LITIK KURZBERICHTE
Crash-Tests mit Leichen
„Im Dienst der Allgemeinheit"
Das Institut für Rechtsmedizin der Universität Heidelberg forscht seit 1975 für die Verkehrssicherheit: 150 bis 200 Leichen wur- den seither für Crash-Tests benutzt, darunter auch acht Kinder- leichen. Mit den Simulationen soll zum einen die Stoßbela- stungsfähigkeit des menschlichen Körpers untersucht werden.
Zum anderen dienen die Testergebnisse der technischen Optimie-
rung von Dummies. Dies sind mechanische Puppen, die ebenfalls für derartige Simulationen verwendet werden. Für Aufsehen in den Medien sorgten diese Versuche nun, nachdem ein Journalist empört von einer Konferenz in St. Antonio, USA, berichtet hatte, auf der die neuesten Ergebnisse der biomechanischen Forschung mit Leichen diskutiert wurden.
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it sachlichen Worten er- klärt Dipl.-Ing. Dr. Micha- el Schwarz, Pressereferent der Universitätsklinik Hei- delberg, den Ablauf von Crash-Tests:„In einer dem gängigen Automobil nachempfundenen Fahrgastzelle wird die Leiche eines Erwachsenen oder Kindes auf einem Sitz angegur- tet. Diese Fahrgastzelle wiederum befindet sich auf einem Schlitten, der nun beschleunigt wird. Nach einer gewissen Strecke prallt die Spitze des Schlittens gegen ein Stahlblech, das etwa ein Zentimeter aus dem Boden ragt. Dabei wird die durch die Auf- prall-Simulation hervorgerufene Be- lastung des menschlichen Körpers elektronisch gemessen." So und nicht anders liefen die Tests im Institut für Rechtsmedizin der Universität seit nunmehr knapp 20 Jahren ab, betont Schwarz und verwehrt sich vehement gegen Darstellungen in der „Bild"- Zeitung, wonach die Leichen mit dem Kopf gegen die Windschutz- scheibe und vor Mauern prallten.
Die biomechanischen Versuche mit Leichen dienten dazu, die Sicher-
heit von Rückhaltegurten, Kindersit- zen und Airbags zu überprüfen und die Dummies zu verbessern. Aus me- dizinischer Sicht ermöglichten die Versuche neben einer verbesserten Behandlung von Verkehrsopfern ei- ne gezieltere Autopsie von Unfallto- ten, ergänzt der Biophysiker Dr. rer.
nat. Dimithrios Kallieris, der die Versuche zusammen mit dem Insti- tutsleiter Dr. med. Rainer Mattem leitet.
Für die Simulationen würden le- diglich Tote verwendet, die zu Leb- zeiten ihr Einverständnis erklärt oder deren Angehörige einer Verwendung für Forschungszwecke zugestimmt haben. Es würden auch nur Tote ge- nommen, die — eines unnatürlichen Todes gestorben — zur Obduktion ins rechtsmedizinische Institut ge- bracht wurden. Außerdem dürften keine äußerlich erkennbaren Verlet- zungen vorliegen.
Die letzten Tests mit toten Kin- dern seien 1989 erfolgt. Seitdem wür- den in Deutschland nur noch Versu- che mit Erwachsenen gemacht. Die Verantwortlichen in Heidelberg wol-
len jetzt abwarten, wie die biomecha- nischen Simulationen in der Öffent- lichkeit ethisch bewertet werden.
Nach Meinung Kallieris sollten die Crash-Tests allerdings fortgesetzt werden. Denn die mit Dummies er- zielten Daten seien für eine realisti- sche Einschätzung des Risikos, bei einem Zusammenstoß mit dem Auto verletzt oder gar getötet zu werden, noch immer „absolut unzureichend".
Im Gegensatz zu den Versuchen mit Leichen von Erwachsenen, die im Auftrag der Automobilindustrie durchgeführt würden, basierten die Forschungsvorhaben mit Kindern auf
„rein wissenschaftlichem Interesse"
des Heidelberger Instituts, das von 1975 bis 1991 unter der Leitung des Rechtsmediziners Professor Dr. med.
Georg Schmidt stand.
Diese Tests würden ausschließ- lich vom Land Baden-Württemberg finanziert, so Kallieris, und nicht, wie die mit erwachsenen Probanden, aus Drittmitteln der Industrie. So wur- den beispielsweise im Auftrag der Forschungsvereinigung Automobil- technik (FAT) „Frontalcrashs und Seitencrashversuche mit Leichen von Erwachsenen durchgeführt, ausge- wertet und in der FAT-Schriftenrei- he publiziert", heißt es in einer Pres- semitteilung des Vereins. In der FAT, die aus dem Verband der Au- tomobilindustrie (VdA) entstanden ist, sind alle deutschen Pkw- und Nutzfahrzeugehersteller sowie diver- se Zuliefererbetriebe vertreten.
Auf reges Interesse stößt das Heidelberger Forschungsvorhaben jedoch nicht nur in Deutschland, son- dern auch im Ausland. So werten nach Darstellung von Kallieris die gesamte europäische Automobilin-
Verkehrsexperte verteidigt Leichen-Tests
Der Direktor des Europäischen Verkehrssicherheitsrates, der Brite Profes- sor Murray Mackay, hat die Benutzung von Leichen für Crash-Tests der Auto- mobilindustrie verteidigt. „Es wären viel mehr Menschen auf den Straßen getö- tet worden, wenn nicht menschliche Körper verwendet worden wären", sagte der Verkehrssicherheitsexperte in Brüssel.
Leichen seien seit Beginn der 60er Jahre „auf einer ziemlich weiten Basis"
benutzt worden. Die Verwendung von Leichen bei Crash-Tests sei moralisch nicht anders zu bewerten als die Verwendung von Leichen zur Ausbildung von Medizinstudenten oder zur Organtransplantation.
