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Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 38½½½½22. September 2000 AA2467
Symptomatische Behandlung
Es muss aber in aller Deutlichkeit be- tont werden, dass die Shave-Therapie trotz ihrer guten Ergebnisse nur eine symptomatische Behandlung ist. Die die Ulzera verursachenden Störungen in Form pathologischer Refluxes blei- ben unverändert vorhanden. Auch be- steht bei diesen Problemulzera zusätz- lich fast immer ein arthrogenes Stau- ungssyndrom mit Einschränkung der Beweglichkeit im oberen und unte- ren Sprunggelenk beziehungsweise mit Ankylose in Spitzfußstellung (10, 19, 20).
Dies bewirkt, neben der bestehen- den retrograden Insuffizienz (patholo- gische Refluxes), eine antegrade (Mus- kelpumpen-)Insuffizienz mit Ver- schlechterung der Prognose (7) bezie- hungsweise erhöhter Rezidivneigung.
Die Spätergebnisse bei diesem Patien- tenkollektiv sind daher auch entschei- dend von der Compliance der Patienten in Form einer guten Physiotherapie (9), ausreichender Bewegung und insbeson- dere einer kontinuierlichen und effekti- ven Kompression abhängig (2, 14, 15).
Fazit
Mit der technisch wenig aufwendigen Shave-Therapie steht eine schnelle und effektive Methode für die Behandlung der häufig therapieresistenten Ulzera bei tiefer Veneninsuffizienz zur Verfü- gung. Da das Verfahren in jeder chirur- gisch orientierten Abteilung durchge- führt werden kann, sollte es in das Stan- dardrepertoire aller operativ tätigen Kollegen übernommen werden.
Für die Überlassung des MRT danken wir Herrn Prof. Dr.
med. Hans-Björn Gehl, Institut für Radiologie (Direktor:
Prof. Dr. med. Hans-Dieter Weiss), Medizinische Univer- sität zu Lübeck
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 2464–2467 [Heft 38]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Wilfried Schmeller Rosenparkklinik
Heidelberger Landstraße 20 64297 Darmstadt
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ie Behandlung von Rückenschmer- zen hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Mittlerweile besteht ein breiter Konsens über die Wichtigkeit von aktiven, trainings- und verhaltens- orientierten Interventionen unter Ein- schluss edukativer Elemente. Dieses Konzept wurde erstmals in den 80er-Jah- ren von dem amerikanischen Orthopä- den T. Mayer und dem Psychologen R.Gatchel vorgestellt (5). Eine der wesent- lichen Prämissen war dabei die Verlage- rung von der (symptomatischen) Schmerzbehandlung
zur Behandlung ge- störter körperlicher, psychischer und so- zialer Funktion (da- her die Bezeichnung Functional Restora- tion). Der Functio- nal-Restoration-An- satz zeichnet sich durch eine sportme- dizinische Orientie- rung unter verhal- tenstherapeutischen Prinzipien aus. Sport- therapeutische, ergo- therapeutische, phy-
siotherapeutische und psychotherapeuti- sche Interventionen sind in einem stan- dardisierten Gesamtkonzept integriert.
Dazu kommt eine differenzierte Berück- sichtigung der Arbeitsplatzsituation und die entsprechende Einbindung arbeits- spezifischer Haltungen und Bewegungen in die Therapie (6, 8).
Bereits im Umgang mit akuten Rückenschmerzen ist eine entsprechen- de Veränderung des Vorgehens sinnvoll:
In einer finnischen Studie mit 163 Teil- nehmern konnten Malmivaara et al.
(4) nachweisen, dass bei akuten Rük- kenschmerzen die Empfehlung, trotz
Schmerzen den üblichen Alltagsaktivitä- ten weiter nachzugehen, langfristig mit dem besten Krankheitsverlauf verbun- den war (kürzere Dauer und geringere Intensität der Schmerzen, weniger sub- jektive Beeinträchtigung und kürzere Dauer der Arbeitsunfähigkeit). Weniger günstig erwies sich die Empfehlung zwei Tage Bettruhe einzuhalten oder die Ver- schreibung von physikalischen Maßnah-
men. Am schlechtesten schnitt die Grup- pe ab, der Bettruhe empfohlen worden war. Ähnliche Ergebnisse konnten von Waddell et al. (10) in einer Metaanalyse zur Verschreibung von Bettruhe bei Rückenschmerzen nachgewiesen wer- den.
