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Archiv "Märchen mit Moral" (04.06.1986)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

III

it Entsetzen Scherz trei- ben — einem solchen Vorwurf setzt man sich gewiß nicht leichtfertig aus.

Gleichwohl muß es erlaubt sein, die kümmerliche Aus- drucksfähigkeit aufzuspie- ßen, die bei vielen politisch Verantwortlichen nach Tschernobyl und seinen — für uns Gott sei Dank noch gelin- den — Konsequenzen zutage trat. Sprache ist ja oft verräte- risch.

Im süddeutschen Raum hatte es ein Umweltminister noch einfach — im Dialekt klingt es nämlich harmlos —, als er am ersten Wochenende nach Tschernobyl erklärte: „Die Hauptschuld liegt bei den Russen, und wir ham die gan- ze Gaudi jetzt am Buckel!"

Dann kamen die Tage, in de- nen alle von „Grenzwerten"

redeten, ohne zu wissen, von was man redete. „Babyloni- sche Sprachverwirrungen"

warfen deutsche Minister ein- ander vor. Und weil ein Mini- ster einen niedrigeren Grenz-

Tschernobylsche Sprachverwirrung

wert als seine Kollegen fest- gesetzt hatte, behauptete er allen Ernstes: „Milch aus un- serem Land ist gesünder als die aus Ländern mit höheren Grenzwerten!"

„Tschernobyl ist überall", sol- che Plakate nagelten die Grü- nen an deutsche Straßenbäu- me. In Wirklichkeit liegt Tschernobyl in der Ukraine — bloß, bei den Grünen war we- nig davon zu hören, daß Ukrainer und Russen die Hauptbetroffenen dieses Un- glücks waren. Es ist übrigens erst wenige Monate her, daß die Grünen es fertigbrachten, einen ihrer zahllosen Anträge im Deutschen Bundestag mit der Überschrift zu versehen:

„Kostenexplosion im Atom- kraftwerk Mülheim-Kärlich".

Einem Gehirn, das nicht vor Entsetzen erstarrt, fallen

leicht weitere Möglichkeiten ein. Wie wäre es denn mit der neuen Maßeinheit

„Tschern"? 1 Tschern = die Zeitspanne zwischen einem KKW-Unglück und dem Zu- sammentreten deutscher Ge- sundheitsminister, damit sie sich auf irgendwas einigen (oder auch nicht). Wie bitte, das sei albern? In Bonn wurde ernsthaft verlangt, der Bun- deskanzler und weitere ver- antwortliche Minister sollten sich in einer solchen Situation in den Leitstand eines KKW begeben und „über das Fern- sehen mit der Nation kommu- nizieren" — ist das denn etwa weniger albern?

Die Bauern, die ihren Salat nicht verkaufen konnten, weil radioaktiver Regen darauf niedergegangen war, müssen natürlich entschädigt werden.

Aber offensichtlich bemerkte keiner, wie makaber der Satz eines Ministers klang, den seine Landesregierung wört- lich zitieren ließ: „Hessen wird seine Landwirte nicht im Regen stehenlassen." gb

archen reichen oft weit zurück in die Vergan- genheit. Auch dieses Märchen. Wenngleich nicht gar so weit, als daß es nicht noch Menschen gäbe, die sich an jene Zeit zu erinnern ver- mögen. Jene Zeit, da der Dok- tor sein Salär für die Betreu- ung Armer und Bedürftiger direkt vom Amte bezog.

Da war einmal ein Doktor, der hatte viele Kranke und Lei- dende zu versorgen. Kleine Bäuerlein und große Bauern weit draußen in der Flur; Ent- wurzelte und Elende in den Baracken in der Wüstenei am Rande der Stadt; in den gro- ßen Wohnsilos Lebende; in einfachen und in aufwendi- gen Häusern wohnende Wohlhabendere, Wohlhaben- de. Und der Doktor sorgte sich um seine Patienten stets in gleicher Weise, ob sie nun arm waren oder reich, vom Morgen bis zum Abend. Auf-

Märchen mit Moral

opfernd, wie man so sagt, und dies jahraus, jahrein. So wur- de er denn älter, und immer mehr Menschen nickte er freundlich oder auch nach- denklich zu, wenn er durch die Straßen oder über Land fuhr. Schließlich erlebte er sich selbst als alt und mit sich viele, die ihm noch vom An- fang her vertraut waren. Man- cher war auch schon gegan- gen. So mancher, der, ohne daß jener es wußte, ihm be- sonders nahe war. Der leise Schmerz, den sein Tod in ihm auslöste — der Doktor spürt ihn immer noch. Dann kam der schwere Tag, da er be- schloß, sein Tätigsein zu be- enden. Nicht ganz. Ein wenig wollte er sich weiterhin dem widmen, was ihm sein bishe- riges, gewiß nicht leichtes Le- ben stets so sinnvoll erschei-

nen ließ: dem Helfenkönnen.

Und so beschloß er denn, sein Feld zu beschränken auf den Kreis der Armen, am Leben schwer Tragenden — der auf die Hilfe der Allgemeinheit Angewiesenen.

Damit aber, lieber Leser, wird mein Bericht, der so wahr- heitsgetreu begann, nunmehr zum Märchen. Denn ich habe noch niemals gehört, daß ein Doktor seine alten Tage — so- fern er sich von seinem ge- liebten Beruf nicht ganz und gar zu trennen vermochte — für die auf den untersten Sprossen Stehenden aufspar- te. Am Ende stand doch allen- falls: „NUR PRIVATE — Sprechzeiten nach Vereinba- rung . . ." Dr. W.E.W.

P.S. — erst recht, wenn eine

„Zwangspensionierung" mit 65 die Behandlung von Kas- senpatienten vollends un- möglich machen würde.

Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 23 vom 4. Juni 1986 (1) 1653

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