozialistische Bewegung gaben

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Bridges Lehmann den niitigen Halt, ihre Reformbemuhungen in Deutschland um- zusetzen.

SchlieSlich steht unter der Rubrik Identitaten der von Andreas Frewer und Christian Safken gemeinsam verfaRte Artikel zu medizinhistorischen und ethisch- rechtlichen Aspekten der Geschlechtsumwandlung. Die in unserern Kulturkreis vorherrschende enge Verbindung von Zweigeschlechtlichkeit und sexueller Iden- titat wird darin einleitend mit der Antike konfrontiert, in der mehrgeschlechtliche Lebensmuster und -formen gesellschaftlich vielfach akzeptiert und rechttich aner- kannt waren. Auf der Suche nach einem Losungsvorschlag des aktuellen Dilem- mas, das sich aus bin& codierten juristischen Verfahrenspraktiken sowie unter- schiedlichen Ansltzen in der chirurgischen Geschlechtsumwandlung zum 20. und 21. Jh. hin entwickelt hat, zeigen die Autoren, dal3 die Einteilung der Menschheit in die Geschlechter 'mannlich' und ,weiblichY als pragmatische Setzung zu sehen ist, die auf der Ebene des sozialen Umgangs sogar Konflikte mit gangigen ethi- schen und rechtlichen Normen heraufbeschwort.

In der zweiten Rubrik Rekonstruktionen von Dzferenzen wird die Frage nach Kikperlichkeit, nach der anatomischen Bestimmung des Geschlechterunterschieds oder der Herausbildung von spezifischen Wissenschaftstraditionen aufgezeigt. Die Untersuchungsebene zur Konstruktion von Geschlechterdifferenzen umfa13t in den analysierten Fallbeispielen nicht nur Momente an der Schnittstelle von Medizin und Gesellschaft. Vielmehr werden zentrale Diskurse

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etwa zur Definitionshoheit bei der Bestimmung von Geschlechtsmerkmalen des Korpers, zum Verhiiltnis von Korperbild und Geschlecht oder zur Wechselbeziehung von Leiblichkeit und In- dividualitat beschrieben.

Die Diskussion eroffnet Ortrun Riha rnit ihrem Beitrag zu Polen, Stufen und aergilngen In der Differenz der Geschlechter in medizinischen Traktaten des Mittelalters. Deutlich weist sie darauf hin, dal3 die Mediavistik nicht erst miihsam eine konstruktivistische Sichtweise auf den Gegenstand ,Geschlecht' gewinnen muBte, sondern in ihrem Zugriff auf die kdturell so verschieden geartete Zeit, je schon idealtypische Entwiirfe entimen sowie Krankheiten und Korperwahrneh- mungen in ihrem Kontext zu beachten hatte. In ihren Beispielen, die von

I HiIdegard von Bingen iiber Thomas von Aquin bis auf Isidor von SevilIa zuriick-

i gehen, zeigt %ha das facettenreiche Bild vom Ktirperwissen und den Geschlech-

I tervorstellungen im Mittelalter. In einer Welt, in der nichts ,,gegen die Natur" ge-

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schah, boten sich auch Nischen fiir Phiinomene des Hermaphroditismus oder der abweichenden Organsuuktur.

Mit dem Fokus auf die Liebeskrankheit im mittelalterlichen Roman steIlt Hartmut Kugler Untersuchungen unter dern Aspekt der Geschlechterdifferenz an.

Diese fihren ihn iiber die Metapher der gottlichen Pfeilschiisse im Aeneas-Roman und lassen ihn dann die therapeutische Ohnmacht der friihmittelalterlichen Medi- zin fiir das Phanomen des Leidens an der Liebe konstatieren, welches die Erziihiht- forschung als Spezifikum der arabischen Kultur ausgemacht habe. Die Diskussion des Gefiihlskomplexes ,Liebe' im Kontext von Krankheit

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gleich ob bei Frauen oder bei Miinnern

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erscheint als ein spltmittelalterliches Moment, in dem die

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Minne des Blicks, des Worts und des Gesangs in einer medizinisch orientienen und am Paradigma des Kontagions ausgerichteten Pathologie auftrat

In seinern Beitrag iiber das Verhiltnis von Szientismus und Geschlechterdiffe- renz in der anatomischen Hirnforschung zwischen 1760 und 1850 verfolgt Frank Stahnisch Forschungstendenzen in der Gehirnmorphologie, die geschlechterdiffe- rente VorsteIIungen rnit den Mitteln naturhistorischer Analyse und neuroanatorni- scher Sektion festzuschreiben suchten. Zugleich werden hier Vorannahmen iiber unterschiedliche Nervendispositionen von Frauen und Mannern im 18. Jahrhun- dert aufgespurt, weitere Ausdifferenzierungen geschlechterkategorider Bestim- mungsversuche in der vergleichenden Anatomie beschtieben und die Fortentwick- lung dieser Tendenzen bis zu den messenden Verfahren des 19. Jahrhunderts skiz- ziert, mit denen die rnaterialistische Interpretation der neuronalen Natur des Weib- lichen eine Iegitimatorische Verfestigung erfahren hat.