Multimodale Programme effektiver als monodisziplinäre Therapie
Auch die Studie von Klaber-Moffett et al. (3), deren kürzlich publizierte Zu- sammenfassung mit der Überschrift
„Krankengymnastik hilft bei chroni- schen Rückenschmerzen“ möglicher- weise zu Missverständnissen geführt hat,
Wandel in der Behandlung von Rückenschmerzen
Michael Pfingsten, Joachim Strube, Dagmar Seeger
Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Intensivmedi- zin (Direktor: Prof. Dr. med. Dietrich Kettler) der Georg- August-Universität, Göttingen
Sie riefen mich gerade noch rechtzeitig.
In ein, zwei Tagen wären Sie von allein wieder auf die Beine gekommen!
Zeichnung: Ralf Brunner
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A2468 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 38½½½½22. September 2000
unterstützt die Wirksamkeit einer derar- tigen Vorgehensweise. In dieser Studie wurden 187 Patienten randomisiert zwei Behandlungsbedingungen zugewiesen:
In Behandlungsversion A wurden acht jeweils einstündige gruppentherapeuti- sche Sitzungen mit Stretching, Kraft- und Ausdauerübungen durchgeführt mit dem Ziel, die normale Beweglichkeit der Wirbelsäule und Funktion sämtli- cher Muskelgruppen wieder herzustel- len. Mit einbezogen waren kognitiv-ver- haltenstherapeutische Behandlungsele- mente, wie zum Beispiel quotenorien- tiertes Training, die differenzierte Ver- wendung von Verstärkungsbedingun- gen, die Vermittlung von Selbstkontroll- strategien. Die Patienten wurden ange- leitet, sich normal zu bewegen. Bei der Kontrollgruppe (B) wurde die „norma- le“ ärztliche Behandlung unter Ein- schluss „normaler“ bisher üblicher phy- siotherapeutischer Maßnahmen durch- geführt. Es zeigte sich, dass die oben ge- nannte Behandlung A der Kontrollbe- handlung B zu verschiedenen Messzeit- punkten in der Effektivität immer über- legen war.
Mittlerweile sind eine Vielzahl von Erfahrungsberichten und Wirksamkeits- studien derartiger aktiver, so genannter multimodaler Programme veröffentlicht worden (Metaanalyse) (9). Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bil- dung, Wissenschaft und Forschung (BMBF) geförderten Projektes haben wir die Effektivität eines solchen Vorge- hens an einer klinischen Stichprobe von 90 Rückenschmerzpatienten überprüft (1).
Das Vorgehen in der Behandlung der
„Volkskrankheit“ Rückenschmerz ist bisher wenig standardisiert. Der Hinweis auf einen möglichst „schonenden“ Um- gang mit dem Rücken muss bei Patienten mit Rückenschmerzen sehr sensibel ge- handhabt werden, da er möglicherweise einem chronifizierenden Vermeidungs- verhalten Vorschub leistet. Durch die Vermeidung normaler körperlicher Ak- tivität entstehen langfristig nicht nur kör- perliche Beeinträchtigungen (Kraft-, Ko- ordinations- und Ausdauerverlust, Calci- umabbau der Knochen) sondern auch psychosoziale Konsequenzen (sozialer Rückzug, emotionale Beeinträchtigung), die schließlich in eine weitgehende Im- mobilisierung münden können und die
Krankheitsrolle der betroffenen Patien- ten festschreiben (7).
Von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft werden in näch- ster Zeit Behandlungsempfehlungen für die verschiedenen Stadien von Rücken- schmerzen herausgegeben. Richtig ist, dass Krankengymnastik mit aktiven Übungsprogrammen bei chronischen Rückenschmerzen hilft. Falsch ist dage- gen der Hinweis, den Rücken zu scho- nen. Im Gegenteil müssen Patienten mit Rückenschmerzen in ihrer normalen Be- wegung und Belastung unterstützt wer- den. Eine suffiziente analgetische Ver- sorgung in den ersten Tagen kann dieses Prinzip unterstützen. Bei komplexen chronischen Rückenschmerzen wird eine monodisziplinäre Therapie – egal ob eher somatisch oder psychologisch orien- tiert – dem komplexen Krankheitsbild nicht gerecht (2).
