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Frischmilch oder H-Milch?

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Das Orchester als Institution steht spätestens seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts immer wie- der aufs Neue im Mittelpunkt des diskursiven In- teresses. Zu groß ist seither der Graben zwischen den neuen musikalischen Anforderungen der Avantgarde und der bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschließlich auf Tradition beharrenden Institution Orchester gewachsen.

Die Ursachen hierfür sind in der erweiterten or- chestralen Besetzung, den neuen instrumental- technischen Herausforderungen und darüber hinaus grundsätzlich im neuen musikalischen Denken sowie den Anforderungen des Musik- marktes zu suchen, dessen Einfluss auf die Insti- tution Orchester sich in den vergangenen 60 Jah-

ren nachhaltig verstärkt hat. Zahlreiche Vertreter der europäischen Avantgarde meinten in den 1950er Aufbruchsjahren gar – eingebettet in die Bestrebungen, Fäden in die Vergangenheit grund- sätzlich abschneiden zu wollen –, das Orchester als „Überbleibsel bürgerlicher Musikkultur“ ganz und gar abschaffen zu müssen. Es ist daher auch gar nicht überraschend, dass Heinz-Klaus Metz- ger das 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert des Abschaffens denn des Schaffens bezeichnete.

Und noch 1994 (!) ließ sich die nmz (5/1994, S. 3)da- zu hinreißen, zu behaupten: „Die Zeit der großen Sinfonieorchester des 19. Jahrhunderts mit ihren romantischen Helden, den Stardirigenten, ist vor- bei. Sie wäre unter normalen Umständen auch schon längst abgelaufen, wenn sie nicht bis heute konserviert geblieben wäre durch die Unterstüt- zung der hierarchischen Organisationsstruktur...“

Die 1968er Generationwiederum schoss sich auf den vermeintlich antidemokratischen Charak- ter der Orchesterstruktur ein und forderte nach- haltige Veränderungen, ohne die das Orchester keine Überlebenschance hätte. Eingefordert wur- de mehr Selbst- und Mitbestimmung sowie höhe- res Selbst- und Verantwortungsbewusstsein aller Orchestermusiker. Dieser Prozess stand im Einklang mit dem verstärkten Nachdenken über die 68er Vorwürfe des Elitären und Elfenbein- turmhaften der Avantgarde. Kompositionen, die vor diesem Hintergrund sich klanglich manifes- tierten, sind u.a.Mitbestimmungsmodell für ˘

Frischmilch

oder H-Milch? Das Orchester

Bestandsaufnahme einer Mutation aus der Perspektive eines Festivalmachers

Armin Köhler

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Hyperion, Konzert für Licht und Orchester (Donaueschingen 2006)

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Als erfahrener Musiker, derartige Probleme vorausahnend, komponierte Vinko Globokar ein Werk, worin er genau solche sozialen Probleme und Fragen ins Zentrum der Dramaturgie seines Stückes stellte, die so manchen Konflikt bei den Uraufführungen zwischen 1950 und 1970 herauf- beschworen hatten. Anders als Michael Gielen betrachtet er in einem Interview heute nach mehr als 40 Jahren rückblickend das Projekt allerdings als „nicht gescheitert“ (Globokar, 2. Juli 2009, Interview mit SWR2). Nach eigenen Worten versuchte er mit sei- nem Orchesterentwurf „...das innere Getriebe die- ser mächtigen Institution zutage zu fördern und dabei einige Antworten auf die Frage nach der Funktion dieser prunkvollen Einrichtung für das zeitgenössische Musikschaffen zu finden. Warum nicht ein Stück herstellen“, fragte er sich, „das von soziologischen Fragen ausginge und viel- leicht ein wenig Licht in jenes dunkle Loch bräch- te, das zwischen dem Orchester gähnt und den zahlreichen Komponisten, die eine Zusammenar- beit anstrebten. – So entstand das Werk Das Or- chestermit dem Untertitel „Materialien zur Dis- kussion eines historischen Instruments“. (Globokar, in: Einatmen, Ausatmen, Wolke 1994, S. 140)Während Michael Gielen in Mitbestimmungsmodell für Orchester eine eher positive, ja geradezu optimistische Ein- stellung in dem Sinne vertritt, dass er die Orches- termusiker in seinem Werk an der Ausarbeitung eines nicht von vornherein festgelegten Resultats beteiligen wollte, ging es Globokar eher darum, auf bestehende psycho-soziale Tatsachen hinzu- weisen und äußerstenfalls „die Musiker sprechen zu lassen, auf die Gefahr hin, am Ende nur Wörter und keine Musik zu erhalten“. (Globokar, ebenda)Und so hat Globokar Situationen organisiert, die sei- tens der Musiker deutliche Stellungnahmen pro- vozierten, mögliche Teilnahmeverweigerungen inbegriffen. Vor der eigentlichen Arbeit am Stück hat er zudem weitere Auskünfte zu diesem Thema eingeholt: „Ich wandte mich an rund sechzig Komponisten, zehn Orchesterleiter, einige Musik- wissenschaftler und Orchestergeschäftsführer mit der Bitte, sie möchten auf zwei oder drei Seiten ihre Überlegungen zu folgender Frage mitteilen:

‚Wie ist die Funktion des institutionalisierten (Berufs-)Orchesters in unserer Gesellschaft und wie sieht sein Verhältnis zum zeitgenössischen Musikschaffen aus?’ Ich erhielt rund fünfzig Brie- fe. Eine kleine Minderheit sah alles durch die rosa Brille und ließ es nicht an Lob und Optimismus fehlen. Die meisten Antworten aber ließen einen

tiefen Konflikt erkennbar werden, zeigten sich kri- tisch und pessimistisch (...) Zu lesen war auch, das Orchester sei nun einmal ein Museum, oder – umgekehrt – man müsse es aufbrechen, es flexi- bel und multifunktional machen... “ (Globokar, eben- da)Bemerkenswert in den Berichten von Globokar, Gielen und Schnebel ist die Übereinstimmung in der Einschätzung der damaligen Situation durch die Orchestermusiker: Diese beklagten sich so- wohl über die „Aggressivität“ der Neuen Musik, die die Menschen „nervös“ machen würde als auch über die vermeintlichen Defizite in der Qua- lität der Instrumentation der vorliegenden Werke.

Kurzum, die Orchestermusiker waren der Meinung, dass sich nicht das Orchester in einer Krise befän- de, sondern der Stand des Komponierens – der klassische Umkehrschluss.

Eine Lösung des Problems dieses Phänomens fand Globokar durch die Veröffentlichung von Ver- weigerung. Bei der Aufführung von Das Orchester wäre unter bestimmten Voraussetzungen folgen- de Spielanweisung zum Tragen gekommen: „Die- ses Stück hat eine innere Entwicklung, die zu Si- tuationen und Betätigungen führt, die Sie viel- leicht nicht akzeptieren werden. Wenn Sie im Lauf des Werkes an eine Stelle gelangen, die Ihnen ab- surd, unspielbar, entwürdigend oder – möglicher- weise aufgrund Ihres Vertrages – inakzeptabel erscheint, spielen Sie nicht. Aber ich möchte dann mit Ihnen ein Interview über die Gründe ihrer Weigerung durchführen. Anstelle der Musik, die Sie nicht spielen wollen oder können, werden diese Interviews dann über Lautsprecher im Saal wiedergegeben.“ (Globokar, ebenda, S. 151)Das Resultat dieser Spielanweisung war, dass schlussendlich bei beiden Aufführungen, die dieses Stück erleben durfte, durchaus die ungewöhnlichsten Spielan- weisungen akzeptiert und umgesetzt wurden.

Schließlich war auch den traditionsbewusstesten Orchestermusikern klar, dass ihre Argumente in der Öffentlichkeit kaum Verständnis finden würden. Auch Dieter Schnebel transformiert in ΟΡΧΕΣΤΡΑsoziale Bedingungen in die musikali- sche Dramaturgie und Aufführungspraxis. Auf dem Skizzenblatt notierte er: „Orchester ungefähr wie Gesellschaft aufgebaut: Aufsichtsrat, Chef, Angestellter, Arbeiter. Es gibt Rollen, Identifika- tionen (mit Philharmonikern), massenpsychologi- sche Phänomene, Entfremdungsphänomene (Hass auf...); Präformierungen = gesellschaftlich/˘

Orchester(1971) von Michael Gielen, Das Orches ter (1974) von Vinko Globokar, morendo(1975) von Mathias Spahlinger, in dem er versuchte, ge sell- schaftliche Zwänge und Mechanismen auf der Symbolebene des Orchesters darzustellen, Renga und Appartment House 1776(1979) von John Cage, ΟΡΧΕΣΤΡΑ(1973-77) von Dieter Schnebel und Modelle/Prototypen(1973) von Hans Zender/Rolf Gehlhaar. Bei dem letztgenannten Stück handelt

es sich um musikalische Entwürfe, die die Phan- tasie der Musiker durch Modelle, die sie selbst ausführen dürfen, aktivieren und (anders als viele andere Stücke jener Zeit) den Werkgedanken bewahren. „Ich wollte mit diesem Material dem Musiker etwas zum ‚Spielen’ geben, ganz wörtlich zum ‚damit spielen’ – man kann diese Modelle ja in den verschiedensten Instrumentationen spielen, es gibt da keine Festlegung. Sie eignen sich ebenso zur kammermusikalischen Wiederga- be mit fünf oder sechs Musikern wie zur orches- tralen mit mehreren Musikgruppen. Es hat mich gereizt, ein Stück zu schreiben, mit einem einfa- chen Grundmaterial, das eine Fülle von Ausle- gungsmöglichkeiten zulässt, nicht nur instrumen- tatorisch, sondern auch in der Wahl der Kanons, im Einsatzabstand...“ (Zender, in: Musica, 1977, S. 312)

Immerhin wurde das Stück in unterschiedlichen Konstellationen nach der Uraufführung in Saar- brücken noch in Kiel, Berlin und Frankfurt aufge- führt. Andere Projekte, wie jenes von Michael Gielen, haben die Uraufführung nicht überdauert.

