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Die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee in den Jahren zwischen 1920 und 1933 war ein integraler Bestandteil der deutsch-sowjetischen Beziehungen jener Zeit

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Dokumentation Manfred Zeidler

Luftkriegsdenken und Offiziersausbildung an der Moskauer Zukovskij-Akademie im Jahre 1926.

Die Gruppe Fiebig und die sowjetischen Luftstreitkräfte

I.

Die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee in den Jahren zwischen 1920 und 1933 war ein integraler Bestandteil der deutsch-sowjetischen Beziehungen jener Zeit

1

. Daß die Junkerswerke von 1922 bis 1926 bei Moskau ein Zweigwerk für Militärflugzeuge unterhielten, daß die Reichswehr 1926 Munitionslieferungen aus der Sowjetunion bezog und ab Mitte der 20er Jahre Übungsstationen für Flugzeuge (Li- pezk), Panzer (Kazan') und Gas (Sichany bei Vol'sk) betrieb, gehört ebenso wie der Of- fiziersaustausch beider Armeen zu den weitgehend bekannten Seiten dieser Koopera- tion. Inwieweit jedoch deutsche Militärs seinerzeit in das sowjetische militärische Den- ken detailliert Einblick gewinnen, gegebenenfalls sogar Einfluß darauf nehmen konn- ten, ist bislang meist ein Gegenstand von Spekulationen gewesen

2

. Die hier wiederge- gebenen Dokumente handeln von der Tätigkeit der sogenannten »Gruppe Fiebig«, ei- nem Kreis von ursprünglich sieben deutschen Fliegerfachleuten des Ersten Weltkriegs, die sich im Sommer 1924 für zwei Jahre als Fachberater zum Dienst in den sowjeti- schen Luftstreitkräften verpflichteten.

Die Bedeutung des vorliegenden Materials liegt nicht so sehr in seinem Aussagewert über die damaligen deutsch-sowjetischen Militärbeziehungen im Fahrwasser der Ra- pallopolitik als vielmehr in den einzigartigen Einblicken, die die deutschen Fachleute durch ihre Beratertätigkeit in das damalige sowjetische Militärluftwesen gewinnen konnten. So gesehen sind die wiedergegebenen Dokumente in erster Linie Quellen zur Geschichte der Roten Armee im allgemeinen und ihrer Luftstreitkräfte, der »Roten Luftflotte«

3

, im besonderen. Neben Einblicken in das sowjetische Land- und Luft- kriegsdenken um die Mitte der 20er Jahre geben sie einen Eindruck von den Proble- men der militärischen Orientierungssuche, der Offiziersausbildung und dem konflikt- reichen Spannungsverhältnis von Revolution und Tradition innerhalb der an Jahren damals noch jungen Streitkräfte des Sowjetstaats.

Die Vorgeschichte der »Gruppe Fiebig« führt zurück in das Jahr 1923. Zu den gehei- men Rüstungsmaßnahmen, die das Reichswehrministerium nach dem französischen Ruhreinmarsch vom Januar 1923 aus den Mitteln des »Ruhrfonds« eingeleitet hatte, gehörte auch die Bestellung von 100 Kampfflugzeugen bei den Fokker-Werken in Holland, deren Auslieferung ursprünglich für das Jahr 1924 erwartet wurde

4

. Noch im Oktober 1923 ging der ehemalige Chef des Stabes des deutschen Feldflugwesens im Ersten Weltkrieg Oberst a. D. Hermann von der Lieth-Thomsen erstmals nach Mos- kau, »um im Einverständnis mit Rosenholz [Rozengol'c] Einblick in die russische Luft- flotte und Luftindustrie zu bekommen«

5

. Wichtigstes Ergebnis von Thomsens Mission war die sowjetische Zusage, die bestellten Fokker-Maschinen in Petrograd zu über- nehmen, um sie, fernab der alliierten Militärkontrolle, auf sowjetischem Boden zur deutschen Verfügung zu halten

6

.

Ohne daß eindeutige Quellenbelege dafür vorlägen, ist zu vermuten, daß die Entsen-

dung der deutschen Beratergruppe einige Monate später als eine erste Gegenleistung

für dieses sowjetische Entgegenkommen gedacht war. Im Mai 1924 waren erneut zwei

Offiziere des Reichswehrministeriums — Major Herbert Fischer, Chef der von Seeckt

Ende 1920 innerhalb des Truppenamts eingerichteten Sondergruppe Rußland, und

127 M G M 1/87 Hauptmann Vogt vom Waffenamt — zu Besuch bei Rozengol'c in Moskau

7

. Kurze

(2)

Zeit später machte sich Hermann von der Lieth-Thomsen erneut auf den Weg dorthin, um für die nächsten vier Jahre als »Oberingenieur Hermann Lieth« zusammen mit Ma- jor a. D. Oskar Ritter v. Niedermayer als seinem Stellvertreter die »Zentrale Moskau«

in der Ulica Vorovskogo Nr. 48 zu leiten

8

.

Die Aufzeichnung des deutschen Botschafters Graf v. Brockdorff-Rantzau vom 9. Juni 1924 (Dok. 1) beleuchtet die diplomatischen Zusammenhänge des Frühjahrs 1924. In jenen Monaten stand das deutsch-sowjetische Verhältnis ganz im Zeichen des schwe- ren Zwischenfalls um die sowjetische Handelsvertretung in Berlin vom 3. Mai des Jah- res und der Bemühungen um dessen gütliche Beilegung

9

. In der Unterredung Brock- dorff-Rantzaus mit Trockij erwähnte der deutsche Botschafter gegenüber dem sowje- tischen Kriegskommissar die Ankunft Thomsens in der sowjetischen Hauptstadt. Die- ser, so Brockdorff, beabsichtige, »auch über das Engagement von 10 deutschen Flieger- offizieren mit Rosenholz zu verhandeln«. Man habe, so der deutsche Botschafter wei- ter, »befremdenderweise, obgleich die Herren unsere besten Flieger seien, bei 6 oder 7 allerlei Anstände gemacht, sie in den hiesigen Dienst zu übernehmen«. Am 23. Juli tele- graphierte Staatssekretär v. Maltzan vom Auswärtigen Amt an Brockdorff, vier der deutschen Offiziere seien seit 14 Tagen abreisebereit, besäßen aber trotz mehrfacher Anfragen in Moskau noch immer keine Einreisevisa

10

. Bis zum 1. August waren die Vi- sa offenbar erteilt. Die diplomatische Beilegung des Zwischenfalls um die sowjetische Handelsvertretung am 29. Juli beseitigte die letzten politischen Hindernisse

11

. Die sieben Fliegerfachleute des Reichsheeres nahmen im Laufe der zweiten Jahreshälf- te 1924 ihre Tätigkeit als Berater und Instrukteure bei verschiedenen Stellen der Roten Luftflotte auf. Der offiziellen Verabschiedung aus der Reichswehr folgte die äußerli- che Integration in die sowjetischen Luftstreitkräfte durch das Tragen sowjetischer Uniformen und die formale Einbeziehung in die militärische Hierarchie (Dok. 9). Ein Befehl des Chefs der Luftflotte vom 11. Mai 1925 regelte ihre Verwendung und ver- schaffte ihnen die notwendigen Einblicke für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Fast alle verlängerten nach dem ersten Jahr ihre Einzelverträge um ein weiteres Jahr

1 2

bis zur Auflösung der Gruppe im Frühjahr 1926. Die Aufgabe der Gruppenmitglieder bestand darin, Einblick zu nehmen in die Organisation eines modernen militäri- schen Luftfahrtwesens und der sowjetischen Luftflotte neben ihrem theoretischen Wissen die deutschen Luftkriegserfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zur Verfügung zu stellen. Das war ein klarer Verstoß gegen Artikel 179 des Versailler Vertrages, der es Deutschland verbot, militärische Missionen in fremde Länder zu entsenden, und es verpflichtete, eigene Staatsbürger daran zu hindern, »in die Armee, Marine oder Luft- streitkräfte irgendeiner fremden Macht einzutreten oder einer solchen Armee, Marine oder solchen Luftstreitkräften [ . . . ] militärische, seemännische oder Luftfahrtausbil- dung zu erteilen«

13

.

Aus einem Brief Hermann von der Lieth-Thomsens (Dok. 3) ergibt sich die Einzelver- wendung der Gruppenmitglieder: Leutnant Hans Johannesson vom 3. preußischen Reiterregiment arbeitete bei verschiedenen militärischen Luftfahrtstellen, insbesondere beim wissenschaftlich-technischen Komitee (WTK) der Luftstreitkräfte unter dessen Chef Linov bis zu dessen Verhaftung Ende 1925 im Zusammenhang mit dem Junkers- Bestechungsfall

14

.

Drei technische Spezialisten (Diete, Droste und Rath) fanden Verwendung bei der Be- gutachtung im Bereich von Konstruktion und Fertigung, bei der Motorenprüfung und Werkstätteneinrichtung. Werkmeister Droste baute auf dem Moskauer Chodynka- Flugfeld einen großen Motorenprüfstand, den die Russen in mehreren Exemplaren nachbauten

15

.

Ein weiteres Mitglied der Gruppe, Hasenohr, war seit Herbst 1924 der Spezialschule

für Schieß- und Bombenflugwesen in Serpuchov als Berater zugeteilt

16

. Hasenohr war

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der Einzige aus der deutschen Beratergruppe, der mit seinen sowjetischen Arbeitge- bern in Konflikt geriet. Das unvermittelte Erleben sowjetischer Wohnverhältnisse in Serpuchov (Zimmer von 4,5 qm mit 2 Schlafpritschen) führte zu unbedachten politi- schen Äußerungen, die von den Sowjets übel vermerkt wurden und die Zusammenar- beit mit ihm stark belasteten (Dok. 2)

17

. Zur Gruppe gehörte anfänglich noch ein drit- ter aktiver Offizier des Reichsheeres, Oberleutnant Schroeder, der aber offensichtlich schon nach dem ersten Jahr aus seinem Vertrag ausschied

18

.

Die durch das vorliegende Material bei weitem am besten dokumentierte Tätigkeit in- nerhalb der Gruppe hatte der damalige Rittmeister in der 2. (Preußischen)Fahrabtei- lung Martin Fiebig

19

. Anfangs war er, wie Johannesson, dem wissenschaftlich-techni- schen Komitee unterstellt. 1925 beobachtete er die praktische Fliegeroffiziersausbil- dung der Luftstreitkräfte in den Sommerlagern der Moskauer Luftkriegsakademie in Smolensk und Vitebsk. Daneben erarbeitete er eine Studie über die Bedeutung und die praktische Durchführung einer Luftschutzorganisation und schrieb eine Ausarbeitung über die Einrichtung einer Nachtflugstrecke Smolensk—Moskau.

