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eginnen wir die Er- kundung der neuen, frei finanzierten deutschen Kur-Landschaft im äußersten Norden: Das Ostseeheilbad Kellenhusen, nördlich von Lübeck, verspricht gleich zu Anfang nicht weniger als ei- nen (unentgeltlichen) Rausch:„Die Meeresluft berauscht ein wenig, stärkt die Immun- abwehr und befreit die Atem- wege“, heißt es in der Eigen- werbung. Die Vorzüge der wasser- und waldreichen Ortslage kennen lernen kön- nen Gesundheitstouristen al- lerdings auch mit einer der preisgünstigen Pauschalen.
Es locken etwa – wenn auch erst im Herbst – die „Huber- tuswochen“ mit sieben Über- nachtungen, zwei Buchungen des Meerwasser-Hallenbads, einer Schnitzeljagd im Wald, Nachtwanderung mit dem Förster und gar einer Baum- pflanzaktion – ab 525 DM in- klusive Halbpension.
Da will sich, als zweite Station etwas weiter südwest- lich, das meerumschlungene Niedersachsen nicht lumpen lassen. Das Nordseeheilbad Langeoog lädt nicht nur seit mehr als 50 Jahren Kurgäste
auf die Insel, sondern neuer- dings auch zu Entspannungs- programmen und „Wohlfühl- nachmittagen“ ein. Mit derlei Pausen vom Stress will sich Langeoog als Wellness-Insel profilieren. Frei buchbar sind etwa Aquafitness oder Fußre- flexzonenmassage, aber auch das Programm „Thalassozeit“
mit Meeresschlickpackungen oder Meerwasser-Ölbädern.
Was den Küstenorten recht ist, ist dem tiefen Binnenland billig. Auch in Nordrhein-Westfalen stehen selbst zahlenden Kurgästen alle (Wasser-)Wege offen.
Bad Münstereifel hat sich seit rund 70 Jahren als Zentrum der Kneipp-Heilkunde eta- bliert. Im Amber-Kurhotel mit seinem eigenen Kurmit- telhaus kostet solch ein zwei- wöchiger Aufenthalt in der Nebensaison bei Halbpensi- on 1 690 DM im Einzelzim- mer. Hinzu kommen 480 DM für die Kneipp-Anwendun- gen, bei denen den Privat- kurgästen eine eigene Ärztin im Haus zur Verfügung steht.
Hier werden naturgemäß speziell Patientengruppen et- wa mit Herz-Kreislauf-Lei- den oder Durchblutungsstö-
rungen angesprochen. Auch im rheinland-pfälzischen Bad Bertrich legt Kurdirektor Norbert Arenz Wert darauf,
„nicht unspezifische Well- ness“ zu versprechen, son-
dern die Pauschalangebote gezielt auf Bedürfnisse ein- zelner Gruppen auszurich- ten. Etwa die Stressbewälti- gungswoche mit Unterkunft, autogenem Training, geführ- ten Wanderungen und täg- lichem Lauftreff ab 424 DM pro Person.
Von Rheinland-Pfalz nach Franken. In Bad Rodach, das sein Thermalbad selbstbe-
wusst als „schönste Bade- landschaft in Franken“ an- preist, können Neulinge ganzjährig die „Einsteiger- kur“ buchen. Im Paket ent- halten: sieben Übernachtun- gen, viermal Eintritt ins Thermalbad, je drei Fango- packungen und Massagen.
Bei Unterkunft in einer Pension kostet der Spaß ganze 443 DM, im Kurhotel 613 DM. „Wir hatten hier nie eine Kurkrise“, sagt Kur- direktor Hubert Seewald,
„denn wir hatten schon Mitte der 90er-Jahre überwiegend Selbstzahler als Gäste.“ In- zwischen sind es 95 Prozent, und denen wird offenbar ordentlich etwas geboten, denn die Übernach- tungen stiegen im vergangenen Jahr um 17 Pro- zent. Vielleicht liegt es ja am leibhaftigen sin- genden Bade- meister, zu des- sen sonntägli- chen Darbie- tungen bis zu 300 Leute im größten Ther- malbecken Pol- ka tanzen. Ein- mal im Jahr veranstaltet Bad Rodach sogar den kultver- dächtigen „Grand Prix der singenden Bademeister“.
