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Politikmüdigkeit nach Glarner Gemeindefusion | Die Volkswirtschaft - Plattform für Wirtschaftspolitik

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GEMEINDEFUSION

36 Die Volkswirtschaft   3 / 2021

Politikmüdigkeit nach Glarner Gemeindefusion

Hat sich die radikale Gemeindefusion im Kanton Glarus gelohnt? Sowohl aus ökonomischer als auch aus demokratiepolitischer Sicht sind Bedenken angebracht.  Bruno S. Frey,

Anthony Gullo, Andre Briviba

D

ie Glarner Landsgemeinde hat im Jahr 2006 eine aufsehenerregende Ände- rung der kantonalen Verfassung beschlos- sen – und ein Jahr später bestätigt: Anstelle der historischen 25 Ortsgemeinden gibt es seit dem 1. Januar 2011 im Zentralschweizer Kanton nur noch die drei Gemeinden Glarus Nord, Glarus und Glarus Süd. Wie kam es zu diesem bemerkenswerten Schritt?

Die Befürworter der Gemeindefusion ar- gumentierten, die historischen Gemeinden seien oft zu klein. Deshalb sei das staatli- che Angebot nur zu hohen Kosten bereitzu- stellen. Überdies würden sich die Gemeinde- grenzen oft nicht mit dem Nutzen der öffent- lichen Güter decken, das heisst, es fänden sogenannte Spill-over-Wirkungen statt. Die Reduktion der Zahl der Gemeinden soll somit vor allem dazu dienen, Skaleneffekte auszu- nützen und das Angebot staatlicher Leistun- gen näher an die Nachfrage zu bringen. Zu- dem bekundeten Gemeinden oft Mühe, Per- sonen ehrenamtlich für Gemeindeaufgaben zu rekrutieren.

Die Gegner bezweifelten hingegen, ob diese positiven Wirkungen tatsächlich ein- treten würden. Vor allem aber befürchteten sie, die emotionale Bindung der Bevölkerung an ihren Wohnort und dessen politische Ent- scheidungen würde eingeschränkt oder gin- ge gar verloren.

Bescheidener Nutzen

Im Gegensatz zu Ländern wie Dänemark, Schweden oder Grossbritannien werden in der Schweiz Gemeinden nicht durch Ob- rigkeitsbeschluss zusammengelegt, son- dern durch den Beschluss der Stimmbürger.

Abstract    Die starke Reduktion der Gemeinden im Kanton Glarus, die 2006 an der Landsgemeinde beschlossen wurde, hat nur geringfügige finanzielle Auswirkungen gebracht. Hingegen ist die Stimmbeteiligung – ein wichtiger Indikator für die Be- ziehung der Bevölkerung zum demokratischen politischen Prozess – gefallen, gera- de auch im Vergleich zu den umliegenden Kantonen. Diese bedauerliche Entwicklung des Bezugs der Bürgerinnen und Bürger zur Schweizer Demokratie sollte unbedingt im Auge behalten werden.

In der Wissenschaft sind die Auswirkungen des Zusammenlegens von Gemeinden in der Schweiz verschiedentlich untersucht wor- den. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2002 führte das Aufheben von Gemeinden im Kan- ton Solothurn zu höheren Ausgaben der öf- fentlichen Hand.1 Eine weitere Untersuchung von 35 Gemeindezusammenlegungen zwi- schen 2001 und 2014 fand keinen Einfluss auf die lokalen Finanzen.2 Auch in Bezug auf die Staatsausgaben und die öffentliche Verschul-

1 Lüchinger und Stutzer (2002).

2 Steiner und Kaiser (2017).

dung ist die Wirkung nicht eindeutig – nur die administrativen Ausgaben sind geringfügig zurückgegangen.3

Eine weitere Studie hat 2019 die Gemein- defusion im Kanton Glarus untersucht.4 In ei- nigen speziellen Bereichen fanden die Auto- ren zwar geringe Ersparnisse – diese gingen jedoch weitgehend auf die mit der Gemein- dereduktion einhergehende Reorganisation zwischen Kanton und Gemeinden zurück. Sie wären daher auch ohne die Fusion möglich gewesen.

Alle erwähnten Untersuchungen verwen- deten moderne ökonometrische Verfahren – wie etwa die synthetische Kontrollmethode.

Insgesamt zeigen sie: Die wirtschaftlichen Vorteile der Gemeindefusionen sind wirt- schaftlich gering und häufig sogar inexistent.

3 Studerus et al. (2020).

4 Hofmann und Rother (2019).

Abstimmungstafel vor dem Gemeindehaus in Glarus – einem der drei verbliebenen im Kanton.

KEYSTONE

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GEMEINDEFUSION

Die Volkswirtschaft   3 / 2021 37 Sie können somit nur schwerlich als gewich-

tiges Argument für Gemeindezusammen- schlüsse dienen.

Offen bleibt, ob infolge der Aufhebung von historisch gewachsenen Gemeinden die emotionale Bindung der Bevölkerung an die politischen Prozesse beeinflusst wird. Dazu haben wir deshalb die Stimmbeteiligung vor und nach der Gemeindezusammenlegung im Kanton Glarus untersucht. Die Stimmbeteili- gung ist ein gut geeigneter Anhaltspunkt da- für, wie eng die Beziehung der Stimmberech- tigten zu der in der Schweiz gängigen Demo- kratie ist. Deshalb ist die von uns analysierte Veränderung der Stimmbeteiligung infolge der Gemeindezusammenschlüsse besonders relevant.