Seine vorrangige Aufgabe sah Fiebig darin (vgl. Dok. 9), »die Luftflotte davon zu über- zeugen, daß endlich einmal auch für die Radio-Ausrüstung etwas Grundlegendes ge- tan würde«. Obwohl Fiebig von den militärischen Zentralstellen über die Radioausstat- tung der Truppe mit Erd- und Bordgeräten fast gänzlich im unklaren gelassen wurde, gelang es ihm, sich bei verschiedenen Kommandierungen zur Moskauer Radioschule, zur Leningrader Kampfbeobachterschule und während der Sommerausbildung der Luftwaffenakademie in Weißrußland ein eigenes Bild zu verschaffen. Nach seinen Ein- drücken war außer einzelnen 10 Watt-Kovalenkov-Telephoniesendern mit bescheide- nen technischen Resultaten an modernem Flugzeugbordgerät fast nichts vorhanden;

»komplette Erdstationen habe ich nirgends gefunden. Es fehlt also in der Luftflotte heute so gut wie ganz jede Radio-Verbindung zum Flugzeug.«

Im Zuge dieser Erfahrungen konzentrierte sich Fiebig auf die Propagierung eines neu- en deutschen 70 Watt-Bordsenders von Telefunken, hob gegenüber den Russen die be- sondere Rolle des Sprechfunks für die artilleristische Führung hervor und betonte die Notwendigkeit, eine eigene Artilleriebeobachter-Schule einzurichten. Trotz anfäng- lich gegebener Zusagen gelang es ihm jedoch nicht, zu praktischen Radioversuchen herangezogen zu werden. Auch ansonsten war die Bilanz der eigenen Arbeit auf dem Radiogebiet höchst bescheiden. Trotz eines Berichts an den Chef der Roten Luftflotte mit einer ungeschminkten Analyse der Situation und Vorschlägen zur Abhilfe war die erkennbare Resonanz bei den sowjetischen Stellen sehr gering. »Alles umsonst; es ist bisher nichts erfolgt, was eine Auswirkung meiner Tätigkeit erkennen ließe«, notierte Fiebig resigniert.

II.

Mit dem Befehl des Chefs der Luftflotte vom 11. Mai 1925 bekam Fiebig eine neue Verwendung. Er wurde für das Winterhalbjahr 1925/26 als ständiger Gutachter und Berater der Kommandeursfakultät der Moskauer Zukovskij-Akademie zugewiesen;

zweifellos die interessanteste Tätigkeit innerhalb der deutschen Beratergruppe. Neben

der allgemeinen Kriegsakademie (Frunze-Akademie) in Moskau, der Militärpoliti-

schen (Tolmacev), der Ingenieur-, Marine- und Militärmedizinischen Akademie, die

letzteren damals alle noch in Leningrad, war die Zukovskij-Akademie eine von den da-

maligen sechs Militärhochschulen des Landes. 1922 durch die Umbildung des drei Jah-

re zuvor von Professor Zukovskij gegründeten Moskauer Luftfahrttechnikums in eine

Militärakademie entstanden, war sie bis kurz vor Kriegsausbruch 1941 Ausbildungs-

(4)

Zentrum der Ingenieur- wie der Kommandeurkader der sowjetischen Luftstreitkräfte zugleich2 0. In der Anfangszeit der sowjetischen Luftwaffe legte man noch W e r t auf die Zusammenfassung der taktischen und technischen Ausbildung unter einheitlicher Lei- tung. Der technische Ausbildungsgang umfaßte fünf, der taktische drei Jahre. U n t e r - gebracht im malerisch-klassizistischen Bau des »Petrovskij dvorec« an der Leningrader Chausee gegenüber dem Chodynka-Feld im N o r d e n Moskaus, hatte die Akademie im April 1925 die ersten 32 Fachoffiziere in die Streitkräfte entlassen (1926 gehörte zu den Absolventen der Flugzeugkonstrukteur Sergej Il'jusin)21. N e b e n der K o m m a n - deurausbildung hatte sie auch militärwissenschaftliche Aufgaben wie die Erarbeitung der Einsatzvorschriften und der lufttaktischen Führungsgrundsätze f ü r die Luftstreit- kräfte.

Fiebigs Aufgabe dort bestand darin, im Rahmen des regulären Ausbildungsbetriebs die deutschen Kriegserfahrungen über den Einsatz von Fliegern und die Arbeit und O r g a - nisation von Luftstäben zu vermitteln. Seinem formalen Status nach war Fiebig Mit- glied des Lehrkörpers der Akademie, dabei stand er in engem K o n t a k t mit dem damali- gen ersten Dozenten f ü r Luftstrategie und Gehilfen des Chefs der Roten Luftflotte Sergej Mezeninov2 2 und nahm regelmäßig an den Besprechungen des Lehrstoffs durch die Lehrer teil. Eine eigene H ö r e r g r u p p e hatte er nicht, sondern beteiligte sich überall

»mit Rat und Tat« am Unterricht: »Wo Zweifel auftauchten, griff ich entweder selb- ständig ein oder wurde dazu aufgefordert. Für die Schlußbesprechung jeder Aufgabe gab ich kurz meine Bemerkungen.« Doch gelang es Fiebig entgegen seinen Wünschen nicht, zur Ausarbeitung strategischer und taktischer Übungsaufgaben herangezogen zu werden, auch war keine Einflußnahme auf die Unterrichtsgestaltung oder Lehrplä- ne der Akademie möglich (Dok. 9).

So beschränkte sich die Tätigkeit neben dem Unterricht auf theoretische Ausarbeitun- gen zu diversen Luftkriegsfragen und zur Verbesserung des Ausbildungssystems, die, vom W T K übersetzt, der Führung der Luftflotte zugeleitet wurden.

Fiebigs Arbeit bescherte ihm vielfältige Einblicke in den Unterrichtsbetrieb. D a nur fünf M o n a t e f ü r die theoretische Winterausbildung zur V e r f ü g u n g standen, mußte im Stoff sehr schnell vorangeschritten werden. Dadurch waren, gemessen an der durch- schnittlichen Qualität der H ö r e r , die Anforderungen im allgemeinen zu hoch (Dok. 4).

Obwohl sich die Führung darüber im klaren war, verlangsamte man das Ausbildungs- tempo nicht. D e r dramatische Mangel an qualifizierten Stabsoffizieren schien den Verantwortlichen keine andere Wahl zu lassen, als mit aller K r a f t darauf hinzuarbei- ten, daß die H ö r e r eines Anfängerjahrgangs spätestens nach drei bis vier Jahren in die vorgesehenen Stabsstellen einrücken konnten.

So erschien die Akademie dem deutschen Beobachter in diesen Jahren als eine perso- nelle »Schnellpresse im wahrsten Sinne des Wortes« (Dok. 4). Die Lehrer hatten in al- ler Regel keine leichte Stellung. Klassenarbeiten liefen in der »vollkommen ungezwun- genen Form eines Frage- und Antwortspiels« ab. Klausuren unter Zeitlimit waren so gut wie unbekannt, »die H ö r e r würden es mit ganz wenigen Ausnahmen nicht fertig bekommen«. Phantasie und Ideenreichtum der Schüler kontrastierten mit ihrer im all- gemeinen mangelhaften Vorbildung (»die Skizzen sind recht roh gezeichnet«), ein ge- stuftes Notensystem war unbekannt. »Befriedigt oder nicht befriedigt«, letzteres ganz selten, lautete die Benotung. Die Disziplin an der Akademie war »nicht besonders«.

Rügen wegen versäumter Lehrstunden (»wenn man überhaupt am T a g e noch er- scheint«) gab es kaum. T r o t z geharnischter Erlasse von K o m m a n d e u r Lazarevic2 3 ge- lang selten einmal der pünktliche Beginn einer Lehrveranstaltung. »Die Lehrer«, no- tierte Fiebig, »besonders die für Erdtaktik, sind auch noch an der allgemeinen Kriegs- 130 akademie [Frunze-Akademie] tätig, alles alte Generalstabsoffiziere; die Lehrer f ü r

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Lufttaktik stammen bis auf geringe Ausnahmen aus der alten zaristischen Fliegertrup- pe« (Dok. 4).

Große Unklarheit herrschte in den lufttaktischen Anschauungen, von einer einheitli- chen Luftkriegsdoktrin konnte keine Rede sein, »zumal bei einem solchen Gewirr von Ansichten wie hier, w o noch nichts feststeht, alles noch viel mehr wie bei anderen Luft- flotten unklar, keine Bearbeitung des Lehrstoffs vorhanden ist« (Dok. 9). Bei der Aus- arbeitung und D u r c h f ü h r u n g von Übungslagen kam es stets zu unendlichen Diskussio- nen zwischen den Lehrern, um wenigstens eine gewisse Einheitlichkeit der Anschauun- gen zu wahren, doch auch dabei »ohne Klarheit und Führung«. »In der Hauptsache begründet man seine Ansichten auf die Erfahrungen des allein seligmachenden Bürger- kriegs«, klagte Fiebig, »läßt sich davon aber nicht überzeugen, daß ein wirklicher Krieg ein absolut anderes Gesicht hat«. Starke Beharrungstendenzen, gepaart mit Überheblichkeit und einem generellen Mißtrauen gegenüber Ausländern, machten die Arbeit nicht eben einfacher, »denn man trennte sich nur schwer von seinen vorgefaßten Meinungen«. Fiebigs Urteil über seine Arbeit war überwiegend negativ, insbesondere wegen seiner zu schwachen Stellung an der Akademie und der relativen Zufälligkeit und Zusammenhanglosigkeit der eigenen Tätigkeit. Ebenso hatte er keinen Einfluß auf die Verwertung seiner Arbeitsergebnisse durch die Russen.

T r o t z alledem blieben die einzigartigen Einblicke, die Fiebigs Tätigkeit den Flieger- fachleuten des Berliner Reichswehrministeriums in Lehrbetrieb, Inhalte und U n t e r - richtsorganisation der sowjetischen Luftkriegsakademie sowie in das strategische und lufttaktische Denken der Roten Armee vermittelte. Als charakteristisch f ü r das U n t e r - richtsprogramm eines Wintermonats mag der Lehrplan für den J a n u a r 1926 gelten (Dok. 8). Insgesamt 20 Unterrichtstage mit zusammen 240 Lehrstunden entfielen etwa zu gleichen Teilen auf Unterrichtsstunden (Vorlesungen, Seminare und Kurse) und nachbereitende Hausarbeit.