Der Europäische Verkehrssicherheitsrat sowie das Europäische Parlament forderten unterdessen strengere Auflagen für die Verkehrssicherheit. afp
A1-3280 (20) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 49, 10. Dezember 1993
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POLITIK
dustrie und sogar das US-Verkehrs- ministerium die Ergebnisse der Ver- suche für die Verbesserung der Ver- kehrssicherheit in ihren Ländern aus.
Dies erkläre sich wohl dadurch, daß Heidelberg bei Versuchen dieser Art eine Spitzenposition innehabe, ver- mutet Schwarz. Lediglich in Hanno- ver würde noch in kleinerem Rah- men mit erwachsenen Leichen ge- forscht. Wie die Nachrichtenagentur Agence France Presse meldet, finden biomechanische Crash-Tests darüber hinaus noch vereinzelt in Frankreich, in der Schweiz sowie in den Vereinig- ten Staaten statt.
Verwundert zeigt sich Kallieris allerdings über die „Wogen", die das Thema zur Zeit in den deutschen Medien schlägt. Die Versuche seien hinlänglich bekannt, und ihre Ergeb- nisse würden fortlaufend auf wissen- schaftlichen Veranstaltungen disku- tiert und der Öffentlichkeit durch Publikationen zugänglich gemacht.
Gemischtes Echo
Die offiziellen Reaktionen von Verbänden und Institutionen des deutschen Verkehrswesens sind ge- teilt Hans-Joachim Krüger, Leiter des Referats passive Sicherheit/
Crash-Tests beim Institut für Ver- kehrssicherheit, TÜV Rheinland, hält die Aufprall-Simulationen mit Leichen für unverzichtbar. Mit einem Dummy könnten nur zwei bis drei mögliche Verletzungsarten simuliert werden, nämlich durch Sensoren am Kopf sowie im Brust- und Bauchbe- reich der Puppen. Beim Menschen gebe es aber bis zu 35 unterschiedli- che Zonen, die bei Unfällen im Stra- ßenverkehr stark verletzungsanfällig seien.
Auch hält Krüger spezielle Tests mit Kinderleichen für durchaus ge- rechtfertigt. Denn Ergebnisse von Crash-Versuchen mit Erwachsenen ließen sich nicht so ohne weiteres auf den kindlichen Körper übertragen.
Bedingt durch den überproportional großen Kopf, bestünde bei Kindern zum Beispiel eine besonders hohe Verletzungsgefahr im Halswirbelbe- reich. Krügers Fazit: „Wir brauchen zwingend — auch in Zukunft — bio- r 3chanische Grenzwerte, um Ver-
KURZBERICHTE
letzungs- und Todesrisiken bei Unfäl- len zu minimieren."
Anders hingegen fällt die offi- zielle Stellungnahme des Allge- meinen Deutschen Automobil Clubs (ADAC) aus. Dessen Pressesprecher Andreas Kippe erklärt: „Der ADAC lehnt Crash-Versuche mit Leichen ab, weil sie mit dem ethisch-sittlichen Empfinden in Deutschland nicht ver- einbar sind." Gleichzeitig bestätigt er, daß in seinem Hause Aufprall-Si- mulationen mit Dummies gemacht werden. Für deren Optimierung wie- derum seien Ergebnisse von Tests mit Toten unerläßlich, ist von nahezu allen der mit Crash-Tests befaßten Biomechanikern zu erfahren.
Simulierte Auffahrunfälle mit Testschlitten dienen Etwas allgemeiner formuliert es Professor Dr. Ing. Karl-Heinz Lenz, Direktor der Bundesanstalt für Stra- ßenwesen in Bergisch Gladbach. In seinem Institut würde die Meinung vertreten, daß die Ruhe der Toten und die Erhaltung menschlichen Le- bens ein gleich hohes Gebot darstel- len: „Daher muß alles getan werden, um menschliches Leben zu retten, solange die ethischen Grundlagen gewahrt werden."
Mit dieser Seite des Problems hat sich die Ethik-Kommission an der Universitätsklinik Heidelberg be- faßt. Dort sei man übereingekom- men, daß Forschungsvorhaben der fraglichen Art an Leichen nicht grundsätzlich abzulehnen seien, teilt
der Kommissions-Vorsitzende, Pro- fessor Dr. med. Burkhard Komme- rell, auf Anfrage mit. Es müsse aber ein konkreter wissenschaftlicher Nut- zen dieser Versuche in Abwägung zum Rechtsgut „Menschenwürde"
erkennbar sein.
Hamburg: Auf Leichen geschossen Inzwischen war zu erfahren, daß Rechtsmediziner im Universitäts- Krankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE) Anfang der 70er Jahre zu
„kriminalistischen Zwecken" mit Menschenleichen experimentiert ha-
der Verbesserung der Verkehrssicherheit.
ben. Bei diesen Versuchen sei es vor allem um die Aufklärung von Todes- fällen durch Schußverletzungen oder Stichwunden gegangen, erklärt der Direktor der UKE-Rechtsmedizin, Professor Dr. med. Klaus Püschel.
Unter anderem wären bei den Versu- chen, die aus Forschungsmitteln der Universität bezahlt worden seien, die Toten mit Dumdum-Munition be- schossen worden. Dabei hätte das Hamburger Institut im Auftrag der Gerichte gehandelt und Unterstüt- zung von seiten des Bundeskriminal- amtes erhalten. Allerdings sei das Thema bereits gegen Anfang der 80er Jahre „vom Tisch gewesen", da Politi- ker und Bürger Versuche dieser Art abgelehnt hätten. Petra Spielberg
Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 49, 10. Dezember 1993 (21) A 1 -3281