Jedenfalls ähneln sich die Erfahrungsberichte, die Gielen, Globokar und Schnebel zu den Auffüh- rungen ihrer Stücke lieferten, wie ein Ei dem an- deren: Immer wurde der Einstudierungsprozess mit nachhaltigen, nicht immer konstruktiv geführ- ten Diskussionen unterbrochen, und immer schei- terten die Aufführungen letztendlich an den Un- vereinbarkeiten und Divergenzen zwischen den

Ansprüchen des Komponisten und jenen des Or- chesters. Michael Gielen hierzu: „Es ist schon ein Teil der Problematik, dass sich in die Planung ei- nes Orchesterstücks die Idee der Mitbestimmung hineingemischt hat, und das, was jetzt vorliegt, ist insofern schon etwas Hybrides, weil einerseits eben musikalische Vorstellungen von mir dem zu- grunde liegen, was da als Partitur besteht, und dass ich mir vorgestellt habe, dass die Mitbestim- mung darin besteht, dass die Musiker, die das Werk ausführen, zu diesem Text sich musikalisch verhalten würden. Die Verhaltensweise wäre drei- fach: entweder positiv, also einfach die Ausfüh- rung des Notierten, oder negativ, also durch zer- störende Aktion, die wahrscheinlich dem, was gerade exponiert wird, im Charakter völlig entge- gengesetzt wäre, oder neutral, durch Enthaltung.

Deshalb habe ich auch schon in der Gebrauchs- anweisung geschrieben, eine extreme Realisie- rung wäre, dass überhaupt niemand spielt – die völlige Weigerung. Das empfände ich als ganz le- gitim. Meine Idee war es, dass sich die Mitbe- stimmung nur auf der Ebene der Musik abspielt und dass nur unterschwellig die Vergewaltigung der Musiker durch die Institution Orchester und ihre Auflehnung dagegen, soweit sie vorhanden ist, oder ihre Reaktion auf die verinnerlichte und schon längst unbewusste Vergewaltigung durch diese autoritäre Struktur sich äußern kann. Ein weiterer innerer Widerspruch der Sache ist, dass sie auf eine Aufführung vor Publikum abzielt, auf ein Konzert ... Das Scheitern dieses Projektes liegt darin, dass die psychologische Umstellung auf diese sehr komplizierte Anforderung schwie- rig ist, dass die Spielregeln zu spät bekannt und dann teilweise missverstanden wurden.“ (Michael Gielen, in: Musica 1977, S. 312)

Fernsehproduktion Karlheinz Stockhausen, INORI, 1974

Dieter Schnebel, Probe zu ΟΡΧΕΣΤΡΑmit Ladislav Kupkovič

Dieter Schnebel diskutiert mit Musikern des WDR Orchesters

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sungsvollen Titel „Sinfonieorchester in einer ver- wandelten Welt“ machte Karlheinz Stockhausen darauf aufmerksam, dass bestimmte satztechni- sche Masseneffekte im Streichersatz vom Ring- modulator übernommen werden könnten: „Die Konsequenz aus der Tatsache, dass da 100 Mann zur Verfügung stehen, weil sie da sitzen und be- schäftigt werden müssen, hat immer mehr dazu geführt, dass das, was ich 1954 als sogenannte statistische Kompositionsmethode in die Musik eingeführt habe, zunehmend an Bedeutung ge- wann. Das Orchester, insbesondere der Streicher- satz, wuchs durch die immer größer werdenden Säle. Die wenigen tragenden Streicherstimmen bei einer Beethovensinfonie zum Beispiel, wur- den nur aus akustischen Gründen verstärkt. Im Grunde entspricht dieses Verfahren der Methode der Amplitudenmodulation. Ich glaube, dass man solche Masseneffekte, die zur Zusammensetzung eines übergeordneten Klangphänomens auf der Multiplikation nicht wesentlicher Individuen beruht, in Zukunft sehr einfach mit Hilfe des Ring- modulators mit Lautsprechern und Tonbändern realisieren kann.“ Erstaunlicherweise bestätigte er auf Nachfrage aus der Gesprächsrunde, dass der Lautsprecher im Orchester nur ein Instrument des „Übergangs“ sei. „Wir müssen davon wieder wegkommen.“ (Stockhausen, Donaueschinger Musiktage 1971, Archivband des SWR)

Allein bei den Donaueschinger Musiktagen gab es in den vergangenen 40 Jahren zwei öffentliche Gesprächsrunden, bei denen das Orchester im Mittelpunkt stand. Während die erwähnte Runde des Jahres 1971 schon in ihrer grundsätzlichen Fragestellung substanziell tiefer in die aufzuar- beitende Materie ein-

drang, beließ es jene des Festivaljahrgan- ges 1996, geleitet von Ulrich Dibelius, kli- scheehaft bei Vorur- teilen, nivellierte die damals anstehenden Probleme und über- ließ der Kritik am Ausbildungsbetrieb der Musikhochschu- len sowie – als Spät- folge der politischen Wende 1989 – an den Orchesterauflösungen jener Zeit einen brei- ten Raum. Letzteres war verständlich, wurden doch zwi-

schen 1989 und 1996 insgesamt 35 Orchester auf- gelöst oder fusioniert, gingen mehr als 2000 Or- chesterstellen verloren. Die meisten davon in den neuen Bundesländern und das, obwohl der Eini- gungsvertrag in Artikel 35 vorsieht, dass die kul- turelle Substanz im vereinten Deutschland keinen Schaden nehmen darf. Kompositorische Proble- me wurden von jener Runde bedauerlicherweise gänzlich ausgeklammert. Der von Otto Tomek ge- leiteten Runde 1971 hingegen war von vornherein klar, dass eine neue Konzeption von Orchester-

musik nötig ist, „und dass eine solche nicht ge- gen die Sinfonieorchester durchgesetzt werden soll und kann. Sie wird, wenn es überhaupt gelin- gen kann, nur durch eine Aktivierung der Orches- ter selbst vollzogen werden können“. (Tomek in der Runde von 1971, Archivband des SWR)

Den Fokus ausschließlich auf das Werk und seine in Papier geronnene Form richtete in der Gesprächsrunde von 1971 die von Carl Dahlhaus vorgetragene Analyse der Situation: „Die Entwick- lung des Orchesters“, so Dahlhaus, „hängt ab von der Entwicklung des Orchestersatzes, also der Instrumentation“. Das mag im Kern wohl der kompositorischen Realität entsprechen, greift aber zu kurz. Denn die Entwicklung des Orches- ters ist zugleich immer auch eine Entwicklung der

„Institution Orchester“. Zu schreiben wäre im 20.

Jahrhundert auch eine Geschichte des Scheiterns an der „Institution Orchester“. Wie das Konzert- wesen ist das Sinfonieorchester eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts: Aus ad hoc-Ensembles von Berufsmusikern und Dilettanten (!), wie es sie noch zu Beethovens Zeiten gab, entwickelten sich die Berufsorchester, systematisch aufgebaut und spezialisiert für die Ausführung der großorches- tralen Werke des 19. Jahrhunderts von Beethoven bis Mahler. Orchesterhierarchien, vom Konzert- meister über den Solobläser bis zum Tuttisten, eine eigentlich sachfremde Ausbildung des Orchester- musikers und eine rigorose, für die soziale Siche- rung des Musikers notwendige, aber nicht immer mit künstlerischen Prioritäten zu vereinende be- rufsständische Politik haben im 20. Jahrhundert die „Institution Orchester“ immer mehr zu einem starren, vielfach unflexiblen Apparat gemacht.

Gewiss: ein Komponist muss sich a priori zu- nächst einmal ausschließlich auf den Apparat, den „Klangkörper Orchester“ konzentrieren, um seine klanglichen Ideen umsetzen zu können.

Mit zunehmender Kommerzialisierung und der Expansion der Konsumgesellschaft, mit zuneh- mendem Einfluss neuer Medien und mit wach- sender Ausdifferenzierung der orchestralen Ent- würfe wurde jedoch auch offenkundig, dass die Anforderungen der „Institution Orchester“ von vornherein in das Konzept eines neuen Werkes ˘ politisch (s. oben Rollen Identifikationen); = äs-

thetisch (gefühlsmäßig) Hängen an bestimmter Musik, Hass auf....; Hörer/Zuschauer: erfährt ver- änderte Situation – dass eine Gesellschaft ande- res Verhalten zeigt.“ (Gisela Nauck, Dieter Schnebel, Lese- gänge durch Leben und Werk, Schott, S. 208)Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die grundsätzlichsten Aus- einandersetzungen zwischen Schnebel und dem WDR Sinfonieorchester nicht auf den musikali- schen Spielanweisungen basierten, sondern sich vornehmlich am Schnebelschen Vorwort zur Parti- tur entzündeten. Nachdem Schnebel sich weiger- te, dieses Vorwort zurückzunehmen, einigte man sich auf den Kompromiss, am Aufführungsabend eine Erklärung des Orchestervorstandes im Auf- führungssaal zu verbreiten. Ein Blick in diese ver- mittelt einen aufschlussreichen Eindruck der so- zio-psychischen Konstellation der Musiker eines tarifgebundenen Orchesters jener Zeit: „Nach zweiwöchiger Vorbereitungszeit sehen wir keine Möglichkeit der Identifikation mit dem im Vorwort des Komponisten erhobenen Anspruch an die Musiker und der komponierten Realität. Es steht außer Diskussion, dass unser Orchester nicht bereit wäre, neue Aufführungspraktiken zu erler- nen, wie das bislang bei unserer reichhaltigen Er- fahrung mit zeitgenössischer Musik stets der Fall war. Jedoch erscheinen uns Ansprüche wie: Im- provisationsartiges (lustbetontes!) Musizieren, selbständige, sensible Gestaltung, Entfaltung von Instrumentalvirtuosität, im Verhältnis zum ange- botenen Material als überzogen. Diesen Ansprü- chen unterwirft sich jeder Musiker in seinem Ent- wicklungsprozess. Herr Schnebel scheint anzu- nehmen, dass diese Lernprozesse erst anhand seines Stücks nachvollziehbar sind. Uns erscheint

viel eher, dass das angebotene Material durch verbale Ansprüche aufgewertet werden muss.