Das Ausbildungsprogramm verteilte sich auf die fünf Sektionen:

1. Strategie (allgemeine Strategie, Luftstrategie, Kriegsgeschichte und Militärgeogra- phie), geleitet von Sergej Lukirskij und Andrej Snesarev. D o z e n t e n waren u.a. Ser- gej Mezeninov, Aleksandr Lapcinskij und Dimitrij Karbysev2 4,

2. Organisation und Stabsarbeit, unter der Leitung von 1.1. Scolokov, mit den D o z e n - ten Nikolaj Varfolomeev und Nikolaj Sulejman2 5,

3. Luftfahrttechnik; diese Sektion leitete der erste Kommandeur der Akademie in ih- ren Anfangsjahren 1922/23, Α. N . Vegener,

4. ein »sozialökonomischer Zyklus« unter dem Historiker Isaak Mine2 6, 5. Fremdsprachenkurse unter meist zivilen Fachlehrern.

Das Hauptgewicht der Ausbildung lag mit 102 Stunden (44%) bei der Strategie. Es folgten Stabsorganisation und Luftfahrttechnik mit 15 bzw. 22% aller Ausbildungs- stunden. 18 Stunden (7,5%) gehörten der politischen Schulung und 28 Stunden (11,5%) entfielen auf die Fremdsprachenausbildung.

Zentrales Lehrbuch im Fach allgemeine Strategie war Aleksandr Svecins »Strategija«

(1. Auflage Moskau 1923). Ergänzend benutzt wurden Leers27 »Strategija« (Teil 1—3, St. Peterburg 1885—1898), die »Lekcii po strategii« von Zajonckovskij und Gutor2 8 so- wie Übersetzungen von Clausewitz ( O vojne, russisch St. Peterburg 1902) und Erich v. Falkenhayns »Die Oberste Heeresleitung 1914—1916« (russisch: Verchovnoe K o m - andovanie 1914—1916 ν ego vaznejäich reSenijach, Moskau 1923).

Auffallend ist hier wie in fast allen anderen Fächern der Mangel an eigenen, d.h. sowje- tischen Lehrbüchern. D a ß gerade Aleksandr Svecins »Strategija« als zentrales Strate- gielehrbuch benutzt wurde, konnte im Sinne des Regimes bestenfalls als eine N o t l ö - sung gelten. Svecin, damals Lehrstuhlinhaber für Kriegsgeschichte an der Frunze-Aka- demie, war als Generalmajor der »alten Armee« der Protagonist jener Gruppe hochge-

(6)

bildeter zaristischer Generalstäbler, die sich auf Trockijs Initiative hin ab 1918 der Ro- ten Armee zur Verfügung gestellt hatten. Noch 1924 charakterisierte ihn ein vertrauli- cher Bericht des Politkommissars der Frunze-Akademie Muklevic als einen überzeug- ten Monarchisten

29

.

Als erklärter Schüler Leopold v. Rankes und besonders Hans Delbrücks

30

sah Svecin in der Gegenüberstellung von Vernichtungs- und Ermattungsstrategie (strategija sokru- ienija-strategija izmora) die Vorzüge der letzteren besonders für großflächige und wirtschaftlich unterentwickelte Staaten mit kleiner Friedensarmee und politisch stabi- lem Hinterland. Ermattungsstrategie hieß nach Svedin: Verzicht auf den einen, alles entscheidenden Schlag und Beschränkung auf eine Kette militärischer Aktionen mit begrenzten Zielen. Dabei kalkulierte sie die strategische Defensive bewußt ein und hielt durch einen flexiblen Rückzug die Beweglichkeit der Kriegführung aufrecht.

Weil gerade das westrussische Grenzgebiet ihm als ein Kriegsschauplatz erschien, der der Kampfform des strategischen Rückzugs besonders vorteilhafte Perspektiven eröff- nete, war für Svecin die Ermattungsstrategie die naturgegebene Kriegführungsdok- trin der Sowjetunion gegen einen überlegenen Gegner

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. Kurz gesagt: Svecins strate- gische Konzeption orientierte sich an den gegebenen, d.h. beschränkten wirtschaftli- chen und militärischen Möglichkeiten des Landes zu jener Zeit. Erst Anfang der 30er Jahre sollten sich parallel zur breiten Mechanisierung der Armee im Zuge der begin- nenden Industrialisierung die Verfechter der Vernichtungs- bzw. Niederwerfungsstra- tegie, angeführt von Tuchacevskij und Triandafillov

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, gegen Svecins Richtung durch- setzen.

Auch im Fach Luftfahrttechnik behalf man sich an der Akademie mit ausländischen Übersetzungen, so etwa mit dem damaligen amerikanischen Standardwerk über Flug- zeugmotore von Lionel Marks (Aviacionnye dvigateli, Moskau 1925)

33

.

Bei der Sektion für Organisation und Stabsarbeit stand die Durcharbeitung der provi- sorischen Felddienstordnung von 1925 (Vremenyj polevoj ustav RKKA) im Mittel- punkt

34

. Zum Vergleich wurden die polnische und die englische Felddienstvorschrift sowie die eigene 1925 erschienene »Vorläufige Vorschrift für den Einsatz der Luft- streitkräfte« (Vremenoe nastavlenie po boevomu primeneniju W S ) studiert. Als Lehr- buch verwendete man Varfolomeevs »Technik des Stabsdiensts« (Technika stabnoj sluzby, Moskau 1924).

Auf kriegsgeschichtlichem Gebiet dominierte die Beschäftigung mit den Kriegsschau- plätzen des Ersten Weltkriegs in West und Ost (Lehrbuch: Α. M. Zajonckovskijs »Mi- rovaja Vojna 1914—1918 gg.«, Moskau 1924), daneben ebenso die Kriege von 1866 und 1871.

Beim Fremdsprachenunterricht lasen und übersetzten die fortgeschrittenen Schüler- gruppen Fachaufsätze aus dem deutschen Journal »Luftfahrt«

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oder aus »La France Militaire«. Zwar liegen hinsichtlich des Interesses an den verschiedenen Fremdspra- chen für die Zukovskij-Akademie keine Angaben vor, doch mögen dazu die Ver- gleichszahlen der Frunze-Akademie einen repräsentativen Eindruck geben. Dort lern- ten 1925 40% der Hörer Englisch, 30% Deutsch, 20% Französisch und 10% Polnisch oder Rumänisch

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.

Im Politunterricht dominierten (selbstverständlich) diverse Werke Lenins, daneben las man auch Schriften Stalins (Istoriceskie korni Leninizma, Moskau 1924)

37

sowie ver- schiedene historische Studien Prokrovskijs. Daß noch Anfang 1926 Schriften Zinovevs innerhalb der Armee studiert wurden, ist insofern interessant, als bereits im Sommer des Jahres der Kampf gegen die »Linksopposition« mit der Ablösung des stellvertreten- den Kriegskommissars Lasevic und des Marinechefs Zof auch auf die Armeeführung übergriff.

Ein Wort noch zu den Lehrkräften. Wie Fiebig bemerkte, stammten sie fast durchweg

(7)

aus dem Offizierkorps der zaristischen Armee. Nicht wenige gehörten sogar zur alten Generalität. So Fakultätschef Novickij3 8, der Leiter des Strategiezyklus Lukirskij, der bekannte Militärgeograph und Orientalist Snesarev oder Nachschubspezialist Su- lejman. Ihr W e g auf die Seite der Sowjetmacht während des Bürgerkriegs verlief z.T.

recht unterschiedlich. W ä h r e n d etwa Michail Stroev vom Lehrstuhl f ü r Luftstrategie als früherer H a u p t m a n n und Generalstabsabsolvent von 1914 schon 1919 Chef der Luftstreitkräfte in Budennys legendärer 1. Reiterarmee war, kämpfte sein Lehrerkolle- ge vom Strategielehrstuhl, Ex-Oberst Bazarevskij noch in der Kolcak-Armee3 9. Bei dem großen Bildungsgefälle innerhalb des zaristischen Offizierkorps war es dem So- wjetstaat besonders wichtig, für den Dienst an den Militärakademien dessen mit Ab- stand bestausgebildetsten Teil, die früheren Generalstabsoffiziere, zu gewinnen. Z u m Generalstabskorps gehörten früher jene Offiziere, die den vollständigen Lehrgang der

»Kaiserlich Nikolaj'schen Generalstabsakademie« absolviert und anschließend im Ge- neralstab gedient hatten. Ihre Namen erschienen vor 1914 alljährlich in den »Listen des Generalstabs« (Spisok Generalnogo Staba)4 0. Diese Gruppe beherrschte noch bis weit in die 30er Jahre hinein die Militärakademien wie die militärtheoretische Publizistik des Landes.

III.

Im Januar 1926 stand im Mittelpunkt des Unterrichts in Luftstrategie die Behandlung eines umfangreichen strategischen Kriegsspiels im polnisch-rumänischen Grenzgebiet, das als »strategische Aufgabe Nr. 1« den H ö r e r n der Kommandeursfakultät zur Durcharbeitung vorgelegt wurde. Angenommen wurde ein Kriegsfall f ü r die M o n a t e Juni/Juli des Jahres 1926. Das militärische Planspiel, dessen Unterlagen (insgesamt 18 Anlagen) Fiebig nach Berlin übersandte, vermittelt bemerkenswerte Einblicke in das strategische Denken wie in das Mobilisierungssystem der Roten Armee in der Mitte der 20er Jahre.