Am Ende der höchst zufäl- ligen Kur-Reise als Selbstzah- ler erreichen wir den südöst- lichsten Winkel der Republik im bayerischen Bad Feilnbach zwischen Chiemsee und Wen- delstein. Ein „Bad im Blüten- meer“ inmitten eines der größten Streuobstgebiete Eu- ropas, kombiniert mit Moor-, Dampf- und Heubädern oder auch Heilfasten, wird hier als Wellness-Angebot „Moor and more“ angeboten. Weibli- che Gäste des „bayerischen Meran“ können sich den 30. April vormerken: Aus An- lass der Walpurgisnacht gibt es ein „Frauen-Wochenende“
mit Schwitzhütte, Speckstein- Modellieren und weiteren, für Männer nicht durchschauba- ren Gesundheits- und Weib- lichkeitsritualen. Peter Tuch A-857 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 13, 31. März 2000
V A R I A HEILBÄDER UND KURORTE
Gesundheitsangebote für Selbstzahler
Und der Bademeister singt
Drei Gästetypen unter den neuerdings umworbenen „Selbstzahlern“ spuken durch die Kurort-Marketinganalysen. Erst all- mählich gewinnen sie wissenschaftlich mess- bare Konturen: Laut „Forschungsgruppe Urlaub und Reisen“ suchen Fitness-Urlau- ber (überwiegend unter 40 Jahre alt) vor allem sportliche Betätigung wie Schwim- men, Radfahren oder Golf. Dagegen be- vorzugen Wellness-Touristen (zumeist unter
30 oder zwischen 40 und 60 Jahre alt) Ver- wöhn- und Schönheitsangebote, Kontakte zu netten Menschen und einen perfekten Rundum-Service. Gesundheitsurlaubern ist eine natürliche, unbelastete Umwelt und aktivierendes Klima am wichtigsten, dicht gefolgt von gesunder Ernährung, einer schönen Badeanlage und guter medizi- nischer Betreuung. Von ihnen sind zwei Drittel über 60 Jahre alt. OD
Längst sind sie mehr als nur ein „zweites Standbein“ für das wirtschaftliche Wohler- gehen des Kurwesens: Die so genannten Selbst- zahler. Anders als traditionelle Sozialkur-Pati- enten gelten Selbstzahler als konsumfreudig,
erlebnisorientiert – und wählerisch. Von den Heilbädern und Kurorten werden sie mit im- mer fantasievolleren, spektakuläreren Ge- sundheitsangeboten umworben. Eine kleine Deutschlandreise
Die neuen Kurgäste:
Wellness-, Fitness-, Gesundheitsurlauber
Im Thermalbad von Bad Rodach wird sonntags Polka ge- tanzt. Foto: Kurverwaltung Bad Rodach
A-859 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 13, 31. März 2000
A
lles schon mal da ge- wesen: Vor 70 Jahren waren die deutschen Kurorte, ganz ähnlich wie heute, in einer wirtschaftli- chen Krise. Die Seebäder schlossen sich daher 1930 zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, um mit einer dra- stischen Maßnahme Abhilfe zu schaffen: Das Verbot des Glücksspiels in den Bädern müsse aus dem Reichskur- ortgesetz verschwinden. Die Kur-Manager setzten, neu- deutsch formuliert, schon da- mals auf den „fun factor“.Von Spielbanken versprach man sich mehr touristische Attraktivität und einen Zu- strom frischen Geldes in die gebeutelten Orte.
„Das darf nie erlaubt werden“, appellierte der Sati- riker und Kommentator Kurt Tucholsky. Denn „man mag nicht an einem Ort, wo sich der Städter von elf Monaten Staub und Arbeit erholt, diese Schie- ber des Spiels versammelt se- hen, die überall auftauchen, wo gespielt wird“. Tucholsky fürchtete vor allem auch einen rasanten Preisanstieg in den
Kurorten, denn „wer sich Geld erspielt und nicht erarbeitet, achtet es nicht“. Gewinnen würden nur die Banken, warn- te der Autor. Außerdem wäre es „eine geradezu gemeine Aufreizung, wenn unsere Arbeitslosen in der jetzigen Zeit mitansehen müssten, wie die Leute ihr Geld verspielen“.
Im Jahr 2000, angesichts von Dutzenden Spielbanken
und Casinos in Kurorten, ein längst überholtes Horror- Szenario? Nicht ganz, denn der Mahner Tucholsky findet selbst unter höchsten Kur- Funktionären offene Ohren.
Professor Dr. med. Manfred Steinbach, Präsident des Deutschen Heilbäderverban- des (DHV), würde „Spielban- ken nicht auf die Liste der Einrichtungen setzen, die wir in Kurorten benötigen“. Zwar wolle der DHV das seiner medizinischen Qualität ver- pflichtete Kurwesen behutsam für Touristik- und Freizeit-In- dustrie öffnen, aber irgendwo sei eine Grenze. Für Steinbach liegt sie derzeit bei „Damen- ringen im Heilmoor und Mo- tocross im Kurpark“. OD
V A R I A HEILBÄDER UND KURORTE