Ungeachtet dieser Einwände werden wir uns be- mühen, dieses Werk angemessen zu realisieren.“

(ebenda S. 214)

Die Deklassierungdes Vorworts von Schnebel als „verbalen Anspruch“ hat ihren Ursprung in dem von der conceptual art geprägten Denken, das sich hinter diesen kompositorischen Ansät- zen verbirgt, das – ganz anders als in der Bilden- den Kunst – im musikalischen Diskurs damals überhaupt keine Rolle spielte, geschweige denn als künstlerische Ausdrucksform Anerkennung fand. Bei allen Missverständnissen seitens der Orchestermusiker muss auf der anderen Seite aber auch auf den positivistischen Ansatz gewis- ser musikalischer Konzepte in jener Zeit hinge- wiesen werden. Meinten doch auf Grund der An- fangs-Euphorie für das neue Medium Elektronik viele Komponisten in bilderstürmischer Manier bereits in den frühen 1950er Jahren, dass das Or- chester, ja mechanische Instrumente überhaupt, in Zukunft gänzlich überflüssig werden würden.

Diese Phase der Radikalisierung währte nicht lan- ge; zu offenkundig waren die Vorzüge des leben- digen Organismus Orchester, zu defizitär in der Klangqualität und im zeitlichen Aufkommen der damalige Umgang mit der Elektronik, um aus ei- nem Klangatom ein ganzes Klanguniversum gott- gleich aus einer Hand zu exponieren. Was aber blieb, war das Bestreben, zumindest Teile des Orchesterapparates durch elektronische Mittel zu ersetzen. In einer Gesprächsrunde während der Donaueschinger Musiktage 1971 mit dem verheis- 10|11

Partiturausschnitt Vinko Globokar, Das Orchester

Vinko Globokar: Diskussion mit Orchestermusikern anlässlich der Aufführung von Das Orchester, Köln 1974

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mit eingeschrieben sein müssen, sind deren Strukturen wie Pro- grammierung, Probenplanung, Dienstpläne, Management, Konzert- folge, berufsständische und gewerkschaftliche Vorschriften, aber auch solche nur scheinbaren Randbezirke wie Kleiderordnung, Kar- tendistribution u.ä. doch zu verfestigt. Wer für den „Klangapparat Orchester“ komponiert, sollte wissen, dass er der „Institution Or- chester“ ausgeliefert ist – mit Haut und Haaren. Um sich diesem Dilemma zu entziehen, muss man sich nicht gleich dem großen ano- nymen Markt verpflichtet fühlen, dessen oberstes Gebot die Waren- förmigkeit und die Standardisierung der Ware ist, wie es zahlreiche (nicht nur amerikanische) Komponisten tun, wenn sie den Schwie- rigkeitsgrad ihrer Partitur einzig und allein den Probenbedingungen der „Institution Orchester“ anpassen und so komponieren, dass ihr Stück nach einer einzigen Probe zur Uraufführung gebracht werden kann. Konzeptionell notwendige, weil tiefgreifende Fragen nach dynamischer Stabilität und adaptiver Variation, Gleichgewicht und Störung, Kontinuität und Diskontinuität werden bei diesen auf Handwerkskunst ausgerichteten Konzepten wohl kaum eine Rolle spielen. Dabei sind es doch genau derartig dialektische Ansätze, die das festgefahrene Gefüge aus den Angeln zu heben vermögen.

Und um ein solches handelt es sich, wenn wir vom „Wirkungsraum Orchester“ sprechen. Dieser umfasst das gesamte öffentliche Mu- sikleben: die Konzert-säle, deren auf diesen Apparat abgestimmte Anlage und Struktur als repräsentative Musentempel, die sich im 18. Jahrhundert herausbildeten und auch heute noch ausschließ- lich die maßgeblichen Konzerthaus-Neubauten bestimmen, die Verlage, Veranstalter und Konzertagenturen, die Konzerte aus wirt- schaftlichem Interesse veranstalten und gegenwärtig gezwungen sind, auf die veränderte mediale Situation zu reagieren, das Publi- kum, das bestimmte Erwartungen an Orchestermusik stellt und das sich in der Funktion von Abonnenten und Förderern indirekt ein Mitspracherecht am Orchester verschafft hat, die Schallplattenfir- men, die, trotz aller vom Internet verursachten aktuellen Probleme, mit ihrer merkantilen Politik nachhaltig in die Spielpläne eingrei- fen, bis hin zu den Ausbildungsstätten für den Nachwuchs. Fazit:

Eine Analyse der Orchestersituation muss das dichte Geflecht un- terschiedlicher, sich bedingender Interessengruppierungen, die systemstabilisierend auf die „Institution Orchester“ einwirken, mit einbeziehen.

Insbesondere diereale Konzertsituation mit ihrer speziellen Mas- senkonstellation zeigt, wie komplex und kompliziert Strukturwand- lungen im Klangapparat, der ja nur den Kern der Institution aus- macht, sind. Schließlich haben wir es mit dem Orchester auf der Bühne einerseits und dem Publikum im Saal andererseits nicht nur schlechthin mit einer Doppelmasse zu tun, also mit zwei Massen, die einander bedingen, die einander brauchen – nach Canetti die sicherste und oft einzige Möglichkeit für die Masse, sich zu erhalten

(Elias Canetti, "Masse und Macht", Erster Band, Carl Hanser Verlag 1963, S. 66)–, son- dern mit einer ganz besonderen Art von Masse, die Canetti als

„geschlossene“ oder „stockende“ bezeichnet, deren natürliches oberstes Gesetz die Beständigkeit ihrer Strukturen, die Respektie- rung und der Schutz ihrer inneren und äußeren Grenzen ist. Aber gerade darin könnte die Chance für Veränderung liegen, denn „die stockende Masse ist passiv, sie wartet auf den Kopf, der ihr gezeigt werden soll“ (ebenda, S. 32); nur: der Anstoß muss von außen kommen und muss alle systembildenden Faktoren berühren. Der Musiker des Orchesters selbst ist nur die Spitze des Eisbergs. Viel entscheiden- der ist es, Wege zu finden, die nachhaltig in das Bedingungsgefüge der Doppelmasse eingreifen, dieses aufweichen, destabilisieren und neu orientieren. Eingriffe in nur eine der beiden Seiten werden allerdings, das lehrt uns zumindest Canettis Massentheorie, ins Leere laufen. Vorrangig gilt es, die Konsumentenkultur dieser Dop- pelmasse zu reformieren, deren Gefüge nicht von einem künstleri- schen Konzept bestimmt wird, sondern von der Konzentration und Fixierung auf sich selbst sowie auf das Konsumverhalten. Wenn man die Entwicklung der letzten 60 Jahre objektiv analysiert, kann nicht verschwiegen werden, dass von den meisten Entscheidungs- trägern der Orchester sehr wohl erkannt wurde, dass das Orchester ˘ Karlheinz Stockhausen bei der Probe mit dem SWR Sinfonieorchester

Baden-Baden und Freiburg zu INORI(Donaueschingen 1974)

Karlheinz Stockhausen und Otto Tomek bei der Diskussionsrunde

„Sinfonieorchester in einer verwandelten Welt“ bei den Musiktagen 1971

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Carlos Roque Alsina, Überwindung(Donaueschingen 1970)

Pierre Boulez dirigiert das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Donaueschingen 2008)

Das Orchester der Zukunft?:

Mauricio Kagel, Zwei Mann Orchester(Donaueschingen 1973) Dieses Klangobjekt war der Beitrag Mauricio Kagels zu Vinko Globokars soziolgischer Untersuchung von Das Orchester

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ein historisch gewachsener und darum veränder- barer Organismus ist, der sich nur dadurch legiti- miert, dass er für alle Partner des Rezeptionspro- zesses immer wieder neue Möglichkeiten von mu- sikalischer Erfahrung schafft.

Schon 1996hatte ich in meinem Artikel im Programmbuch der Donaueschinger Musiktage danach gefragt, „ob der Ausgangspunkt der Reformen jene Gruppe sein kann, die Canetti als Massenkristalle bezeichnet, eine kleine, rigide Gruppe von Menschen, fest abgegrenzt und von großer Beständigkeit, die dazu dient, Massen aus- zulösen (Elias Canetti, "Masse und Macht", Erster Band, S. 79), und die daran interessiert ist, die innere Struktur dieser Massen zu bewahren. Zu ihnen zählen die Orchestermanager, Dramaturgen, Intendanten, Dirigenten, Kulturpolitiker in verantwortlicher Position, Architekten neuer Konzerthäuser oder Dozenten an den Ausbildungsinstituten“. Die Gründung des Peter-Eötvös-Instituts zu Beginn der 1990er Jahre war ein wichtiger Schritt in der Aus- bildung junger, hoffnungsvoller Dirigenten, die als maßgebliche Multiplikatoren in das Gefüge einzugreifen vermögen. Die neue Generation von Entscheidungsträgern hat also gewiss schon eini- ges in Bewegung gesetzt. Die Frage ist nur, ob der gegenwärtig sich abzeichnende Aktionismus auf der Vermittlungsebene und die Konzentration auf das Marketing die strukturellen Probleme der