Zunächst sei die angenommene politische Ausgangslage skizziert (Dok. 6). U n t e r dem D r u c k Englands und einer in Polen an die Macht gelangten »Militärclique« erklärt die polnische Regierung wegen angeblicher Verstöße gegen geltende Verträge der So- wjetunion den Krieg4 1. Rumänien schließt sich als Bundesgenosse der Kriegserklärung Polens an. Unter der Rubrik »Stimmung der Bevölkerung« vermerkt das Planspiel die folgenden Annahmen: Die westukrainische Grenzbevölkerung schwankt in ihrer H a l - t u n g — j e nach Nationalität und sozialem Milieu — beträchtlich. Das städtische Prole- tariat gilt, ungeachtet der militärischen Lage, als unbedingt loyal. Bei der Landbevölke- rung hingegen werden bei einem vorübergehenden Rückzug der eigenen Streitkräfte schnell Zweifel über den W e r t der Roten Armee auftreten. W ä h r e n d die wolhynien- deutsche Bevölkerung sich überwiegend indifferent gegenüber den Kriegsparteien ver- hält, zeigen die polnischen Bevölkerungsteile unter dem Einfluß katholischer Priester (ksendzy) offene Feindseligkeit. In die mit Beginn der Kampfhandlungen einsetzenden Flüchtlingsströme sind viele polnische und rumänische Agenten eingeschleust. Die ört- lichen O r g a n e der G P U und die Spionageabwehr der Truppenverbände greifen durch

»energische Arbeit« in das chaotische Geschehen ein und führen umfangreiche V e r h a f - tungen durch. Gleichzeitig verstärken die örtlichen Parteiorgane ihre Propagandatä- tigkeit, insbesondere unter der Dorfbevölkerung. V o r allem die jüdische Bevölkerung reagiert z.T. panikartig auf die polnische Invasion. Ein nennenswerter Einfluß der geg- nerischen Propaganda auf die sowjetischen Truppen gelingt nicht. Die feindliche Agi- tation arbeitet vorwiegend mit den Parolen vom kriegerischen Imperialismus der UdSSR, der Unterdrückung der Nationalitäten und der Losung von der »Befreiung der Ukraine«.

(8)

Die Bevölkerungsstimmung beim Gegner wird wie folgt angenommen: Im Falle Polens ist die Einschätzung eher zurückhaltend. Der Krieg gilt bei den proletarischen und halbproletarischen Schichten des Landes wenigstens als nicht populär (Erfahrungen von 1920?). Weitaus optimistischer sind die Annahmen hinsichtlich Rumäniens. Das rumänische Proletariat sowie alle Bevölkerungsschichten Bessarabiens begrüßen den Krieg als die Chance, sich vom »Joch der Adelsherrschaft« zu befreien.

D e r U m f a n g der vorbereiteten Evakuierungsmaßnahmen ist beträchtlich. Neben allen Industrieausrüstungen soll auch die Masse des Viehbestandes weggeführt werden, Dienststellen und Behördenarchive werden verlagert. Etwa 10 000 Funktionsträger aus dem Partei- und Staatsapparat, ζ. T . auch deren Angehörige, verlassen Wolhynien und Podolien. Die Untergrundarbeit wird vorbereitet.

Das militärische Szenario (Dok. 5) beschreibt den polnisch-rumänischen Aufmarsch an der sowjetischen Westgrenze, der sich von Svencjany (polnisch: Swi§ciany) n o r d - östlich von Vil'na über gut 1 500 km bis nach Galac im Süden Bessarabiens erstreckt.

Zwei »blaue« ( = polnische) Armeen sind, die 1. nördlich, die 2. südlich des »Poles'e«, dem unpassierbaren Wald- und Moorgebiet der Pripjat'-Sümpfe, aufmarschiert. Eine

»schwarze« ( = rumänische) Armee verlängert diesen Aufmarsch von Tschernowitz (russisch: Cernovcy) nach Süden bis ins Mündungsgebiet der Donau. D e r Schwer- punkt der gegnerischen Konzentrierung liegt eindeutig bei der 2. polnischen Armee südlich des Poles'e, die auf Kiev und das obere Dnjepr-Becken zielt. Über den nördli- chen, weißrussischen Kriegsschauplatz, hier »Westfront« genannt, wird so gut wie nichts ausgesagt, auch die rumänische Front, der gegenüber sich die sowjetische »Süd- armee« konzentriert, wird offenbar als weitgehend passiv angenommen. Allein auf den ukrainischen Frontabschnitt konzentriert sich im Folgenden das Geschehen.

Nach der Kriegserklärung und einer ca. zweiwöchigen Mobilmachungsphase über- schreiten Truppenverbände der 2. »blauen« Armee die sowjetische Grenze auf einer et- wa 250 km langen Linie zwischen Rakitnoe und Kamenec-PodoPsk. D e m Gegner ge- lingen durch seine kavalleristischen Vorhuten schnelle Anfangserfolge mit der Einnah- me von Izjaslavl' und Kamenec-Podol'sk. W ä h r e n d der gesamten zweiten Junihälfte vollzieht sich auf sowjetischer Seite der Aufmarsch der ukrainischen Armee in Stärke von sechs Schützenkorps längs einer 250 km langen Linie zwischen Korosten' und Vapnjarka in 150—180 km Entfernung von der Staatsgrenze. Zwei verstärkte Schüt- zenkorps (I. und IV.) übernehmen an den Flanken die Deckung des Aufmärsche und der anschließenden Entfaltung der Armee. Selbst die vordersten Sicherungstruppen verbleiben in ihrer Masse noch ca. 75 km hinter der Grenze. Erst in der vierten W o c h e nach der Kriegserklärung und 14 Tage nach Angriffsbeginn ist der eigene Aufmarsch abgeschlossen. Am 26. Juni soll die Masse der eigenen Truppen zum Gegenangriff übergehen. Hauptziel ist die Zerschlagung (porazenie) der gegnerischen Streitkräfte und die Gewinnung der Linie Rovno-Ternopol'-Bucac (polnisch: Rovne-Tarnopol- Buczacz) etwa 50 km tief auf polnischem Gebiet, dem Ausgangspunkt des feindlichen Angriffs. V o n dort aus soll als nächstes Ziel die Linie Kovel'-L'vov (Lemberg) ange- strebt werden.

Die Betrachtung des militärischen Gesamtablaufs ergibt ein Eröffnungszenario, das ganz dem konventionellen Rahmen des Ersten Weltkriegs und des Krieges von 1920 entspricht. Einer vorhergehenden Kriegserklärung mit anschließender Mobilisierungs- phase folgt der eigene Aufmarsch unter T r e n n u n g von Hauptarmee und Deckungs- truppen. Eine solche deutlich defensive Eröffnungsstrategie mit einer weitgehend re- aktiven Rolle der eigenen Streitkräfte in der Anfangsphase entsprach dem strukturellen Charakter der Roten Armee unter den Bedingungen des »gemischt-territorialen Sy- stems« im Zuge der Frunzeschen Militärreform von 1924/25. Als eine nur teilmobili- 134 sierte Armee bedurfte sie vor dem Kriegseintritt einer Mobilmachungsphase. 26 stets

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einsatzbereite Kaderdivisionen wurden ergänzt um eine Milizkomponente von 36 Ter- ritorialdivisionen (Stand am 1. O k t o b e r 1925)42, die erst mobil gemacht werden muß- ten, wenngleich der ukrainische Militärbezirk wegen seiner Grenznähe einen höheren Anteil an Kaderverbänden besaß, als es dem Durchschnitt der Armee entsprach4 3. Zwei wichtige politische Erkenntnisse vermittelt das Kriegsspiel des Jahres 1926: Im Falle eines dem Lande aufgezwungenen Krieges sollte der militärische Gegenschlag, soweit irgend möglich, nicht auf das eigene Staatsgebiet beschränkt bleiben, sondern die Grenzen des RigaerVertrages von 1921 überschreiten und gegebenenfalls die Cur- zonlinie von 191944 (Vormarschziel: Kovel'-L'vov) anstreben.

Eine militärische Zerschlagung Polens wie im Sommer 1920 war offensichtlich in den militärischen Planungen des Jahres 1926 kein erklärtes Ziel mehr.

O h n e an dieser Stelle allzusehr das Jahr 1941 im Blick zu haben — neben den doch zu unterschiedlichen Dimensionen galt zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine andere so- wjetische Militärdoktrin — sind dennoch gewisse Grundmuster der militärischen Aus- gangslage des Sommers 1941 wiedererkennbar. Dazu gehören etwa die Bedeutung der Pripjat'-Region als Scheidelinie der Operationsgebiete, die vorbereiteten Evakuie- rungsmaßnahmen und die auffällig starke Konzentrierung der sowjetischen Streitkräf- te in der Ukraine. Gerade letztere hielt man wohl wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeu- tung wie auch aufgrund historischer Erfahrungen f ü r militärisch besonders bedroht, w o hingegen anderen strategischen Richtungen bedeutend weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Den wichtigsten Platz nahm, gemäß den Aufgaben der Akademie, die Luftkriegfüh- rung innerhalb des Kriegsspiels ein. H i e r boten sich dem deutschen Berater auch die Hauptansatzpunkte für kritische Anmerkungen.

Das Luftkriegszenario gestaltete sich wie folgt (Dok. 7): Erst sechs Stunden nach der Kriegserklärung sind die Luftstreitkräfte auf ihren Friedensflugplätzen weit im Hinter- land abflugbereit. Anschließend erfolgt die verbandsmäßige Ü b e r f ü h r u n g auf Front- flugplätze im Aufmarschgebiet. Frühestens am 2. oder 3. Mobilmachungstag beginnt die Luftwaffe, ihre Feindtätigkeit aufzunehmen. Dabei beschränkt sie sich über den ge- samten Mobilmachungszeitraum auf reine Aufklärungs- und Sicherungsaufgaben; alle Luftaufklärungsmittel unterstehen in dieser Zeit den beiden Deckungskorps. Flieger- stäbe sowie ein eigener »Kofi« (Kommandeur der Flieger) f ü r den Kriegsschauplatz sind frühestens nach ein bis zwei Wochen einsatzbereit.

Fiebigs Urteil in der Schlußbesprechung fiel entsprechend heftig aus. Generell richtete sich seine Kritik gegen die »unmögliche Art der Mobilmachung der Luftstreitkräfte«.

Das stark am Douhetismus orientierte deutsche Luftkriegsdenken erfuhr seinerzeit in den von der Fliegergruppe im Truppenamt4 5 erarbeiteten »Richtlinien f ü r die Führung des operativen Luftkrieges« vom Mai 1926 gerade seine Fixierung46. V o n der Prämisse ausgehend, daß eine Verteidigung im modernen Luftkrieg an sich nicht möglich sei, sahen sie die einzige Chance einer erfolgreichen Luftkriegführung im präventiven An- griff. Anstatt die begrenzten Kräfte in sinnlosen Verteidigungsverfahren zu verzetteln, müsse gerade der Schwächere den Erfolg durch hohe Beweglichkeit und rasche Zu- sammenballung in Überraschungsangriffen auf den Gegner suchen.