Abstimmungen als Indikator

In unserer Studie haben wir die Stimmbetei- ligung bei eidgenössischen Abstimmungen vor und nach 2006 miteinander verglichen.

Dazu betrachteten wir die beiden Zeiträume 1971 bis 2005 und 2006 bis 2019. In der ers- ten Periode betrug die Stimmbeteiligung im Kanton Glarus 41,3 Prozent. In der zweiten Pe- riode sank sie um 4 Prozentpunkte. Diese Ab- nahme deutet auf eine loser gewordene Be- ziehung zwischen Stimmvolk und Politik hin.

Die Befürchtungen der Fusionsgegner schei- nen sich somit zu bewahrheiten.

Nun könnte argumentiert werden, dass in jüngster Zeit in der Schweiz insgesamt die Stimmbeteiligung gefallen sei und deshalb der Rückgang im Kanton Glarus einem allge-

meinen Trend entspreche, der nicht auf die Gemeindezusammenlegung zurückgehe. Die Statistiken zeigen jedoch ein anderes Bild. In der Gesamtschweiz betrug die Stimmbetei- ligung im Zeitraum vor dem Entscheid 43,2 Prozent und stieg im zweiten Zeitraum um 1,9 Prozentpunkte. Der Unterschied zwischen der Gesamtschweiz und dem Kanton Glarus beträgt damit insgesamt 5,9 Prozentpunkte – zuungunsten des Kantons Glarus.

Allerdings ist dieser Vergleich etwas frag- würdig, weil sich die demografische und wirt- schaftliche Zusammensetzung im Kanton Glarus stark von derjenigen in der Gesamt- schweiz unterscheidet. Aus diesem Grund haben wir die Stimmbeteiligung im Kanton Glarus mit denjenigen in den umliegenden Kantonen St. Gallen, Uri, Schwyz und Grau- bünden verglichen, da deren demografische und wirtschaftliche Zusammensetzung ver- gleichsweise ähnlich ist (siehe Abbildung).

Dabei zeigt sich: In den Nachbarkantonen stieg die Stimmbeteiligung an eidgenössi- schen Abstimmungen zwischen den beiden Perioden um 1,2 Prozentpunkte auf durch- schnittlich 42,6 Prozent. Die Differenz – zu- ungunsten von Glarus – beträgt somit 5,2 Prozentpunkte.

Zusammenfassend lässt sich feststellen:

Die erwarteten finanziellen Vorteile von Ge- meindezusammenschlüssen sind gering und in manchen Fällen nicht feststellbar. Hin- gegen ist die Stimmbeteiligung im Falle des Kantons Glarus, wo die Zahl der Gemein- den bei Weitem am stärksten reduziert wur- de, deutlich gesunken. Dieser Rückgang deu-

Literatur

Hofmann, R., und Rother, N. (2019). Was It Worth It? The Territorial Reform in the Canton of Glarus. Swiss Political Science Review, 25(2), 128–156.

Lüchinger, S., und Stutzer, A. (2002).

Skalenerträge in der öffentlichen Kern- verwaltung. Eine empirische Analyse anhand von Gemeindefusionen. Swiss Political Science Review, 8(1), 27–50.

Steiner, R., und Kaiser, C. (2017). Effects of Amalgamations: Evidence from Swiss Municipalities. Public Management Review, 19(2), 232–252.

Studerus, J., Schaltegger, C.A., und Zell, L.

(2020). Do Municipal Mergers Increase Local Government Efficiency? Unver- öffentlichtes Manuskript.

Bruno S. Frey

Ständiger Gastprofessor für Volkswirt- schaftslehre, Universität Basel; Forschungs- direktor, CREMA – Center for Research in Economics, Management and the Arts, Zürich

Anthony Gullo

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, CRE- MA – Center for Research in Economics, Management and the Arts, Zürich

Andre Briviba

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, CRE- MA – Center for Research in Economics, Management and the Arts, Zürich

Stimmbeteiligung im Kanton Glarus und in Nachbarkantonen (1991 bis 2019) tet auf einen geringeren Bezug des Stimm- volks zur demokratischen Politik hin, was sich sogar im Ausmass der Stimmbeteiligung auf Ebene der eidgenössischen Abstimmungen auswirkt. Die emotionale Verbindung zum Wohnort hat sich vermindert. Diese bedauer- liche Entwicklung kann sich durchaus in den nächsten Jahren wieder umkehren, wenn die Bevölkerung sich an die drei neuen Gemein- den gewöhnt hat. Klar ist jedoch: Die weitere Entwicklung des Bezugs der Bürgerinnen und Bürger zu deren politischer Einheit sollte un- bedingt im Auge behalten werden.

BFS (JE-D-17.03.04.02) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

Bei der Stimmbeteiligung entspricht der angegebene Wert dem gleitenden Durchschnitt des aktuellen Jahrs und des Vorjahrs.

1992 1993

2002 1994

2005 2003 1995

2006 2008 2004

1996

2007 1997

2009 1998

2010 2013

1999 2011

2014

2000 2001 2012

2015 20162017

2018 2019   GL         SG, UR, SZ, GR

50 Stimmbeteiligung, in % 45

40 35 30

Beschluss Gemeindefusion in GL

Referenzen

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