Utilitaristische Brücke
Das Bundesverfassungsgericht hat eine utilitaristische Brücke in der als Erfahrung ausgegebenen These gebaut, „daß gerade ei- ne von gesellschaftlichen Nütz- lichkeits- und politischen Zweck- mäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am be- sten dient".
Selbst wenn diese These aus der geschichtlichen Erfahrung be- gründet werden könnte, im Zeital- ter der Atomwissenschaft genü- gen Wahrscheinlichkeiten aus ge- schichtlicher Erfahrung nicht mehr. Und schon der Entdecker des Forschungsergebnisses „Dy- namit" hatte seine berechtigten Zweifel.
Es bleibt also bei der Konfronta- tion von Individuum und Gemein- schaft auch in der Frage nach der Menschlichkeit in der Wissen- schaft.
Die Diskussion zum Datenschutz muß auf diese Alternative begrenzt und vertieft werden. Nur aus die- ser logisch nicht zu entscheiden- den Alternative zeigt sich die Frag- würdigkeit mancher schon recht geläufigen Unterstellungen von Wissenschaftsfeindlichkeit in der Datenschutzdiskussion.
Zu den Unterstellungen gehört die Fiktion, wo auch immer anfallende Daten, welcher Art auch immer, könnten jedenfalls — wenn auch nicht schon jetzt, so doch später—
der Forschung dienlich sein. Die Freiheitskämpfer für die For- schung und gegen den Daten- schutz machen sich selbst und an- deren zu wenig deutlich, daß grundsätzlich Daten wissenschaft- lich nur ohne lrritationsgefahren verwendbar sind für diejenigen Zwecke, für die sie determiniert erhoben worden sind. Sie machen sich und anderen auch zu wenig deutlich, daß Forschungsergeb- nisse in weit höherem Maße durch die Verwendung personenbezoge- ner Daten erwartet werden kön-
Datenschutz
nen als auf der Grundlage ano- nymisierter, aus dem konkreten geschichtlichen Kontext heraus- gelösten Daten und daß allein des- wegen ungezielte Speicherung wissenschaftlich ebenso fragwür- dig ist wie früher die Anlage gro- ßer Zahlenfriedhöfe in der Sta- tistik.
Verschleierung
von Konfrontationsproblemen Die Erfahrung lehrt: Mangelhafte Konsequenz in der moralischen Ortsbestimmung geht gern einher mit der Verschleierung auch wis- senschaftlicher Konfrontations- probleme. Die „Fiktion" der Ver- wendbarkeit anonymisierter Daten in der Epidemiologie führt ganz konsequent zu irreführenden in- ternationalen Vergleichen von Da- ten, die wegen der Entnahme aus unvergleichbaren Kontexten ihrer- seits nicht vergleichbar sind. Die Abstraktion vom geschichtlichen und mitmenschlichen Kontext streift mit dem Personenbezug den Realitätsbezug und die Menschlichkeit ab. Das Ergebnis:
wirklichkeitsfremde Wissenschaft ohne Menschlichkeit.
Menschlicher wäre wohl, sich der Unerbittlichkeit moralischer Alter- nativen zu stellen und damit auch der Erkenntnis, daß angesichts der Unvereinbarkeit moralischer Alternativen kein Gesetzgeber ab- solute Gewissensfreiheit für Wis- senschaftler praktizieren kann.
Menschlicher wäre wohl auch, die alte Erkenntnis der Begrenztheit menschlichen Wissens zu akzep- tieren und Forschungsziele dar- aufhin zu überprüfen. Die Ein- sicht, daß immer mehr Unwissen als Wissen, immer mehr Ungewiß- heit als Gewißheit dem menschli- chen Leben eigentümlich sind, vermag vielleicht auch den moder- nen Aberglauben an die Unend- lichkeit wissenschaftlichen Fort- schritts zu dämpfen und den For- scher immer wieder daran zu erin- nern, daß auch die Freiheit der Forschung ein Korrelat der Bin- dung an sittliche Pflichten ist. FM
NACHRICHTEN
Zahl der Krebstodesfälle leicht rückläufig
Erkrankungen des Kreislaufsy- stems sind in der Bundesrepublik nach wie vor Todesursache Num- mer 1. Wie das Statistische Bun- desamt in Wiesbaden mitteilte, starben 1979 rund 354 000 Perso- nen an Kreislaufkrankheiten ein- schließlich Herz- und Hirngefäß- krankheiten, 2,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit ging im Jahr 1979 jeder zweite Sterbefall auf diese Art von Krankheiten zurück.
Am akuten Herzmuskelinfarkt star- ben im Berichtsjahr 81 100 (plus 2,2 Prozent) und an Erkrankungen der Hirngefäße 102 800 Personen (plus 0,9 Prozent). Die Zahl der Krebstoten hat insgesamt leicht abgenommen. Sie betrug 1979 insgesamt 154 600 (0,3 Prozent weniger als 1978). Auf bösartige Neubildungen der Atmungsorga- ne entfielen davon 26 100 Fälle (minus 2,4 Prozent), meist Lun- genkrebs (24 300 Fälle, minus 1,6 Prozent). An Magenkrebs starben 18 500 Menschen, drei Prozent weniger als 1978. Damit hat sich beim Magenkrebs die seit länge- rem beobachtete rückläufige Ten- denz fortgesetzt. Der relativ stärk- ste Rückgang gegenüber dem Vorjahr (minus 13 Prozent) war bei Neubildungen der lymphatischen und blutbildenden Organe festzu- stellen, an denen im Berichtsjahr 8400 Menschen starben. Zuge- nommen hat dagegen die Zahl der Sterbefälle an Brustkrebs (rund 12 200 Fälle, plus 4,5 Prozent) und an Prostatakrebs (7600 Fälle, plus 1,9 Prozent). Der Index der Mütter- sterblichkeit je 100 000 Lebendge- borene war weiter rückläufig. Er betrug im Berichtsjahr 21,8 (1978:
25,5). 1979 starben 127 Mütter an Komplikationen vor, während oder nach der Geburt (1978: 147). Der Index der Säuglingssterblichkeit (im ersten Lebensjahr je 1000 Le- bendgeborene) verringerte sich von 14,7 auf 13,5. Insgesamt star- ben 1979 im Bundesgebiet rund 711 700 Menschen. Diese Zahl war um 11 500 oder 1,6 Prozent gerin- ger als 1978. EM
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 43 vom 23. Oktober 1980 2521