Fiebigs zentrale Kritik richtete sich gegen die selbstgewählte Passivität und den völli- gen Verzicht auf »das große Plus der Überraschung des Gegners im ersten Augenblick des Kriegszustandes«. Damit werde gerade dasjenige Element, »worin die größte Stär- ke einer Luftmacht liegt«, mit »offenen Augen« preisgegeben. »Glaubt man etwa, daß die Polen und Rumänen das gleiche tun werden, noch tagelang nach Ausbruch des Krieges mit der wirksamen Tätigkeit ihrer Flugzeuge zurückzuhalten?«, tadelte Fiebig die sowjetische Defensivhaltung. Weitere Vorhaltungen folgten mit Hinweis auf die

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angenommenen Gegner der Sowjetunion, Polen und Rumänien. Diesen sei als guten Schülern Frankreichs der Vorsprung, den sie durch einen überraschenden Einsatz ih- rer Luftgeschwader erreichen könnten, völlig bewußt. Ihre Vorschriften ließen keinen Zweifel an einem möglichst präventiven Einsatz ihrer Luftstreitkräfte: »Ihre Bomben- geschwader werden eine Minute nach Ausspruch der Mobilmachung und Kriegserklä- rung ihre Frontflughäfen verlassen, um lebenswichtige Ziele ihres Gegners zu treffen.

Die Roten Luftstreitkräfte dürfen daran nicht vorübergehen, sie müssen sich auch dar- auf einstellen!« Die vorprogrammierte Untätigkeit der eigenen Luftwaffe zu Beginn ei- nes Krieges, die dazu führe, sich das eigene Handeln vom Gegner vorschreiben zu las- sen, müsse, so Fiebigs eindringliche W a r n u n g , »zum Nachteil der Kampflage der SSSR« ausschlagen. Fiebigs Gegenvorschläge betrafen sowohl Organisation wie Füh- rung der Luftstreitkräfte sowie eine veränderte Gliederung und Dislozierung im Sinne einer wesentlich aktiveren Rolle in der Anfangsphase. Zunächst müßten die Friedens- flughäfen viel näher an die Grenze verlegt werden, um gleich zu Beginn tiefe Schläge ins feindliche Hinterland führen zu können. Seine Empfehlung lautete: In Ermange- lung weitreichender Fernbomberverbände f ü r strategische Angriffe auf die polnischen Industriezentren von Warschau und Lodz solle man sich mit den zur V e r f ü g u n g ste- henden Aufklärern und Leichtbombern auf Angriffe gegen die grenznahen Flugplätze der polnischen Luftwaffe konzentrieren.

IV.

Die Orientierung der sowjetischen Luftkriegskonzeption, wie sie Fiebig 1926 an der Zukovskij-Akademie antraf, entsprach weitgehend jenen Vorstellungen über den Ein- satz von Luftstreitkräften, die im Jahr zuvor von Andrej Sergeev, dem Chef der Luft- waffe während des Bürgerkriegs, in seiner Studie »Strategie und Taktik der Roten Luftflotte« (Strategija i taktika Krasnogo Vozdusnogo flota, Moskau 1925) entwickelt worden waren4 7. Ahnlich Svecins Entwurf für die Gesamtkriegführung, bestand Serge- evs Konzept darin, ausgehend von den beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten des eigenen Landes, eine der ökonomischen Basis der N E P - J a h r e gemäße Konzeption der Luftwaffe zu entwerfen. W e n n er das Flugzeug auch nicht als reine Hilfswaffe an- sah, sollte doch das Ziel im Aufbau einer kleinen und vielseitigen Luftflotte ohne teure und technisch aufwendige Bomberwaffe bestehen, deren H a u p t a u f g a b e n sich auf tak- tische Frontaufklärung und Bodenunterstützung beschränken müsse. An dieser Hilfs- waffenkonzeption orientierte sich auch die »Vorläufige Vorschrift für den Gefechts- einsatz der Luftstreitkräfte« von 1925.

N o c h im gleichen Jahr formierte sich die heftige Kritik aus den eigenen Reihen in Form einer Rezension von Sergeevs Studie durch den jungen Gruppenleiter an der Z u - kovskij-Akademie Vasilij Chripin in der Zeitschrift »Vestnik VozduSnogo flota«4 8. Chripins stark douhetistisch geprägter Standpunkt tadelte den selbstgenügsamen

»Realismus« Sergeevs, der im Grunde eine Zementierung der eigenen Schwäche be- deute. Nicht das technisch und ökonomische »hier und jetzt«, sondern die Möglichkei- ten der Z u k u n f t müßten das Luftkriegsdenken beherrschen.

Chripins Kritik eröffnete eine Kontroverse, deren Auswirkungen Fiebig bei der luft- taktischen Schlußbesprechung des Kriegsspiels unter der Leitung Mezeninovs deutlich spüren konnte. Es zeigten sich offensichtliche Unklarheiten in fast allen berührten Fra- gen. »Ich habe o f t den Eindruck, daß sehr viel nebenher gearbeitet wird; beim Stabe, beim Komitee, bei der Akademie und all den anderen Lehranstalten nimmt man überall für sich in Anspruch, daß man der Berufendste [sie] dazu sei« (Dok. 4). Selbstverständ- lich konnte eine mögliche Umorientierung des sowjetischen Luftkriegsdenkens die

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materiell-technischen Gegebenheiten jener Zeit nicht ignorieren. 40 Prozent aller hö- herqualifizierten Offiziere in der Luftflotte stammten aus den Bodentruppen, was die eigenständige Orientierung nicht gerade erleichterte4 9. Zudem gab es weder mittlere noch schwere Bombenflugzeuge.

Am 1. O k t o b e r 1926 besaß die Rote Luftflotte insgesamt 749 Maschinen, darunter 40 Leichtbomber (R 1) und einige Dutzend Fokker C IV, die, 1923 in Holland einge- kauft, ebenfalls als leichte Bomber einsetzbar waren5 0. Der erste mittlere Bomber eige- ner Konstruktion, Tupolevs zweimotoriger T B 1 flog Ende November 1925 erstmals als Prototyp. Anfang Februar 1926 besichtigten Thomsen und Rath, begleitet vom Chef der Luftflotte Petr Baranov, das Versuchsexemplar im H a n g a r des ZAGI auf dem Moskauer Chodynka-Felde5 1. N o c h bis 1929 machten Aufklärungs- und Verbin- dungsflugzeuge 82 Prozent des Gesamtbestandes der Luftstreitkräfte aus52.

1927 zog Sergej Mezeninov in seiner Studie »Die Luftstreitkräfte in Krieg und Opera- tion« (Vozdusnye sily ν vojne i operacii, Moskau-Leningrad 1927) erkennbar die Fol- gerungen aus der theoretischen Arbeit des Jahres 1926. Es galt jetzt als ausgemacht, daß die Luftstreitkräfte »als erste in den Kampf zum Schutz der Mobilisierung der Streitkräfte und des Landes eintreten werden«. Daraus ergebe sich, so Mezeninov wei- ter, »daß sie schon in Friedenszeiten in Kampfbereitschaft sein müssen«53. D e r Ab- schied von der rein passiven Rolle der sowjetischen Luftwaffe war eingeleitet. W e n n in den Jahren darauf die Vertreter douhetistischer Anschauungen in der Roten Armee wie Aleksandr Lapcinskij, Vasilij Chripin und Aleksej Algazin zunehmend an Einfluß gewannen und seit Anfang der 30er Jahre die offizielle sowjetische Luftkriegsdoktrin bestimmten, dann mag ein kleiner Anteil daran auch dem damaligen deutschen Berater an der Moskauer Luftwaffenakademie Martin Fiebig zuzuschreiben sein.

Am Ende des ersten Fünfjahrplans 1933 war die Rote Luftflotte eine nach Organisa- tion, Einsatzgrundsätzen und technischer Ausstattung weitgehend douhetistisch orien- tierte Luftstreitmacht; eine Entwicklung, die mit der Durchsetzung der neuen Nieder- werfungsstrategie in den Landstreitkräften einherging.

Weit über das Luftfahrtspezifische hinaus bieten Fiebigs Berichte außerordentlich in- struktive Einblicke in die generellen Probleme des Sowjetstaates beim Aufbau eigener militärischer Spezialkader unter den politischen und sozialen Bedingungen der 20er Jahre. Sie lassen deutlich das Ziel erkennen, das für die Führung im V o r d e r g r u n d aller Anstrengungen stand: die Schaffung eines dem neuen Regime unbedingt loyalen O f f i - zierkorps in kürzester Frist aus den halbproletarischen und bäuerlichen Schichten des Landes. Die Militärschulen aller Stufen und Fachrichtungen, einschließlich der Akade- mien, übernahmen dabei auch vielfältige allgemeinbildende Aufgaben. Auch die Mili- tärakademien spiegelten, wie der gesamte militärwissenschaftliche Sektor, den außer- ordentlichen Pluralismus jener Jahre wider. Was für die Bereiche von Kunst und Lite- ratur, f ü r Ökonomie und Pädagogik galt, war für den militärischen Bereich nicht viel anders. Die Jahre der N E P waren die Zeit der großen Diskussionen, eine Zeit des Ex- perimentierens, des Suchens und Versuchens auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens (»alles ist offen, nichts ist festgelegt«). Unter solchen Bedingungen fast aus- schließlich mit Spezialisten aus der »alten Armee«, die immer noch die militärische In- telligenz des Landes stellten, in kürzester Zeit ein sowohl politisch loyales wie in den operativen Anschauungen einheitliches Stabsoffizierkorps heranzubilden darf f ü r w a h r als ein konfliktreiches Experiment betrachtet werden.