„Institution Orchester“ wirklich zu lösen vermö- gen. Zweifel sind da durchaus angebracht. Zu sel- ten noch wachsen diese Projekte aus der Musik selbst heraus, zu häufig wird stattdessen von Zielgruppen und Marketing gesprochen, zu ein- seitig die Aufführung als Produkt begriffen. Wie immer man die Berufung des Medienmanagers Martin Hoffmann zum neuen Intendanten der Berliner Philharmoniker auch werten mag, sie ist eine Entscheidung mit Signalwirkung – da kann man der Pressemitteilung der Deutschen Orches- tervereinigung nur zustimmen: "Wenn auch die Entscheidung der Berliner Philharmoniker für ei- nen reinen Managerintendanten auf den ersten Blick überraschend erscheinen mag, ist sie auf den zweiten Blick absolut nachvollziehbar und konsequent“, meint Gerald Mertens, Geschäfts- führer der Deutschen Orchestervereinigung. „Die Berliner Philharmoniker haben als internationales Spitzenorchester und als Organisation im Bereich der Innovation Vorbildcharakter. So setzen das Education-Projekt ‚Zukunft@Bphil’ oder der Kon- zertsaal im Internet (Digital Concerthall) interna- tional Maßstäbe. Die Entscheidung gegen einen Künstlerintendanten und für einen Managerinten- danten zeigt, wohin die Reise geht“, stellt Mertens fest. „Die Musik- und Kunstproduktion der Orches- ter und Theater hat in Deutschland höchste Quali- tät. Allerdings muss sie auch professionell ver- marktet werden. Da gibt es an vielen Standorten noch einigen Nachholbedarf“, so Mertens ab- schließend. (Pressemitteilung vom 19.6.2009)Man muss kein Kulturpessimist sein, um die potenzierte Macht des Marktes auszumachen. Alles wird von ihm gefressen – in zunehmendem Maße auch das, was Kunst überhaupt ausmacht. Ein Unter- nehmensberater hat zur diesjährigen Orchester-

konferenz im Erfurter Kaisersaal die Kulturwirt- schaft mit dem kriselnden Automarkt verglichen.

Hier wie dort gäbe es ein Überangebot, in beiden Bereichen werde es in der Zukunft zu einer „Markt - bereinigung“ kommen. (zitiert nach nmz, Juni 2009. S. 1)

Das Orchester – ein Autohaus: Deutlicher kann die einseitige Ökonomisierung des europäischen Kulturlebens nicht zum Ausdruck gebracht wer- den. Es steht zu befürchten, dass die gegenwärti- ge Finanzkrise diesen Prozess nicht zum Stoppen bringen wird.

Nicht zuletztdurch die durch die Digitalisierung ausgelöste Perfektionshypertrophie haben sich in den letzten Jahrzehnten die Konflikte des (Or- chester)Musikerberufs verstärkt. Dazu zählen auch zwei elementare Polaritäten: An erster Stelle steht das psychologische Problem, ja die offene Unmöglichkeit, dass der Orchestermusiker eigentlich zwei Berufe in Anspruch nimmt: als Person jenen des freien Künstlers und als bestall- ter Orchestermusiker den des Beamten. Pole, die zugleich auf die Dualität Künstler oder Handwer- ker zielen und die Frage ins Spiel bringen, ob der Orchestermusiker austauschbarer Funktionsträ- ger einer anonymen Versammlung, bestenfalls Facharbeiter für Tonerzeugung oder schöpferi- sches Individuum, mithin kreatives Kettenglied des Kunstprozesses sei. Diesen Aspekt der ent- fremdeten Arbeit thematisiert Mathias Spahlinger in seinen für die diesjährigen Donaueschinger Musiktage komponierten Etüden für Orchester – nicht nur vermittels deren sehr spezieller Drama- turgie in der Anlage der Komposition, sondern expressis verbis durch den auf Karl Marx sich be- ziehenden Titel des Stückes: doppelt bejaht.Sol- che Entwürfe machen uns u.a. immer wieder auch bewusst, dass der um 1750 einsetzende ästheti- sche Wandel es in zunehmendem Maße mit sich brachte, dass im Apparat Orchester die Spieler quasi in mechanische Teile eines technischen Apparats verwandelt wurden, gleich den Regis- tern der Orgel oder Teilen des Cembalos. Die Etablierung des Dirigenten als einziger Persön- lichkeit, die sich individuell einzubringen ver- mochte, bis hin zum Starkult um diese Person zu Beginn dieses Jahrhunderts, verstärkte diese Ent- wicklung nachdrücklich.

Der andereDauerkonflikt entsteht aus dem Widerspruch von Masse und Individualität: Die Mitglieder eines Orchesters müssen gewöhnlich ihre Individualität der Herausbildung eines über- individuellen Instruments opfern. Man ist einer unter vielen und der notwendige und ersehnte persönliche Erfolg ist innerhalb des Orchesters nur verdeckt oder abgeschwächt zu erlangen. Alle diese Konflikte erfahren beim Umgang mit experi- menteller Musik des 20. Jahrhunderts eine Stei- gerung. Bei vielen avancierten Entwürfen des 20.

Jahrhunderts gibt es im Grunde gar keine Orches- terformation im üblichen Sinne mehr, sondern nur noch die Summe einzelner Stimmen. Jede ist dabei höchst individuell und virtuos geführt, geht jedoch in der Vielheit der Stimmen unter. Das löst häufig genug Frust beim ausübenden Musiker ˘

Ernest Bour und Saschko Gawriloff bei einer Orchesterprobe in Donaueschingen 1972

Christoph Grund und Kollege beim Präparieren eines Flügels

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Aus der Perspektive eines Fernorchesters: Roland Kluttig dirigiert das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Donaueschingen 2004)

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aus, weil die mühsam eingeübte, technisch höchst komplizierte Einzelstimme vom Moloch des „Über-Instruments“ förmlich aufgefressen wird, die übergroßen Anstrengungen des einzel- nen Spielers nicht ablesbar werden und es ihm nicht gelehrt wurde, einen Sinn in diesem Tun zu erkennen. Die Neugründungen von Instituten für Neue Musik an den Hochschulen von Frank- furt, Dresden, Stuttgart und Luzern sowie die Workshops der Donaueschinger Musiktage stellen sich dieser Problematik und tragen zur Bewusst- machung bei.

Vorschläge, die auf eine Veränderung der Or- chester-Situation hinzielten, hat es in den vergan- genen 40 Jahren immer wieder gegeben. Pierre Boulez brachte bereits 1971 mit der Übernahme der Chefposition bei den New Yorker Philharmoni- kern einen sogenannten „Sound pool“ ins Ge- spräch. Er meinte damit den Zusammenschluss von Sonderensembles wie für Alte Musik, Barock- musik, klassisch-romantische Musik oder Renais- sancemusik, die aufgehoben wären im großen

Orchester. Diese Sonderensembles wären mithin Ausschnitte aus einem großen, immer wieder an- ders teilbaren Orchester, auf das der Dirigent – je nach Programm – individuell zugreifen könnte.

Heute argumentiert Boulez eher gegen Speziali- sierungen und favorisiert dennoch mit dem En- semble Modern Orchestra ein Spezialorchester für Neue Musik, das er als „das Orchester der Zu- kunft“ bezeichnet: „...kein fest umrissener Klang- körper, sondern ein Pool von Musikern, ein Netz- werk. Jeder spielt noch in anderen Gruppen, die sich auf Barockmusik konzentrieren oder auf die Romantik oder auf zeitgenössische Musik. Wenn man sie zum Beispiel zu einem großen Mahler- projekt zusammen holte, würden sie zusammen etwas ganz Frisches machen. Die Individualisie- rung von Orchestermusikern finde ich sehr nötig.

Spezialisierungen, wie sie so selbstverständlich geworden sind, sollte man eigentlich vermeiden, weil man der Musik damit immer einen Teil ihrer Geschichte nimmt.“ (Frankfurter Rundschau, 28.9.2007)

Gewiss ein vielversprechender Ansatz. Die Auf- führungen der Alpensinfonievon Richard Strauss durch das Ensemble Modern Orchestra 2005˘

Sylvain Cambreling bei einer Probe mit dem SWR Sinfonie- orchester Baden-Baden und Freiburg (Baden-Baden 2004)

Donaueschingen 1974: Gloria Davy bei der Aufführung von Karlheinz Stockhausen, INORI

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belegen auf der anderen Seite aber auch, dass auf dieser Basis ein homogenes Klangbild des Orchesters, ein wesentlicher Aspekt bei der Inter- pretation eines solch romantischen Stückes, sich nicht herausbilden kann. Früher wurden solche temporären orchestralen Zusammenstellungen abschätzig als „Telefonorchester“ abgewertet, heute – mit den sechzigjährigen Erfahrungen des Beharrungswillens der „Institution Orchester“ – kann das Feuilleton einer solchen Konstellation wohl auch positive Seiten abgewinnen. Und wie herausragend in Klangbild, Spielfreude, Präzision und Musikalität dieses Verfahren funktionieren kann, zeigt das 2003 gegründete Lucerne Festival Orchestra von Claudio Abbado.