DaC das VerstIndnis der Geschlechterdifferenz nicht nur aus den objektiv- materialistischen AnsItzen der medizinischen Grundlagenwissenschaften oder dem subjektiv entfalteten SeIbstbewuBtsein von Frauen und Mannern erwachst, zeigt der Beitrag von Hans-Georg Hofer deutlich. In seiner Diskussion der Neurasrhenie im Spannungsfeld von Medizin- und KiSrpergeschichte werden die komplexen Konstruktions- und Zuschreibungspraktiken deutlich, welche die me- dizinisch-psychiatrische Wissensgenese und deren geschlechtsspezifische Aneig- nung erkennen lassen. Als eine primiire Krankheit der Mifnner llBt Hofer das kul- turelle Phiinomen der Neurasthenie, das urn 1900 seinen Htjhepunkt erreicht, im Sinn eines dreifach konstituierten Wissens-, Erfahrungs- und mlnnlichen Ge- schlechtskiirpers verstandlich werden.

Die Frage danach, welche individuellen Zugangsvoraussetzungen

zu

zentralen Wissensbestanden, zu Modi der Wissensproduktion und der wissenschaftlichen Teilhabe Frauen im medizinischen Forschungsbetrieb offenstanden, wird irn Bei- wag von Johanna Bleker uber Frauenemanzipation und Vererbungswissenschaften fur das erste Drittel des 20. Jahrhunderts urnrissen. Ausgehend von der Feststel- lung, dal3 die Lehre von der geistig-seelischen Geschlechterdifferenz bis ins 20. Jahrhundert den ,,Subtext jeder Geschlechterdebatte" bildete, untersucht Bleker verschiedene zeittypische Diskurse iiber die Vererbung von Geschlecht und Geschlechtsmerkmalen. In der Darstellung der Programme, der Handlungs- perspektiven und Zielinterpretationen werden in Blekers Diskussion die Be- sctuiinkungen und Widerspruche rassenanthropologischer und bevolkerungspoliti- scher Debatten offenbar.

Im abschlieaenden Beitrag dieses Bandes macht Florian Mildenberger die Deckungsgleichheit von I-Ierrnaphroditismus und Homosexualitat im medizini- schen Diskurs zwischen 1850 und 1960 deutlich. Hierbei arbeitet er die Relevanz der Sexualforscher fur das hermaphroditische Homosexualitatskonstrukt in unter- schiedlichen Schattierungen heraus und geht der Biologisierung der Debatte in den rassenanthropologischen Ansatzen des friihen 20. Jahrhunderts wie auch des ,,Dritten Reichs" nach. Wahrend es im medizinischen Diskurs der Nachkriegszeit insbesondere zu ~ndentngen der sozialen Konnotationen von Hermaphroditismus und Homosexualitat gekommen ist, wirkten friihere Theorieansatze doch latent

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nach, bis schlieI3lich die IntersexualitLitsforschung verstiirkt soziaie Normsetzun- gen zu thematisieren begann.

Die in diesern Band zusammengefihrten Forschungsergebnisse ktinnen in ihrer Reichweite zwar keine Gesamtdarstellung des aktuellen Forschungsstands der medizinhistorischen Geschlechterforschung geben. Doch sind sie ein Aus- druck der thematischen und methodischen Vielfalt in der medizinhistoriographi- schen Auseinandersetzung mit der Geschlechterkategorie und dem Korper- Diskurs. Insgesarnt sind die von Seiten der Medizingeschichtsschreibung in den letzten zwanzig Jahren vorgelegten Forschungsergebnisse sehr zahlreich, so d d sie stiker als bisher intra- und interdiszipliniir gebiindelt und vernetzt werden sollten, um das weitergehende Nachdenken iiber die Kategorie ,Geschlecht' in der Medizin voranzubringen. Auch diesem Ziel mochte der vorliegende Band dienen.

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