Erst die 30er Jahre mit ihren einschneidenden sozialen Umwälzungen brachten auch hier jene »große Vereinheitlichung« in Form und Inhalt, die f ü r die Sowjetgesellschaft der Stalin-Ära so charakteristisch wurde. Den Typus des äußerlich hochdisziplinierten, 137 einheitlich ausgerichteten und kurzgeschorenen Kursanten der Stalinzeit hat Martin

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Fiebig 1926 noch nicht beobachtet. Das Problem der 20er Jahre w a r es noch, die Syn- these zwischen dem Enthusiasmus der »Armee neuen Typs« und dem Professionalis- mus der »alten Spezialisten«, die der Bürgerkrieg notwendig erzwungen hatte, dauer- haft zu machen, was letztlich hieß, eine tragfähige Verbindung von Revolution und nationaler Militärtradition zu finden. Wenngleich dies alle Bereiche der Armee betraf, standen wegen ihrer militärischen Erziehungsaufgabe die Militärschulen dabei doch an vorderster Front. Sergej Kamenev, Ex-Oberst und Generalstabsabsolvent des Jahr- gangs 1907, zwischen 1919 und 1924 Oberkommandierender der Roten Armee hatte es schon in den Jahren des Bürgerkriegs halb scherzhaft in einen treffenden Satz ge- faßt: »Nur die glückliche Kombination von Kommunismus und Generalstab gibt 100%

des Kommandos.«5 4

Im Frühjahr 1926 wurde die Gruppe Fiebig aufgelöst. Obwohl der Chef der Roten Luftflotte Petr Baranov gegenüber H e r m a n n Thomsen ein überwiegend positives Ur- teil über die Arbeit der Gruppe abgab und dabei betonte, »daß die Tätigkeit aller H e r - ren (mit einer Ausnahme) volle Anerkennung verdiene [ . . .] und von großem N u t z e n f ü r die Luftstreitkräfte sei« (Dok. 3), zog Fiebig f ü r sich und die Arbeit seiner Kollegen eine negative Schlußbilanz: »Im ganzen genommen habe ich den Eindruck, daß unsere Tätigkeit den Russen nach unseren Begriffen bisher keinen nennenswerten N u t z e n ge- bracht hat [. . .] nach den sichtbaren Erfolgen zu urteilen, ist bis auf Kleinigkeiten so gut wie nichts festzustellen, was auf Grund unserer Anregungen geschehen wäre«.

Auch den eigenen N u t z e n schätzte er nicht viel höher ein: »Für unsere deutsche Seite besteht [. . . ] der bisherige N u t z e n darin, daß wir Gelegenheit hatten, uns wieder inten- siv mit der Materie zu beschäftigen, allerdings nur in theoretischer Hinsicht; auch praktische Erfahrungen zu sammeln, auf das es uns hier eigentlich besonders ankom- men sollte, dazu waren wir bisher noch nicht in der Lage.« Pessimistisch Schloß Fiebig:

»Zusammenfassend kann ich mir weder für die russische Seite noch für die deutsche unter den obwaltenden Umständen für die nächste Z u k u n f t aus unserer Tätigkeit einen lohnenswerten N u t z e n versprechen.« (Dok. 9)

Am 14. Mai 1926 machte die Gruppe in Begleitung von Thomsen ihren Abschiedsbe- such bei Baranov und seinem Gehilfen Muklevic5 5. Seit Anfang 1925 hatten die Mit- glieder der Gruppe Vorbereitungs- und Erkundungsdienste f ü r die im April des Jahres aus der T a u f e gehobene Fliegerschule Lipezk geleistet56. Drei aus der Gruppe (Johan- nesson, Droste und Diete) traten 1926 zu ihr über. Ebenso gingen das gesamte Inventar und die Bibliothek der Gruppe in den Besitz der Fliegerschule Lipezk über5 7. Rath wurde Mitarbeiter H e r m a n n Thomsens in der »Zentrale Moskau«. Martin Fiebig lehnte eine Weiterverwendung in Lipezk ab und trat in die Dienste der zu Beginn des Jahres gegründeten Deutschen Lufthansa.

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1. Auszug aus der Aufzeichnung des deutschen Botschafters in Moskau, Graf v. Brock- d o r f f - R a n t z a u , über eine Unterredung mit dem sowjetischen Kriegskommissar Trockij am 9. Juni 192458

PA, AA, Nl. Stresemann, Bd 350

H a t t e gestern einstündige Unterredung mit Trotzki. Er empfing mich 9 ' /2 U h r abends, nicht im Kreml, sondern im Gebäude des Kriegskommissariats. Ich begann die Unterre- dung mit dem Ausdruck meiner Freude, ihn wiederhergestellt zu sehen — er sah tatsächlich sehr wohl aus — und fügte hinzu, es sei mir ein Gefühl der Beruhigung, ihn wieder in Mos- kau zu wissen. Er habe mir ja bei unserer letzten Unterredung erlaubt, mich in ganz ernsten Fällen direkt an ihn zu wenden. Aus formalen Gründen bemerkte ich, wie ich annehme, sei H e r r Tschitscherin darüber informiert, dass ich eine Unterredung mit ihm nachgesucht ha- be; persönlich hätte ich keine Gelegenheit gehabt, im Außenkommissariat darüber zu spre- chen. T r o t z k i erwiderte, selbstverständlich sei Tschitscherin informiert; er selbst habe ihn gebeten, mir mitzuteilen, dass er bedaure, mich nicht schon vor zwei T a g e n , als ich mich an- sagte, haben empfangen zu können; er sei aber auf dem Lande gewesen (Tschitscherin hat mir bezeichnenderweise kein W o r t gesagt).

Als ich Platz genommen hatte, erklärte ich, die Situation sei so ernst, dass ich mich an H e r r n T r o t z k i persönlich wenden müsse; ich sehe das deutsch-russische Freundschaftsverhältnis schwer gefährdet und müsse von ihm wissen, ob auch die Beziehungen zu seinem Ressort bedroht seien. D e r beklagenswerte Zwischenfall zeige so bedenkliche Folgeerscheinungen, dass ich leider damit rechne. Selbstverständlich würde diese Möglichkeit auch auf meine H a l t u n g einen ausschlaggebenden Einfluss ausüben.

T r o t z k i unterbrach mich sehr lebhaft mit den W o r t e n : »Nein, davon kann keine Rede sein, dieser Dreck muss erledigt werden und ist nicht entfernt imstande, auf die f ü r uns wie Sie so erfreulich angebahnten und wichtigen militärischen Beziehungen irgendeinen Einfluss zu üben. Rosenholz hat mich am ersten T a g e , als der Zwischenfall bekannt wurde, gefragt, wie er sich stellen solle. Ich habe ihm erwidert, von einer Änderung unserer H a l t u n g sei keine Rede. D e r Konflikt bleibe ohne jeden Einfluss darauf.« Ich entgegnete, diese Äusserung be- deute für mich eine grosse Beruhigung; ich möchte dem Volkskommissar aber doch einige auffallende Symptome mitteilen.

Zunächst sei vor etwa vier W o c h e n der Empfang des Majors Fischer und H a u p t m a n n s V o g t bei H e r r n Rosenholz auffallend kühl gewesen; ferner habe man hier am 8. d.M. plötzlich die Beteiligung eines Flugzeuges der Junkers-Werke bei der Parade abgelehnt, nachdem das Flugzeug bereits am Start angekommen war. Ausserdem höre ich zufällig heute, dass sämtliche Botschafter, ausser mir, an der Parade teilgenommen hätten. Ich gebe offen zu, es sei mir sehr bequem, nicht geladen gewesen zu sein, aber ich könne doch nicht zulassen, dass ich als Deutscher Botschafter, weil man mit der H a l t u n g meiner Regierung hier nicht einverstanden sei, wie ein ungezogenes Kind behandelt würde, dem das Dessert entzogen würde. T r o t z k i lachte, sagte aber sehr ernst, er werde sich sofort erkundigen und verstehe vollkommen, dass ich diese »Symptome« nicht als nebensächlich behandele. W a s die Absage an das deutsche Flugzeug anlange, so habe die G. P. U. aus Gründen der Sicherheit, weil der Flugplatz überfüllt war, eine geringere Beteiligung von Flugzeugen verlangt. Im übrigen sei tatsächlich vor zwei Tagen eine Frau erschlagen [sie!].

Ich fragte den Volkskommissar dann eingehend nach der Stellungnahme des Kriegskom- missariats zu den Junkers-Werken, betonte, dass diese keine Bestellung russischerseits er- halten hätten, dass sie bereit seien, einen Motorbetrieb aufzuziehen, dass ihnen aber, ob- gleich, wie er wisse, deutscherseits eine bedeutende Subvention in letzter Zeit bewilligt wur- de, mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hätten, wenn sie russischerseits keine Auf- träge erhielten. T r o t z k i erklärte, und es war zweifellos keine Ausrede, er sei über die Ein- zelheiten nicht unterrichtet, werde sich aber sofort erkundigen5 9.

Ich f u h r dann fort, die Entsendung der H e r r e n Fischer, Vogt, Arnhold u n d T h o m s e n sei nach Auffassung meiner Regierung der Beweis dafür, dass wir unsere Politik Russland ge- genüber nicht ändern wollten. T r o t z k i bemerkte, er verstehe sehr wohl, dass die deutsche

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Polizei mit manchen Vorgängen nicht einverstanden sei, habe aber niemals geglaubt, dass unsererseits eine Neuorientierung der Politik beabsichtigt gewesen wäre. Ich erklärte, diese durchaus zutreffende Auffassung habe ich leider nicht an allen Stellen hier gefunden. Was die Entsendung der Herren Fischer, V o g t und anderer anlange, so möchte ich betonen, dass jetzt der bekannte Oberst Thomsen eingetroffen sei, und dass ich unter keinen Umständen ihn einer schlechten Behandlung hier aussetzen werde. Ich habe ihm darum geraten, vor un- serer heutigen U n t e r r e d u n g nicht mit H e r r n Rosenholz in Verbindung zu treten. T r o t z k i fragte sehr lebhaft, wann Oberst Thomsen in Moskau eingetroffen sei und erklärte, als ich erwiderte, bereits seit einer W o c h e , er werde sich unverzüglich mit Rosenholz in Verbin- d u n g setzen und persönlich eine Begegnung vermitteln. Ich bemerkte, Oberst T h o m s e n be- absichtige, auch über das Engagement von 10 deutschen Fliegeroffizieren mit Rosenholz zu verhandeln; man habe befremdenderweise, obgleich die H e r r e n unsere besten Flieger seien, bei 6 oder 7 allerlei Anstände gemacht, sie in den hiesigen Dienst zu übernehmen.

Auffallend sei auch, dass, wie ich aus zuverlässiger Quelle höre, in den Gewehrfabriken von Tula, die unter deutscher Leitung ständen, vor etwa 14 Tagen eine fremde entweder engli- sche oder amerikanische Kommission empfangen wurde. T r o t z k i erklärte, er werde sich so- f o r t erkundigen; die Nachricht sei unbedingt falsch.

Ich fragte dann unvermittelt, ob man hier noch mit dem Obersten Bauer6 0 verhandele.