Die Idee eines Orchester-Pools würde Hans Zen- der hingegen nur als eine Notlösung akzeptieren, weil er glaubt, dass „die Idee eines Orchesters letztendlich eine organische ist. Also die Idee ei- nes Organismus – nicht nur im Sinne eines histo- rischen Bewusstseins, sondern auch im Sinne ei- nes menschlichen Zusammenhalts. Die Musiker - innen und Musiker sind ja nicht austauschbare Bauklötze, sondern sie sind lebendige Menschen, die sich mit ihren Programmen auch identifizieren können müssen. Wenn ich das aufgebe, dann würde der Zusammenhalt innerhalb des Orches- ters verloren gehen, ein Umstand, der sich bis in den Klang, bis in die Intonation, die Spielweise hinein auswirken würde. Ich bin der Meinung, dass dadurch das Wesen, das die große kulturelle Leistung des alten Europas ausmacht, verspielt werden würde. Auf jeden Fall wird mehr verspielt als gewonnen. Für eine lebendige Institution, in der Menschen ihre Berufszeit verbringen, wün- sche ich mir schon etwas anderes – nicht nur vom Sozialen her gedacht, sondern vom geistigen Potential. Denn ich denke, gerade für die Zukunft, dass wir verdammt und verpflichtet sind zu einem extremen multikulturellen Pluralismus. Dieser wird die Zukunft der Menschheit prägen. Und je mehr dieser durch unsere kulturelle Arbeit positiv besetzt wird, desto größer ist die Chance für die Zukunft“. (Hans Zender, Interview für SWR2 vom 6.7.2009, Meersburg)

Karlheinz Stockhausenmachte in der oben er- wähnten Donaueschinger Gesprächsrunde 1971 gleich drei Vorschläge, wie die Diskrepanz zwi- schen den Anforderungen der Komponisten und dem Beharrungsbestreben tariflich organisierter Orchester zu lösen wäre. An erster Stelle verweist er auf andere Berufsgruppen der Gesellschaft, bei denen Weiterbildungsveranstaltungen gang und gäbe sind und fordert derartige Veranstaltungen auch bei den Berufsorchestern. „Der Orchester- musiker, den ich kennen gelernt habe, ist nicht mehr auf dem Laufenden was seine Fachkennt- nisse betrifft; er ist auch psychisch und seelisch nicht mehr vorbereitet für das Musikerdasein. Er ist im wesentlichen ein Fabrikarbeiter. Ganz ein- fach, weil er nach der Uhr arbeitet, und weil er im Routinedienst abgenützt ist – der Künstler in je- dem einzelnen ist sehr früh frustriert worden... In allen anderen Berufen würde das sofort zu einer

Disqualifizierung führen; die Leute würden über kurz oder lang den Beruf wechseln müssen, sprich umgeschult werden. Damit dies nicht ge- schieht, machen in diesen Bereichen alle Ange- stellten Fortbildungskurse. Sie müssen umgehen können mit den sich permanent entwickelnden technischen Apparaturen, sie müssen ständig Fachliteratur studieren, um so mit ihren Kollegen konkurrieren zu können. Die pluralistische Pro- grammgestaltung hier in Europa bringt es mit sich, dass der Musiker immer nur soviel weiß und kann, wie er in den gerade studierten Stücken gelernt hat. Das, was vor ein oder zwei Jahren ein- studiert worden ist, wird wieder ausgewischt (technisch und psychisch), durch das, was er ständig neu und springend erarbeiten muss. Er kann also keine Kontinuität erreichen. Jeder Musi- ker sollte daher jedes Jahr zwei Monate einen Fortbildungskurs belegen. Da in diesem Kurs nicht nur seine Technik und sein Fachwissen und seine psychologische Bestimmtheit erneuert und erweitert werden soll, sollte der Kurs nicht an dem Ort stattfinden, an dem er jeden Tag arbei- tet.“(Stockhausen, Archivband SWR)Auf die Nachfrage, wer denn bei diesen Weiterbildungsveranstaltun- gen die Aufklärungsarbeit übernehmen solle, er- klärte er sich bereit, jeweils einen Monat seines jährlichen Zeitbudgets zur Verfügung zu stellen.

„Ein Komponieren, getrennt vom Orchesterda- sein, ist am Ende. Wir müssen gemeinsam labor- mäßig mit den Musikern arbeiten.“ (Stockhausen, ebenda)Auch auf diesem Gebiet ist einiges in Be- wegung geraten. Die Berichte von der diesjähri- gen Orchesterkonferenz in Erfurt belegen, dass offenkundig einige Orchestermanager mittlerwei- le die vitale Kraft von Personalentwicklung er- kannt haben, dass sich langsam die Erkenntnis durchsetzt, dass ihre Musiker Motivation brau- chen. Angedacht sind daher neuerdings Weiter- bildung, Mediation und Konfliktberatung. Es brauchte mithin 38 Jahre, bis sich Stockhausens Ideen in den Köpfen verantwortlicher Manager verankerten. In diesem Zusammenhang bin ich geneigt, mit Blick auf den Altmeister, doch noch- mals den abgegriffenen Begriff „Avantgarde“

hervorzukramen. Schließlich können wir in der Erfurter Erklärung von 2009 lesen: „Gezielte und strategische Personalentwicklung im Orchester könnte Potenziale im Sinne der Mitarbeiterzufrie- denheit, aber auch im Sinne des Gesamtbetrie- bes generieren. Motivierte Mitarbeiter, die in ihrer Berufsausübung nicht nur einen ‚Dienst’

sehen, sondern auch ihre persönliche Erfüllung finden, sind keine Utopie. Es bedarf allerdings eines Umdenkens im Management, aber auch in den Orchestern selbst, um substanzielle Verände- rungen und Verbesserungen herbeizuführen. Hier liegen Zukunftspotenziale für Orchester.“ Woher allerdings die finanziellen Mittel hierfür kommen sollen, steht noch in den Sternen.

Karlheinz Stockhausenforderte in der Donau- eschinger Gesprächsrunde 1971 nachdrücklich zudem die Erlernung eines zweiten Instruments,

„das ein modernes elektroakustisches Instrument sein sollte, um Klangfarben präziser darstellen zu können“. Dazu seien Teambildungen von ˘ Benedict Mason:felt/ebb/thus/brink/here/array/telling

(Donaueschingen 2004)

Sylvain Cambreling dirigiert Mark Andre... auf III ...

(Donaueschingen 2007)

22|23

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In einem kürzlichmit SWR2 geführten Interview distanzierte Eötvös sich mit Blick auf das damals von ihm favorisierte Orchester-Museum von sei- ner Haltung. Diese eher resignative Idee sei der damaligen Orchestersituation geschuldet gewe- sen. Heute verweist er auf die Lebendigkeit der Institution, die offensichtlich in der Lage scheint, sich aus sich heraus zu wandeln. Hierfür gäbe es eine Reihe positiver Beispiele. Auch Hans Zender betrachtet die Idee eines Orchesters als imaginä- res Museum als einen Irrweg. Schließlich besteht die kulturelle Identität eines Orchesters in seiner Mehrsprachigkeit der Stile und Epochen. „Aus dieser Mehrsprachigkeit entsteht erst ein musika- lisches Bewusstsein, das der Situation unserer Zeit voll gewachsen ist. Wenn ich diese Chance verschenke, zugunsten einer Spezialisierung, dann verschenke ich auch die Möglichkeit einer Neuentwicklung von Musik. Ich finde, dass man nicht das Ideal der europäischen Denkweise op- fern darf, die auf dem Bewusstsein beruht, dass sich eine Tradition über Jahrhunderte spannt, und dass diese Tradition nichts Statisches ist wie im Gagaku-Orchester in Japan oder im Gamelan-Or- chester, wo etwas sich fixiert, ja geradezu kristal- lisiert hat. Prägend für uns in Europa ist immer diese Mischung aus Fortschritt und Tradition und es sind die Reibungsflächen, die sich aus dieser Mischung ergeben. Und diese Art von evolutivem Bewusstsein gehört zum europäischen Denken.

Deshalb wäre ich gegen Programme, die so tun, als würde es sich um isolierbare, statische Be- wusstseinsfelder handeln.“ (Hans Zender, Inverview mit SWR2 am 6.7.09, Meersburg)

Man kannVinko Globokar nur zustimmen, wenn er das Sinfonieorchester als „Wunderwerk unse- rer Zivilisation“ beschreibt: „Eingeschliffener Ap- parat, disziplinierte Masse, die auf den bloßen Blick reagiert, unerhörte Klangfarbenpalette, Ver- sammlung guter Berufsmusiker, Meisterschaft, Sachverstand, Inbegriff von Ordnung, straffe ge- werkschaftliche Organisation, Wahrung der Tradi- tion, künstlerische Elite, Auswahl unter den Bes- ten, Ensemblespiel in seiner höchsten Form.“ (Vin- ko Globokar, in: Einatmen Ausatmen, Wolke-Verlag 1994, S. 139)

Über diese musikalischen Aspekte hinaus ist die- se Formation eine einmalige sozio-kulturelle Leis- tung des Abendlandes, ein einmaliges soziales Biotop, das es in dieser Kontextualisierung und diesem Anspruch in unserer Gesellschaft so nicht

nochmals gibt. Und wer hätte schon vor 60 Jahren gedacht, als man noch vom „Abschaffen“ des Orchesters sprach, dass sich diese vermeintlich

„reaktionäre“ bürgerliche Institution gar als poli- tisches Fanal eignet. Was in der europäischen Konzertpraxis eine Selbstverständlichkeit ist, dass die Geigerin mit dem Cellisten, dem Brat- schisten und dem Klarinettisten zusammen spielt, ist aber gelegentlich eine Unmöglichkeit in der Welt von heute: Kaum würde eine israelische Vio- linistin mit einem Libanesen, einem Palästinen-

ser aus Ramallah und einem Syrer gemeinsam proben oder gar auftreten. Seit 1999 versucht Daniel Barenboim, einst gemeinsam mit dem in- zwischen verstorbenen Literaturwissenschaftler Edward Said, das Gegenteil zu beweisen, mehr noch: es zu leben. Sein Friedensexperiment West- Eastern Divan Orchestra ist geglückt – nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch. Nicht zu- letzt schon deshalb, weil hier musikalische Ver- nunft herrschen muss. Im Orchester muss einer auf den anderen hören und sich zugleich selber durchsetzen. Das Prinzip „play and listen“ ist in der Tat wohl das einzige, nach dem friedliche Ko- existenz auch im Nahen Osten funktionieren könnte. Und in Gesprächen nach den Konzerten wird nichts schön geredet, keiner faselt von der versöhnenden Macht der Musik. Vielmehr geht es darum zu erfahren, wie nah man einander ist und doch wie fern. Was sich hier vollzieht, ist mehr als nur ein politisches Zeichen. Das Orchester als Brennspiegel humanistischer Ideale. Auch Clau- dio Abbado hat sich unlängst mit Künstlerinnen und Künstlern wie Martha Argerich und Daniel Ba- renboim, Hélène Grimaud und zahlreichen Musi- kern renommierter Orchester wie der Accademia di Santa Cecilia, den Wiener Philharmonikern und des Opernhauses La Fenice in Venedig zum Human Rights Orchestra in Rom zusammen- ˘ Musikern nötig, um beispielsweise mit Hilfe eines

Potentiometers oder anderer elektronischer Hilfs- mittel gemeinschaftlich einen ausdifferenzierten und sehr komplexen Ton hervorbringen zu kön- nen. In seinem dritten Vorschlag schließlich for- derte er monothematische Konzertprogramme.