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 2467–2468 [Heft 38]
Literatur
1. Hildebrandt J: Kosten und Nutzen differentieller Thera- pieprogramme. In: Chronischer Rückenschmerz – Wege aus dem Dilemma; (Hrsg) v. Pfingsten M, Hildebrandt J.
Bern. Huber 1998: 216–232.
2. Hildebrandt J: Behandlungskonzepte beim chronischen Rückenschmerz. Ther Umschau 1999; 56: 455–459.
3. Klaber-Moffett et al.: Randomized controlled trial exer- cise for low back pain. Br Med J 1999; 319: 279–283.
4. Malmivaara A et al.: The treatment of acute low back pain. N Engl J Med 1995; 332: 351–355.
5. Mayer TG, Gatchel RJ: Functional restoration for spinal disorders. Philadelphia: Lea & Febiger 1998.
6. Pfingsten M: Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus dem Göttinger Rückenintensivprogramm. In: Radandt S, Grieshaber R, Schneider W, (Hrsg): Prävention von ar- beitsbedingten Gesundheitsgefahren und Erkrankun- gen. Leipzig: Monade 1998: 262–284.
7. Pfingsten M: Was können psychologische Erkenntnisse zur Behandlung von Rückenschmerzen beitragen ? Or- thopädische Praxis 1999; 35, 288–296.
8. Seeger D: Workhardening – eine Kombination aus Rückenschule, Ergonomie, Training und Koordinations- schulung zur realistischen Reintegration in Alltag und Arbeit für Arbeitnehmer mit chronischen Rücken- schmerzen. Orthopädische Praxis 1999; 35: 297–307.
9. Teasell RW, Harth M: Functional restoration – revoluti- on or fad ? Spine 1996; 21: 844–847.
10. Waddell G et al.: Systematic reviews of bedrest and ad- vice to stay active for acute low back pain. Br J Gen Pract 1997; 47: 647–652.
Anschrift für die Verfasser:
Dipl.-Psych. Dr. rer. biol. hum. Michael Pfingsten Zentrum Anaesthesiologie
Rettungs- und Intensivmedizin Schwerpunkt Algesiologie Ambulanz für Schmerzbehandlung Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen
Bei der chinesischen Kräuter-Nephro- pathie handelt es sich um eine progre- dient verlaufende renale Fibrose, die bei Patienten nach Einnahme von be- stimmten Diät-Pillen auftritt. Dabei handelt es sich um Diät-Präparate, de- nen zwischen 1990 und 1992 bei der Herstellung versehentlich das nephro- toxische und karzinogene Kraut Ari- stolochia fangchi zugesetzt worden war.
Die Zufallsdiagnose eines Urothel- karzinoms bei einem nierentransplan- tierten Patienten mit dieser Erkran- kung führte dazu, bei weiteren Patien- ten nach dieser Krankheitsentität zu fahnden. 39 Patienten mit terminaler, dialysepflichtiger Niereninsuffizienz als Folge der chinesischen Kräuter- Nephropathie wurden prophylaktisch nephrektomiert. In der histopatholo- gischen Aufarbeitung zeigte sich bei 18 Fällen (Prävalenz 46 Prozent) ein Urothelkarzinom, weitere 19 Patien- ten wiesen Dysplasien des Urothels auf, nur bei zwei Patienten fanden sich keine pathologischen Veränderungen der ableitenden Harnwege. Durch hi- stopathologische DNA-Analyse ließen sich in allem dysplastischen oder kar- zinomatösen Gewebe DNA-Bestand- teile des Krautes Aristolochia nach-
weisen. acc
Nortier JL et al.: Urothelial carcinoma associated with the use of a chinese herb (Aristolochia fangchi). N Eng J Med 2000; 342: 1686–1692.
Dr. Nortier, Nephrology Department, Hospital Erasme, Universite Libre de Bruxelles, Route de Lennik, 808, B-1070 Brüssel, Belgien.
Urothelkarzinom durch chinesische Heilkräuter
Referiert