T r o t z k i erwiderte, es bestehe die Absicht, in nächster Zeit die Verhandlungen wegen der chemischen Fabrikation wiederaufzunehmen, hinter Bauer stände doch auch deutsches Ka- pital. Ich erwiderte, das scheine tatsächlich der Fall; ich möchte dem H e r r n Volkskommis- sar jedoch mitteilen, dass man in Berlin keineswegs beabsichtige, mit Bauer zusammenzuar- beiten. General von Seeckt habe mir eine dahingehende, kategorische Erklärung abgege- ben. Bauer stehe bekanntlich mit General Ludendorff in Verbindung; eine Zusammenarbeit zwischen dem Reichswehrministerium und ihm sei ausgeschlossen. T r o t z k i erklärte, diese Mitteilung sei f ü r ihn von höchstem W e r t ; er wolle selbstverständlich die Arbeit mit dem Reichswehrministerium unter keinen Umständen in Frage stellen61.

2. Schreiben des Chefs der »Zentrale Moskau«, Oberst a. D. H e r m a n n v.d. Lieth-Thom- sen, an das Reichswehrministerium in Berlin vom 5. Februar 1926 über eine Unter- redung mit dem Chef der sowjetischen Luftstreitkräfte Baranov am 2. Februar 1926 62

BA-MA, RH2/2296

Ich hatte am 2.2 eine längere Besprechung mit Baranow, an der russischerseits auch Mukle- witsch und Cilingerow teilnahmen. Mit mir w a r Niedermayer zugegen.

Einzelheiten der U n t e r r e d u n g sind in der heutigen Beantwortung des Fl.Berichtes 74 wie- dergegeben6 3.

Das H a u p t t h e m a der U n t e r r e d u n g betraf die Gruppe Fiebig, deren Tätigkeit immer noch voll befriedigende Ergebnisse vermissen lässt. Die inneren G r ü n d e liegen, wie früher, in Wi- derständen, die von unteren Dienststellen ausgehen und (objektiv betrachtet) begreiflich und schwer zu überwinden sind. Die Russen gleuben eben alles selbst gut zu verstehen und machen zu können und sind, mit wenigen Ausnahmen, f ü r Belehrungen nicht sehr emp- fänglich.

Uber Baranows Ansichten giebt [sie!] die Anlage (mein Schreiben an Baranow auf G r u n d der Unterredung) Aufschluss64.

Baranow selbst fehlt es keineswegs an Verständnis f ü r die Wünsche und Vorschläge, die ihm gemacht werden, aber auch er muss mit den erwähnten Widerständen rechnen.

Seine Beurteilung der Tätigkeit der Gruppe Fiebig w a r durchaus anerkennend — mit einer Ausnahme: Hasenohr. Er erklärte mir, was mich nicht sehr überraschte, dass H.s Leistun- gen, seine Kenntnisse und Erfahrungen keinen grossen W e r t f ü r die R . / L . besässen; ausser- dem lägen noch andere Gründe vor, über die er sich aber nicht näher äussern möchte. Soweit ich es habe feststellen können, scheint es sich um mangelnde Zurückhaltung H.s in politischer Beziehung zu handeln. Abfällige Äusserungen H.s über die politischen Verhältnisse hier im

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allgemeinen und in der Armee scheinen gefallen und übel vermerkt zu sein. Ich sehe H . erst am 7.2. wieder (da er in der W o c h e in Serpuchow ist) und werde mit ihm die Situation be- sprechen. Sollte H . sich entschliessen, seinen Vertrag vorzeitig zu lösen, so werden ihm von Seiten der R./L. sicherlich keine Schwierigkeiten gemacht.

Ich habe, mit Rücksicht auf H., vorläufig nur H e r r n v. Niedermayer näher orientiert und bitte, auch dort die Angelegenheit diskret zu behandeln.

Lieth 3. Brief des Obersten a. D. H e r m a n n v.d. Lieth-Thomsen an den Chef der sowjetischen

Luftstreitkräfte, Baranov, vom 3. Februar 1926 65

BA-MA, RH2/2296

Sehr geehrter H e r r Baranow!

Wie in unserer letzten U n t e r r e d u n g vereinbart, überreiche ich Ihnen im Nachstehenden ei- ne kurze Zusammenstellung der Gesichtspunkte, die bezüglich der Tätigkeit der Gruppe Fiebig zwischen uns erörtert w u r d e n :

Ich trug Ihnen vor, dass es nötig und nützlich sein würde, zu prüfen, ob die Tätigkeit der Mitglieder der Gruppe Fiebig (die nun schon in ihrer Mehrzahl weit über ein Jahr bei den Luftstreitkräften Dienst tun) den beiderseits gehegten Erwartungen entsprochen und den erhofften N u t z e n gebracht habe. —

Sie äusserten sich dahin, dass die Tätigkeit aller Herren (mit einer Ausnahme) volle Aner- kennung verdiene und finde und von grossem N u t z e n f ü r die Luftstreitkräfte sei. — Ich wies dann darauf hin, dass fast alle Herren einen erkennbaren Erfolg ihrer Tätigkeit nur in verhältnismässig wenigen Fällen feststellen könnten und die U b e r z e u g u n g hätten, dass die praktische Auswirkung ihrer Arbeit noch erheblich gesteigert werden könnte und müsste, um den vollen N u t z e n f ü r die Russ. Luftstreitkräfte zu bringen. Es würden zwar viele und umfangreiche Berichte und Denkschriften von ihnen eingereicht, Vorschläge und Zusam- menstellungen f ü r organisatorische und technische Massnahmen und Ausrüstungen ge- macht, die zweifellos Interesse und Anerkennung der betreffenden Dienststellen fänden, aber nicht oder doch nur selten zu einer Verwirklichung führten. Gerade dieses Fehlen ei- nes sichtbaren Erfolges wäre es, was den einzelnen H e r r e n ihre Arbeit nicht hinreichend fruchtbar erscheinen liesse. Einige der Hauptwünsche und Vorschläge der H e r r e n wären bespielsweise folgende:

Fiebig hält entsprechend seinen eingehenden Denkschriften die Beschaffung modernen F. T . Geräts f ü r ausserordentlich dringlich, um die hierin vorhandenen Lücken auszufüllen und die H a n d h a b u n g , V e r w e n d u n g und Ausbildung mit solchem Gerät in der unbedingt er- forderlichen Weise zu fördern.

Hasenohr glaubt durch V e r w e n d u n g bei den Fabriken f ü r den Einbau der Bewaffnung und der Bombenausrüstung in Flugzeuge vorteilhafter arbeiten zu können als z.Zt. lediglich in Serpuchow.

Johannesson hat wechselnd bei verschiedenen Dienststellen gearbeitet und ist der Ansicht, dass seine Tätigkeit am wirksamsten sein würde, wenn er beim Komite und daneben bei der Versuchsabteilung verwendet würde, wie dies auch ursprünglich von H e r r n Linnow beab- sichtigt war.

Rath hat den Wunsch zur P r ü f u n g und Begutachtung bei allen Flugzeugen aller Typen und H e r k u n f t herangezogen zu werden, um durch vergleichende Untersuchungen seine Arbeit gründlicher und vollkommener gestalten zu können.

Diete möchte, dass durch die Beschaffung vollkommeneren und modernen W e r k z e u g - G e - rätes, entsprechend seinen Vorschlägen, die Leistungsfähigkeit der Werkstätten die w ü n - schenswertere E r h ö h u n g fände.

Droste sieht in dem weiteren Ausbau der Motorenprüfanlage, wie sie z.Zt. im Gange ist, ein Feld fruchtbarer Tätigkeit f ü r sich.

Ich bitte, in dem Vorstehenden keine Klagen zu sehen, sondern nur den Wunsch der H e r - ren, den auch ich in gleicher Weise habe, dass ihre Arbeit ihnen selbst volle Befriedigung

und den Russ. Luftstreitkräften grossmöglichsten N u t z e n bringt. Lieth

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4. Aufstellung Fiebigs vom 15. Februar 1926 über die Unterlagen6 6 zum strategischen Kriegsspiel (strategische Aufgabe N r . 1) an der Zukovskij-Akademie im Winter 1925/26 BA-MA, RH 2/2217

Für Berlin!

betr. Strategische Aufgabe Nr. 1 und ihre Durchführung bei der Kommandeur-Fakultät der Luftakademie.

Die Aufgabe ist etwa im Zeitraum von zwei Monaten als Planaufgabe durchgearbeitet w o r - den. Das strategische Gebiet ist mit dieser Aufgabe das erste Mal bei der Luftakademie be- rührt worden. Es fanden einleitend theoretische Lektionen über Erd- wie Luftstrategie statt;

Ubersetzungen von den Konspekten, nach denen diese Lektionen gehalten wurden, sind bereits übersandt worden. Über die einzelnen Spezialgebiete wie Stabs- und Befehlstechnik, Nachschub, Luftabwehr, Flieger-Versorgung, Wetterdienst u.a.m. fanden noch im Verlauf der Aufgabe theoretische Vorträge statt. Das System der Durcharbeitung war, dass Theorie und Praxis gleichzeitig zusammengefasst wurden, um Zeit zu sparen, da im ganzen f ü r das Gebiet der Strategie nur fünf M o n a t e zur V e r f ü g u n g stehen.

Uber die Anlage und den Verlauf der Aufgabe werden nachfolgende Unterlagen übersandt:

Anlage 1: Allgemeine Erdlagea

Die Aufgabe spielt an der polnisch-rumänischen Front und behandelt die Versammlung, den Aufmarsch und seine Sicherung durch sogenannte Deckungskorps. Beachtenswert ist, dass die Versammlung in den Aufmarschräumen erst in der vierten W o c h e nach Ausspruch der Kriegserklärung erfolgt; der Aufmarsch der südlich anschliessenden Armee wird noch später angenommen. D e r Aufmarsch vollzieht sich auf 150 bis 180 km entfernt diesseits der Grenze. Die vordersten Grenzsicherungstruppen stehen etwa in ihrer Masse 75 km diesseits der Grenze; über ihre Stärke ist nichts gesagt, auch nichts im Verlauf der Aufgabe erwähnt worden. Ihre Tätigkeit ist ganz unberührt geblieben.

Als Aufgaben f ü r die H ö r e r waren gestellt:

a) Schema der Lage in Form einer Planpause mit Einzeichnungen über feindl. und eigene Kräfte, Aufmarschräume, Sicherungstruppen, um eine Kontrolle zu haben, dass der H ö - rer die Lage verstanden hat.

b) Graphische Darstellung über den Verlauf der Versammlung, zu welchen Zeitpunkten die Versammlung der einzelnen Truppenteile beendet ist und wann sie verwendungsfä- hig sind.

c) Graphische Darstellung der Dislokation aller dem IV. Korps unterstellten Teile.

d) Befehl des IV. Korps über die D u r c h f ü h r u n g der Aufgaben in der Zeit vom 16. bis 25.