Aus seiner damaligen Sicht ist es „nicht mehr möglich, dass ein Orchester alles spielen kann“.

Dieses Verfahren würde den Orchestermusiker

„kaputt machen“. Stattdessen plädiert er für rei- sende Orchester, die „wie Fußballmannschaften ein halbes Jahr mit dem gleichen Programm durch die Welt reisen“. Während das Orchester A sich in dieser Zeit beispielsweise auf Brahms konzen- triert, tourt Orchester B mit Schumann oder Mahler durch die Welt. „Die andere Hälfte des Jahres ist Weiterbildung.“ (Stockhausen ebenda)

Als die Neue Musikzeitung(nmz) 1994 unter dem Titel „Neue Dirigenten für das nächste Jahr- tausend“ ein Interview mit Peter Eötvös zu sei- nem Dirigierinstitut veröffentlichte, schlugen die Wellen so hoch, dass es sogar zu Boykottauf- rufen gegen den ungarischen Dirigenten kam.

Viele Orchestermusiker und Manager – vor allem jene, die ausschließlich auf dem Status quo ver- harrten, als sei das Orchester die einzige Formati- on dieser Gesellschaft, die nicht auf den elemen- taren gesellschaftlichen Wandel zu reagieren bräuchte –, sahen in seinen Äußerungen einen grundlegenden Angriff auf das Orchester, übersa- hen, dass Eötvös, selbst Mitglied dieses Appa- rats, sozusagen von innen heraus Vorschläge ein- bringen wollte, die auf eine neue Identität der In- stitution zielten. Dass der Vorstoß von einem Musiker kam, noch dazu von einem hochkaräti- gen Dirigenten, der am Pult aller namhaften Or- chester der Welt steht, hat besonderes Aufsehen erregt. Schließlich wurde bis dahin dieses Tabu- thema, wenn es überhaupt einmal zaghaft andis- kutiert wurde, immer wieder nur von außen in Gang gebracht; aus den Reihen der Orchester selbst kamen und kommen viel zu wenige Gegen- angebote und Reformvorschläge. Die bereits er- wähnten zahlreichen Orchesterauflösungen nach 1989 belegen, wie gefährlich solch eine Situation sein kann. Schließlich ermöglicht diese Vogel- Strauß-Haltung den fachfremden Politikern am grünen Tisch, gegebenenfalls blindwütig einzu- greifen. Peter Eötvös ist in diesem Interview da- von überzeugt, „dass sich die Struktur und das

Klangbild des klassischen Symphonieorchesters verändern muss, da sie überholt ist. Die jetzige Situation ist völlig anachronistisch. Wir haben es mit einem Mammut zu tun, das wir füttern, ob- wohl es uns nur ein Klotz am Bein ist. Ich will mei- ne Studenten jedenfalls nicht auf einen Beruf vor- bereiten, von dem ich nur wünschen kann, dass er spätestens in fünf Jahren nicht mehr existiert.

... Sowohl die Orchester als auch die Dirigenten müssten zu dem ursprünglich selbstverständli- chen Zustand zurückkehren, dass sie lebendigen Kontakt zu den heutigen Komponisten pflegen“.

(nmz 5/1994, S. 3)Herausgefordert sahen sich durch dieses Interview auch die Musiker des SWR Sinfo- nieorchesters, Michael Gielen und der damalige Orchestermanager. Es gab einen regen Briefwech- sel und persönliche Gespräche, auf die Peter Eöt- vös am 25. August 1995 in einem Brief reagierte:

„Vor ein paar Tagen habe ich die ‚Schriften’ von Edgard Varèse entdeckt und bin verblüfft: er be- schreibt 1920 die gleiche Situation wie wir sie heute haben!! Fünfundsiebzig Jahre Dornröschen- schlaf! Ich sehe die Notwendigkeit eines ‚Orches- ter-Museums’, das die Meisterwerke der Periode 1750 – 1950 in bester Qualität pflegt – so wie ein Gamelan-Orchester oder ein Gagaku-Orchester seit Jahrhunderten eine Tradition in höchster Qualität bewahrt. Positiv war die Entwicklung des Orchesters um die Jahrhundertwende (1900), als hunderte neue Orchester entstanden. Damals war es zeitgemäß, heute sind sie insofern ein Pro- blem, weil sie sich mit der kreativen Musik des 20. Jahrhunderts nicht mitentwickelt haben. In jenem ‚Klangmuseum’ können diese Orchester nur Reproduktionen an die Wände hängen; eine anachronistische Situation ... Eine Erneuerung wäre endlich nötig, wobei ich keine ‚Gefahr’ für die Musiker des Orchesters sehe! Jedes Orchester braucht MUSIKER! In den letzten Jahren haben wir viele politische Systemwechsel erlebt. Diese gesellschaftlichen Umstrukturierungen haben nie vorgehabt, den Bürger zu eliminieren, ganz im Gegenteil, sie sind für die Bürger da, um eine lebenswürdigere Situation zu schaffen. Diktatu- ren sind genau das Gegenteil. In der musikali- schen Sphäre herrscht jetzt eine Diktatur der Medien, eine Diktatur des Kommerz’! Und die Kuh, die gemolken wird, ist bald 200 Jahre alt!

Frischmilch? H-Milch!“ (Manuskript, Archiv des SWR) Peter Eötvös dirigiert das Radio Kammerorchester Hilversum (Donaueschingen 2005)

Michael Gielen und Vinko Globokar (Donaueschingen 1995)

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Orchester benutzen wollte. Für mich war der Alt- bau das Orchester selbst. Also in dem ich mich in das Orchester hinein begebe, begebe ich mich ei- gentlich in diesen Altbau hinein.“ (Enno Poppe, SWR2 Interview, Archiv des SWR)Alle noch so rhetorisch klug verpackten Erklärungsmodelle sollten uns aber auf der anderen Seite nicht darüber hinwegtäu- schen, dass die Gründe für die Entscheidung der Komponisten des 20. Jahrhunderts, sich auf das Ensemble zu verlegen, zuförderst und ursächlich nicht im ästhetischen, wohl aber im ökonomi- schen Bereich zu suchen sind. Und wenn Enno Poppe, der nun wirklich über jeden Zweifel erha- ben ist, ideologisch zu argumentieren, von sei- nem späten Einstieg in das Komponieren für Or- chester spricht, dann mag das wohl auch damit zu tun haben, dass ihm als jungem, unbekann- tem Komponisten zunächst einmal der Zugang zum „Produktionsmittel Orchester“ verwehrt war.

Und wennwir schon von Ensemble-Kultur spre- chen, dann sollte in aller Kürze wenigstens Er- wähnung finden, dass selbstverständlich auch die hohe Qualität der sich seit Beginn der 1980er Jahre herauskristallisierenden Spezialensembles für Neue Musik dazu beigetragen hat, das Niveau der tarifgebundenen Orchester im Umgang mit der Musik der Zeit anzuheben. Konkurrenz belebt offenkundig doch das Geschäft. Man muss sich einmal vorstellen, dass der Vertreter der Deut- schen Orchestervereinigung, Hermann Voss, noch 1971 in der Donaueschinger Gesprächsrunde die

„Institution Orchester“ als lebendigen Organis- mus in Gefahr sah, weil viele Komponisten nicht mehr für das Orchester komponieren würden. His- torische Gerechtigkeit gebietet daran zu erinnern, dass die ARD-Orchester ein Eldorado für die Avantgarde waren und – bei allem Schwund – teilweise noch sind. Europäische Musikgeschich- te wäre ohne solch ein Orchester wie das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg und solch einem Klangkörper wie dem SWR Vokalen- semble Stuttgart gewiss anders verlaufen. Man könnte heute allemal arrogant zurückschauen und mit dem Finger auf die Ignoranz der Musiker jener Zeit zeigen. Immer sollte man sich aber auch bewusst machen, dass sich „Geschichte“

nur durch permanentes Tun bildet – mit allen Häutungs- und Abreibungsprozessen. Ohne die Pioniertaten der Musiker von damals wären zahl- reiche neue kompositorische Ideen ins Leere ge-

laufen. Die Musiker des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg waren die ersten insti- tutionell bestallten Musiker, die die vielen unge- wöhnlichen Spielanweisungen und neuen Spiel- haltungen realisierten und solch exeptionelle Werke uraufführten wie die 3. Sinfonie von Hans Werner Henze, das Oboenkonzert von Bernd Alois Zimmermann, Spielvon Karlheinz Stockhausen, Due espressioni per orchestravon Luigi Nono, Réveil des oiseauxund Chronochromievon Olivier Messiaen, Metastaseisvon Iannis Xenakis, Poésie pour pouvoirund Pli selon plivon Pierre Boulez, Anaklasisund Fluorescencesvon Krzysztof Pende- recki, Réakvon Isang Yun, Atmosphèresvon György Ligeti, Schwan kungen am Randvon Helmut Lachen- mann, Morphonievon Wolfgang Rihm, um nur einige wenige zu nennen. Ganz besonders hervor- zuheben sind die Entwürfe, die mittlerweile als

„Donaueschinger Raummusik“ in die Geschichte eingegangen sind. Damit haben nun schon drei Generationen von Orchestermusikern gezeigt, dass auch tarifgebundene Orchester Maßstäbe auf dem Gebiet avancierter Orchestermusik zu setzen vermögen.

Bei demdiesjährigen Donaueschinger Festival- jahrgang ist das nicht anders. Gleich drei Konzer- te werden vom SWR Sinfonieorchester Baden- Baden und Freiburg, unterstützt vom SWR Vokal- ensemble Stuttgart bestritten. Während im Ab- schlusskonzert am Sonntag in einem „Nummern- programm“ die neuesten Kompositionen von Salvatore Sciarrino, Beat Furrer und Rolf Riehm aus der Taufe gehoben werden, beschreitet das Orchester in den beiden anderen Veranstaltungen wieder einmal neue Wege der Interaktion zwischen Autor, Interpret und Hörer. Lagen die Herausfor- derungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- derts im instrumentaltechnischen Bereich, haben sie sich seit einigen Jahren vorrangig in den Bereich der Präsentation verlagert.

In der Aufhebungvon Konvention liegt, laut Mathias Spahlinger, das radikal Neue der Neuen Musik. Und so wird Spahlinger nicht müde, immer wieder zu betonen, dass es ihm um die Selbstre- flexion der Wahrnehmung geht. Der Hörer, aber auch der aktive Musiker, soll in die Lage versetzt werden, sich über die Art und Weise bewusst werden zu können, wie er musikalische Zusam- ˘ getan, um im ehrenamtlichen Engagement bei-

spielsweise auf die kritische Situation in italieni- schen Flüchtlingslagern und anderen problembe- ladenen Orten der Welt aufmerksam zu machen.

Die Künstler wollen laut Abbado (in Bayern4)„für mehr Verständnis gegenüber den Fremden aufru- fen, die nach Italien oder ein anderes europäisches Land kommen. Die ‚Musicisti senza frontiere’, die Musiker ohne Grenzen, haben in einem Manifest ihre Grundsätze zusammengefasst. Ihre Konzerte sollen, so wird es dort festgelegt, ‚präzisen sozia- len Zwecken dienen. Sämtliche Konzerte werden gratis sein, das Orchester finanziert sich selbst’“.

Michael Gielenhat bereits in der Donaueschin- ger Gesprächsrunde von 1994 festgestellt, dass Probleme im Umgang mit Neuer Musik in den europäischen Sinfonieorchestern seit dem dama- ligen Generationswechsel geringer geworden sind. Diese Entwicklung hat sich seither kontinu- ierlich und massiv fortgesetzt. Mittlerweile haben wir zwar noch keine Normalität erreicht, aber die Fortschritte sind unübersehbar. Was „Normalität“

ist, mag allerdings in diesem Zusammenhang zwar schwer zu verifizieren sein. Kaum zu über- schätzen ist jedoch der offenkundige Struktur- wandel der musikalischen Öffentlichkeit, der wohl auch nicht vor der „Institution Orchester“

halt machte. Zudem dürften die vielfach neuen Distributionswege und die Spezialisierung des Publikums in viele Publika ebenso dazu beigetra- gen haben, die interne Stabilität der Doppelmas- se „Orchester – Publikum“ aufzulösen bzw. nach- haltig in den vielfach rückgekoppelten Selekti- onsprozess der Doppelmasse einzugreifen. Ein Zeichen dafür ist die Tatsache, dass die Orchester in letzter Zeit offenkundig in zunehmendem Maße gezwungen sind, ihr Publikum immer wieder neu selbst zu bilden. Die vielen pädagogischen Pro- jekte landauf, landab sind ein deutlicher Beleg dafür und zudem ein Zeichen, dass sich die Auf- gaben des Orchestermusikers über den reinen Dienst auf der Bühne hinaus stark erweitert ha- ben. Dort, wo das Bildungssystem versagt, sind heute offenkundig (und nicht unproblematisch) die Künstler gefragt, in die Bresche zu springen.

Aber auchdie Musiker selbst kommen mittler- weile mit einem viel größeren Erfahrungshorizont von der Hochschule in die Orchester, sind ästhe-

tisch offener in ihrer Haltung, haben ein gewach- senes Selbst- und Verantwortungsbewusstsein und sind in der Spielpraxis für die Musik der Zeit differenzierter ausgebildet. Die Bemühungen der vielen Institute für Neue Musik an den Musik- hochschulen zeigen offenkundig erste Früchte. Es gibt gewiss nichts schön zu reden. Die Distanz und die Skepsis, sich dem Neuen zu öffnen, ist gewiss noch immer sehr groß. Und noch immer, wie unlängst bei einem Konzert in München, wird gelegentlich auch einmal gestreikt, wenn die An- forderungen ein bestimmtes Maß übersteigen.

Bei aller Ungeduld sollten wir uns aber immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass bis hinein in die 1990er Jahre Konflikte schon dann auftraten, wenn das neue Stück nicht etwa avancierte Spiel- techniken vorsah, sondern bereits, wenn es in einer nicht-konventionellen Sprache geschrieben wurde. Jede Möglichkeit wurde genutzt, die Urauf- führung zu boykottieren, zu sabotieren oder bei den Proben mit Aggression und Hohn zu reagie- ren. Vor diesem Hintergrund ist es schon erstaun- lich, wie viele Werke der ersten Hälfte des 20.

Jahrhunderts bis hinein in die 1960er Jahre mitt- lerweile in das Repertoire eingegangen sind.

Wichen die Komponisten einst aus den oben be- nannten Gründen gern in den kammermusikali- schen Bereich aus, um sich auf Ensemblemusik für Spezialensembles zu konzentrieren, ist seit etwa zehn Jahren ein gesteigertes Interesse an Orchestermusik unübersehbar. Hatte Enno Poppe zum Beispiel vom „gemeinen“ Ensemblestück noch in den 1990er Jahren behauptet, dass es die Sin- fonie des ausgehenden 20. Jahrhunderts verkör- pere, so ist er am Anfang des folgenden Jahrhun- derts mit seinen Orchesterkompositionen Keil- schriftund Altbaubei jenem Apparat angelangt, der einstmals für das Sinfonische zuständig ge- wesen ist. „Für mich war eigentlich das Orchester selbst so ein Apparat, mit dem ich sehr lange gekämpft habe. Also anders als andere Kollegen habe ich sehr spät angefangen, mich überhaupt mit Orchester zu beschäftigen. Irgendwie wollte ich das lange Zeit gar nicht machen, weil ich das Gefühl hatte, das ist ein Klangkörper, der von der Struktur, also von seiner ganzen Art und Weise, wie er arbeitet, aber auch vom Klang etwas sehr extrem Historisches transportiert. Aus diesem Historischen kommt man ja nur sehr schlecht heraus. Die Entscheidung, ein Orchesterstück zu machen, ging dann damit überein, dass ich ein- fach jetzt offensiv diesen historischen Klang vom 26|27

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02 01

Aus: Sammlung Vinko Globokar, Paul Sacher Stiftung Basel

Helmut Lachenmann

(…) Die Sehnsucht des ausübenden Musikers ist: sich mit dem Werk oder wenigstens mit dessen ästhetischen Voraussetzungen verwandt zu wis- sen, sich damit zu identifizieren. Aber ein verlogener, das Überlieferte missbrauchender Kulturbetrieb mit seinen Fetischen hat diese Sehnsucht manipuliert. Mit dem Respekt vor dem entfremdeten Werk schwindet der Respekt vor der eigenen Funktion.

(…) Daß der Musiker, der im Namen von Freiheit, Kunst und Würde seine öffentlich verordnete Rolle als philharmonischer Gralshüter durchbricht, dadurch am prinzipiellen Widerstand teilnimmt, den Kunst heute der Bequemlichkeit unserer kulturbeflissenen Gesellschaft entgegenzusetzen hätte, das gibt seinem Wirken die Würde und den Sinn, der ihn aus der Verbitterung des Übergangenen, Vergewaltigten und menschlich Über- forderten herausreißen müßte. Das gibt ihm darüber hinaus eine beispiel- gebende Funktion, wirksamer oft als die realisierten Werke selbst, deren Bedeutung in diesem Sinne es ja so erst zu durchschauen gilt.

Nicolaus A. Huber

(…) Der Widerspruch liegt nicht im Orchester „an sich“, die Krise nicht im Kompositionsbereich „an sich“, sondern dieser Wider- spruch ist eine Widerspiegelung der verbrauchten Kräfte des Bürgertums einerseits und der schöpferischen Kräfte des aufstei- genden Proletariats andererseits.

(…) Wer dies erkennt und für die zukunftsträchtige Klasse der Werktätigen eintritt, wird auch das Orchester als Instrument dieses Kampfes einsetzen können.

Vieles wird sich dabei als unbrauchbar herausstellen und sich verändern müssen, angefangen bei der Kulturpolitik bis zur ideologischen Durchforstung der Programmgestaltung, der Themenwahl und der Kompositionstechnik.

Yuji Takahashi

Aus den Schriften von Han Fei (295-233 v. Chr. ) kann man entneh- men, daß zu dem Orchester des Kaiserlichen Hofes 300 Mundor- geln (Yu) gehörten. Als einmal ein König darum bat, jeden Musiker einzeln zu hören, flohen einige der Spieler.

Immer und überall haben die herrschenden Klassen Orchester un- terhalten; das System, nach dem diese organisiert waren, war ganz allgemein der Widerspiegel der jeweils herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Systeme der jeweiligen Zeit.

Franco Donatoni

1962 hatte ich noch nicht begriffen, daß das Orchester weiblich ist, daß es den liebt, der es beherrscht und den verrät, der es achtet. 1962 hatte ich auch noch nicht begriffen, daß das Orchester eine Masse ist, die nur in der Unfreiheit existiert und in ihr ihre eigentlichen Triumphe feiert. 1962 wußte ich nicht, daß die Freiheit nur in der Gemeinschaft möglich ist. Das Orchester ist das erzwungene indifferente Zusammenleben von Fremden, die nur dann ein Heer werden können, wenn der Orchesterleiter sie voller Fröhlichkeit in die Schlacht führt.