Juni, in der das Korps die Sicherung des Aufmarsches der übrigen Korps zu übernehmen hat.

Die von den H ö r e r n gefassten Entschlüsse über die Sicherungslinie sind sehr auseinander- gehend; als Patentlösung wurde ausgegeben, dass die einzelnen Divisionen die Sicherung in der Linie Chmelnik-Lititschew-Bar-Schargorod durchzuführen hätten. Die Reserve in Stärke einer Division vorwärts Schmerinka. Besonderer W e r t sei auf die Sicherung des K o r - ridors nördlich Chmelnik bis zu dem Sumpfgebiet zu legen. Aus diesem Grunde sollte auch die K[avallerie] Division], die bisher bei Proskurow stand, in die Gegend von Chmelnik zurückgenommen werden. Eine weiter vorwärts liegende Sicherungslinie ist niemals in Er- wägung gezogen worden, auch nicht, nachdem ich darauf hinwiess, dass von Südwesten her die Flanke ziemlich ungeschützt sei und ein Vorstoss des Gegners in die eigene Ver- sammlung leicht Erfolg haben könnte. M a n habe das Prinzip, die Hauptsicherungstruppen nicht so sehr von den Versammlungsräumen abzusetzen, damit sie dort immer noch einen Rückhalt hätten.

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Anlage 2: Allgemeine Luftlage:

Sie gibt eine eingehende Darstellung der Friedensgruppierung der polnischen Luftstreit- kräfte; diese wird zum Gegenstand einer besonders eingehenden Besprechung gemacht.

Als eigene Fliegerkräfte sind nur Aufklärungs- und Jagdformationen eingesetzt; die Auf- klärungs-Eskadrillen können auch f ü r Bombenwurf verwandt werden; eigentliche Bom- benkräfte sind nicht vorhanden.

Bemerkenswert ist die Art der Mobilmachung; erst sechs Stunden nach Ausspruch der Kriegserklärung sind die Fliegerabteilungen auf ihren Heimatshäfen abflugbereit; sie sollen dann auf vorbereitete Plätze in den Aufmarschräumen übersiedeln, von w o der erste Ein- satz erfolgt; weiter vorliegende Plätze sollen nur als Zwischenlandeplätze benutzt werden.

D e r Ko[mmandeur der] Fl[ieger] ist erst nach 10 Tagen mobil; inzwischen hat seine Funk- tionen der bisherige Fliegerkommandeur des betr. Wehrkreises. Es sind nicht alle vorberei- teten Flugplätze mit Betriebsstoff versehen; die Ü b e r f ü h r u n g von Betriebsstoff und Reser- veteilen kann erst mit den f ü r den vierten T a g angesetzten Transporten befördert werden.

Über die Mobilmachung der Parks ist nichts gesagt.

Ich habe in meinen für die Schlussbesprechnung verfassten Bemerkungen über diese un- mögliche Art der Mobilmachung der Luftstreitkräfte besonders hingewiesen; ich hoffe mit Erfolg, denn man stimmt meinen Ansichten im allgemeinen bei.

Als Aufgaben zur Durcharbeitung f ü r die H ö r e r waren gestellt:

a) Aufgaben in der ersten Periode von der Kriegerklärung ab bis zur Vollendung der Ver- sammlung und seiner Sicherung:

Bekanntmachung mit der Fliegerlage beim Gegner

Bekanntmachung mit dem Kriegstheater vom Fliegerstandpunkt aus Plan der Versammlung der Fliegerkräfte

Plan f ü r die ersten Aufgaben Plan der Luftabwehr Plan der Versorgung

b) Arbeitsplan f ü r die zweite Periode in Verbindung mit der Bereitschaft des IV. Korps.

Zu der D u r c h f ü h r u n g dieser einzelnen Aufgaben habe ich zum grossen Teil in meinen Be- merkungen schon Stellung genommen. Im grossen und ganzen hatte man den Eindruck, daß man sich noch in gar keiner Weise über die einzelnen Aufgaben klar ist. Feste V o r - schriften liegen noch nicht vor, nach denen sich die Lehrer richten konnten. Bevor eine der Aufgaben mit den H ö r e r n durchgesprochen wurde, wurde sie erst im Lehrerkreise verhan- delt. Für Luftschutz und Wetterdienst stehen die Organisationen noch gar nicht fest; sie wurden an H a n d anscheinend nur für die Aufgabe zusammengestellter Schemen durchge- sprochen. Beim Luftschutz fiel mir auf, dass sie ihn in jedem Falle den Fliegerkommandeu- ren unterstellen wollen, nicht wie es bei uns w a r : Ko[mmandeur der] Fl[ieger] und K o [ m m a n d e u r der] Flakartillerie] koordiniert. Über die Versorgung habe ich mir aus dem G a n g der Aufgabe kein klares Bild machen können; als zukünftige Organisation will man H a u p t p a r k s und vorgeschobene Parks sogen. Kopfbasen einrichten; in den H a u p t p a r k s sol- len 75% und in den Kopfbasen 25% der Reserveflugzeuge lagern. Es wurde ferner mit den H ö r e r n die Errechnung der zu lagernden Bestände auf Grund des Einsatzes von Fliegerfor- mationen und ihren ersten Aufgaben besprochen, besondere Erörterungen über den Ersatz an Bomben und Flugzeug- und Motorersatzteilen, über die Verbindungen nach vorn ange- stellt. D e r Ausbau von Flugplätzen wurde kaum berührt. Für den Überflug aus den Hei- matshäfen wurde die Notwendigkeit eines geregelten Wetterdienstes betont; man fürchtet anscheinend erhebliche Verluste bei der Ü b e r f ü h r u n g durch die Luft, man zog d a f ü r den Überflug einer Smolensker Formation nach Moskau als Beispiel heran, die ganz zerfleddert in M . angekommen sei. Ich wurde s.Zt. auch daraufhin angesprochen, wie man derartige Flüge vorbereitete.

O b natürlich alle angezogenen Fragen noch tatsächlich so ungeklärt sind, läßt sich mit Be- stimmtheit schwer sagen; wenn allerdings bei Übungen unter der Leitung von Mescheni- noff, der bei der Luftflotte der taktische Berater ist, noch so viel Unklarheiten bestehen, müsste man es beinahe annehmen. Ich habe o f t den Eindruck, dass sehr viel nebenher gear-

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beitet wird; beim Stabe, beim Komitee, bei der Akademie und all den anderen Lehranstalten nimmt man überall f ü r sich in Anspruch, dass man der Berufendste dazu sei.

Über das Zusammenarbeiten der Fliegerstreitkräfte mit den beiden Deckungskorps habe ich mich auch in meinen Bemerkungen ausgelassen; ich habe es als falsch hingestellt, dass die gesamten Formationen aus der H a n d der Armee gegeben wurden und den Korps zur Ver- fügung standen. Im übrigen habe ich mündlich die Aufgabenstellung bemängelt; f ü r eine bestimmte Zeit im Voraus, da ja die Aufgaben letzten Endes von dem H a n d e l n des Gegners abhingen.

Anlage 3: Einlage zur Fliegerlage

enthält Feststellungen der Aufklärung bis 15. Juni über feindliche Flugzeugtypen und Flie- gertätigkeit

Anlage 4: Einlage zur Fliegerlage,

enthält den Befehl zur Unterstellung aller Aufklärungskräfte unter den Befehl der K o m - mandeure der beiden Deckungskorps, die Armee behält keine Fliegerkräfte f ü r sich zurück.

Aus welchen Gründen die Leitung zu einer derartigen A n o r d n u n g gekommen ist, konnte ich nicht ergründen. Die H ö r e r nahmen gefühlsmässig gegen eine derartige Unmöglichkeit Stellung.

Anlage 5: Politische Lage6',

enthält die G r ü n d e f ü r die Kriegserklärung, politische und wirtschaftliche Massnahmen im Kriegsgebiet, Angaben über die politische Einstellung der Einwohner u.a.m. Für den U n t e r - richt in Politik sind ebenso wie f ü r den in Luft- und Erdstrategie besondere Lehrer vorhan- den, es sind besondere Stunden nur d a f ü r eingeteilt; ich habe bisher nicht daran teilgenom- men.

Anlage 6: Nachschublage der Armee

mit Angaben aller Nachschubeinrichtungen und Läger Anlage 7: Nachschubschema Rot (Russen)

Anlage 8: Nachschubschema Blau (Polen)

Anlage 9: Angaben über den Zustand der Nachrichtenverbindungen bei IV. Korps und der Komplettierung der Truppenteile.

Anlage 10: Telegrafennetz bei Rot am 15. Juni (Skizze)

Anlage 11: Zusammenstellung über die technische Ausrüstung und Leistungsfähigkeit von Nachrichtentruppen 69.

Als Aufgabe über das gesamte Nachschubwesen wurde von den H ö r e r n der Befehl des Chefs des Stabes des IV. Korps d a f ü r verlangt. Er wurde von ihnen auf G r u n d eines Muster- befehls s. Anlage 13 bearbeitet; besonderes ist nicht zu bemerken.

Anlage 12: Geographische und wirtschaftliche Angaben über das voraussichtliche Kriegsge- biet. Es wurde dabei besonders auf den Korridor nördlich Chmelnik bis zu den Sümpfen hingewiesen, der bisher schon immer in der Kriegsgeschichte eine Rolle gespielt hätte. Auf Grund dessen ist wohl auch der Schwerpunkt der Armee auf den rechten Flügel gelegt wor- den, um hier Handlungsfreiheit zu behalten. Über diese Fragen fanden zu Beginn der Auf- gabe zwei Lektionen statt.

Anlage 13: Muster eines Operationsbefehls f ü r den gesamten Nachschub und die Organisa- tion der rückwärtigen Verbindungen.

Anlage 14: Handangaben über das Verkehrswesen im Kriege Anlage 15: Karte mit den hauptsächlichsten Einzeichnungen

Anlage 16: Meine Bemerkungen70 über die Fliegerlage und ihre D u r c h f ü h r u n g .

Anlage 17 + 18: Zwei Unterrichtspläne der Land- und Seeabteilung der K o m m a n d e u r - F a - kultät f ü r J a n u a r und Februar 1926: Verteilung und Anzahl der Lehrer, genaue Angabe der 144 Lehrgegenstände und auf sie entfallende Stunden7 1.

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