Das Orchester verzeiht dem, der es nicht vergewaltigt, niemals. Das Orchester ist das repräsentativste Instru- ment der Industrie der Musikkultur; sein Überleben wird garantiert aus der Mumifizierung durch die Literatur und der Planung des akustischen Konsums.

Clytus Gottwald

(…) Adorno schreibt: „Der Positivismus der Orchestermusiker, die ans Kontrollierbare (klangschöne Akkorde, präzise Einsätze, die Fähigkeit, komplexere Rhythmen verständlich zu schlagen) sich halten, ist nicht Widerschein ihres Konkretismus. In diese Mo- mente...flüchtete sich die Liebe zur Sache, die einmal sie beseelte.

Gedemütigt, überlebt sie einzig als fachmännische Rechthaberei...“

Solcher Positivismus resultiert nicht nur, wie Adorno meinte, aus der mangelnden intellektuellen Fähigkeit der Musiker, ihre Tätig- keit zu durchschauen. Vielmehr hat er in der Musik selbst und in ihren Widersprüchen seine Ursache. Die Idee der Freiheit, die Beet- hovens Musik zur Sprache bringt, kann nur über die zwanghafte Situation einer Aufführung laut werden: der Gesang der Freiheit wird hervorgebracht von einer Gruppe Menschen, die sich unterm Schlag eines Einzelnen duckt. Schon an solchem Widerspruch ver- mag sich die Liebe zur Sache, von der Adorno sprach, die Finger zu verbrennen. Solche Erfahrung aber hat Orchestermusiker misstrau- isch gemacht gegen den Geist, der angeblich die Musik durch- wehen soll. Als von der Idee der Freiheit Ausgeschlossene halten sie sich an das, was ihnen bleibt: die Noten.

Erhard Grosskopf

(…) Dabei repräsentieren die Symphonieorchester die Musik der herrschenden Klasse, während Tanz- und Unterhaltungsorchester mit der Verbreitung privater Glückseligkeit – eine pervertierte Antwort auf die berechtigten Wünsche der Menschen nach Ver- besserung ihrer Lebensbedingungen – die werktätigen Massen mit ihrem Los aussöhnen sollen.

(…) Ein revolutionärer Held des chilenischen Volkes, der Volkssän- ger Victor Jara, erwähnte einmal den Unterschied zwischen Musi- kern, die nur die Musik lieben, und Musikern, die das Volk lieben.

Musiker, die das Volk lieben, werden das auch in ihrer Orchester- musik zum Ausdruck bringen.

Hans G. Helms

(…) Seit endlich elektrische Klangerzeuger, Klangverformer und Klangver- stärker einen weit geringeren Einsatz an fixem Kapital erfordern als ein Orchester, um scheinbar ähnlich differenzierte und klangmächtige Musik- waren produzieren zu können, hat das bürgerliche Orchester nach der Ratio der bürgerlichen Produktionsweise seine ökonomische Basis einge- büßt. Benötigt wird es im Grunde nur noch für die Verwertung der zu seiner Blütezeit komponierten bürgerlichen symphonischen Musik, doch selbst zur Produktion dieser ihm adäquaten Gebrauchsgüter ist das Or- chester fähig nur bei starker Subsidierung aus öffentlichen Finanzmitteln.

So ist aus dem bürgerlichen Produktionsapparat zur Produktion immate- rieller bürgerlicher Luxusgüter ein Luxusinstrument geworden, das die arbeitende Klasse subsidieren muß, damit sie im Interesse der herrschen- den Klasse mit musikalisch formulierten Klischees der bürgerlichen Ideo- logie indoktriniert werden kann.

Vinko Globokar, 1974:

Soziologische Untersuchung über das Orchester:

Ein Teil seines Werkes Das Orchester

(Materialien zur Diskussion eines historischen Instruments.) (Ausschnitte)

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in seiner Doppelfunktion als ästhetisches Medium und Signalgeber auch als Koordinator fungierte.

Diese drei Beispielemögen als Beleg dafür die- nen, dass neue Potentiale für die „Institution Orchester“ nur dann erwachsen können, wenn entsprechende ästhetische Herausforderungen an die Institution gegeben sind. Es gäbe eine Rei- he weiterer interessanter Ansätze zu benennen.

Wir kommen aber auch nicht umhin, auf die Zu- nahme der restaurativen Tendenzen auf komposi- torischer Seite hinzuweisen. Die Frage sei daher erlaubt, ob es sie wirklich in ausreichendem Ma- ße gibt, die kompositorischen Impulse, die aus der von Karlheinz Stockhausen geforderten „labor - mäßigen Zusammenarbeit“ zwischen Komponis- ten und Orchester erwachsen? Bei einer großen Anzahl neuer Orchesterstücke scheint es doch eher so zu sein, dass diese im Grunde nicht aus dem Bedürfnis heraus entstanden sind, sich aus- zudrücken, sondern mit Hilfe des Orchesterappa- rats eine imaginäre Macht auszuüben, also zum Beispiel eine Steigerung auszukomponieren, nur um „die Leute in den Griff zu kriegen“ und sagen zu können: „Ich habe das gemacht.“ Helmut La- chenmann hat diese Komponierhaltung sehr an- schaulich am Beispiel seiner frühen Jugendwerke beschrieben: „Es war nun mal mein Problem von Individuation: Ich wollte Poetisches, Ausdrucks- volles, möglichst Ausdrucksmächtiges arrangie-

ren. Ich wollte mich auch einmal an diese Maschi- ne genannt ‚Orchester‘ setzen, so wie eben all die anderen Komponisten. Später habe ich oft gesagt:

Das Komponieren ist wie die Begegnung mit einer Riesen-Orgel, und jeder kann sich an die Orgel setzen und darf darauf spielen – und jeder spielt sie auf seine Weise. Schon allein, dass die Orgel überhaupt mitmacht, wenn man darauf spielt, ist ja ein grandioses Gefühl. Ich denke, das ist der erste pubertäre Zustand eines hoffnungsvoll- naiven Komponisten. Man redet vielleicht vom Ausdruck seiner eigenen Empfindungen und so etwas, die durch diesen harmonischen, rhythmi- schen Apparat hindurchgehen, aber es ist eher die Lust, den anderen mit einem interessanten Gerät zu packen, das man doch gar nicht selber entwickelt hat. Man kennt das von der ersten Autofahrstunde. Dass man selbst das Gerät be- dienen oder gar beherrschen kann, dass ich sozu- sagen den Führerschein habe für ein Orchester, einen Chor, für ein Streichquartett, für welche Besetzung auch immer, war meiner Eitelkeit viel wichtiger, als dass ich mich oder sonst etwas ausdrücke.“ (Helmut Lachenmann, Erlebte Geschichte, Inter- view mit Armin Köhler, Schott Verlag) ó

menhänge produziert bzw. wahrnimmt. Zu die- sem Zweck hat Spahlinger bereits zu Beginn der 1990er Jahre unter dem Titel vorschläge – konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten28 Textkompositionen entwickelt, um die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Kom- ponist, Interpret und Hörer zu überwinden. Vor allem geht es ihm darum, Entscheidungen zu de- legieren, die in einer traditionellen Komposition ausschließlich der Komponist zu treffen hätte.

Seine vorschlägesind so konzipiert, dass jeder die Chance erhalten soll, gemeinsam mit anderen Klänge zu erfinden und auf Klänge zu reagieren.

Mathias Spahlinger legt mit doppelt bejaht, etüden für orchester ohne dirigent, ein musikalisches Konzept stück vor, in dem spezielle musikalische Kommunikationsmodelle austariert werden, an denen er sich bereits seit mehreren Jahrzehnten wiederholt abgearbeitet hat. Wenn es auch eine Binsenwahrheit scheint: Die grundlegende kom- positorische Frage ist immer die, wie Zeit generiert wird. Gewöhnlich wird diese durch den Komponis- ten präformiert, d.h. strukturiert und in Partitur und Stimmen gegossen. Anders bei den etüden für orchestervon Mathias Spahlinger. Hier liefert der Komponist das Klangmaterial, aus dem die Musi- ker – nach vorgegebenen Modellen kommunizie- rend – die Zeit gewissermaßen zu „schlagen“ ha- ben. Besonders gefordert vom Orchestermusiker sind hier ein hohes Maß an Individualität, Kreativi- tät, Feinfühligkeit und Einfühlungs vermögen.

Handelt essich bei Mathias Spahlingers Projekt in einem gewissen Sinne um ein Orchesteren- vironment, das über spezielle Kommunikations- modelle den autonomen Klangraum als plasti- sches Phänomen ertastet, sucht Manos Tsangaris in seinem szenischen Orchesterprojekt Batsheba.

Eat The History!über das rein Musikalische und Ästhetische hinaus, sich auch mit den sozialen Konstellationen innerhalb des Orchesterappara- tes auseinander zu setzen. Das Geschehen, des- sen Dramaturgie auf der Zusammenschaltung eines historischen Stoffes aus der hebräischen Bibel und eines aktuellen Stoffes aus einem Inter- netchat beruht, wird sich an verschiedenen Orten der Stadt über zwei Konzerttage hinweg simultan abspielen – mit Orchestermusikern als Darstellern, Schauspielern, Sängern, Laien und Spezialisten. Das Orchester fungiert hier als sozi- al-theatral-musikalisches Instrument, das durch die Festivalstadt mäandert.

Damit setztdas SWR Sinfonieorchester Baden- Baden und Freiburg seine eigenwilligen und welt- weit einzigartigen neuen Präsentationsformen ak- tueller Orchestermusik fort, die ihren bisherigen Höhepunkt 2006 in der Klang-Licht-Installation von Georg Friedrich Haas/rosalie Hyperion, Kon- zert für Licht und Orchester, gefunden hat, bei der die Musiker des Orchesters ihre Einsätze nicht von einem Dirigenten erhielten, sondern das Licht 30|31

Georg Friedrich Haas/rosalie:Hyperion,Konzert für Licht und Orchester (Donaueschingen 2006)

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