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Schütz, Volker: Welchen Musikunterricht brauchen wir? Teil 1

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Academic year: 2022

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Wir können es uns nicht oft ge- nug fragen: Wozu und zu wel- chem Ende unterrichten wir ei- gentlich Musik? Die Antwort ist nicht einfach zu formulieren.

Nicht, weil es keine gäbe, sondern eher, weil zu viele und zu unter- schiedliche Antworten im veröf- fentlichten musikpädagogischen Bewußtsein kursieren. Ich will die gewichtigsten nennen:

- Introduktion in unsere traditio- nelle Musikkultur (Erziehung zur Musik, insbesondere zum „klassi- schen“ musikalischen Kunstwerk) - Musik als Mittel zur Humanisie- rung des Menschen (Erziehung durch Musik: beispiels weise zu Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Urteilsfähigkeit, Friedensfähig- keit, Gemein schaftserleben u. ä.) - Musikalische Bildung als Teil von Allgemeinbildung

- Ästhetische Erziehung (Erzie- hung anMusik)

Man könnte die Liste der Antwor- ten noch verlängern. Und den- noch stellt sich keine Befriedi- gung ein, denn - so ehrenwert diese Ziele alle klingen - steht ein Musiklehrer mit einer Wochen- stunde Musik und all den zusätzli- chen Problemen von Schule am Hals nicht relativ hilflos diesen hehren Forderungen gegenüber?

Ist es nicht vermessen oder gar zy- nisch, angesichts der bestehenden Situation von Musikunterricht an allgemeinbilden den Schulen sol- che hochgesteckten Ziele über- haupt zu formulieren? Ist der der- zeitige Musikunterricht damit

nicht maßlos überfordert?

Aus der Perspektive eines Musik- lehrers sind solche kritischen Fra- gen m. M. n. durchaus legitim und angemessen. Sie stellen diese Ziele auf einer pragmatischen Ebene auf den Prüfstand.

Ein Erziehungswissenschaftler, der sich mit den angesprochenen Ziel- vorstellungen auseinandersetzt, kommt nicht umhin, auf einer

theoretischen Ebene die kritischen Anfragen noch radikaler zu for- mulieren. Ja, er sieht sich letzt- endlich gezwungen, die Gültig- keit der meisten dieser gängigen Zielvorstellungen anzuzweifeln /1/, da sie auf Voraussetzungen beruhen, die heute ihre Gültigkeit verloren haben (falls sie jemals Gültigkeit besessen haben).

Wir müssen - wie die Dinge heute stehen - Abschied nehmen von mehr oder weniger lieb geworde- nen Voraussetzungen und damit auch von Inhalten und Zielvorstel- lungen von Musikun ter richt. Eine Kritik überkommener ideeller Voraussetzungen von Musikun - terricht erfordert eine Bezugnah- me auf die derzeitige gesell- schaftliche Realität und ihre Be- dingungen. Insofern implizieren die nachfolgenden, resumieren-

den Auseinander setzungen mit den gewandelten Voraussetzun- gen nicht nur negative Kritik. Mit dem Blick auf die Gegebenheiten, auf die wir uns (zukünftig) einzu- richten haben, eröffnen sich auch Alternativen.

/1/ So geschehen von H. J. Kaiser in seiner pro- grammatischen Kritik an der Idee der musikali- schen Bildung: „Die Bedeutung von Musik und musikalischer Bildung.“ In: Deutscher Musikrat (Hg.): Musikforum 83 (1995), S. 17 - 26. Kaisers Kritik kann hier aus Platzgründen leider nicht entfaltet werden. Es werden lediglich einige sei- ner wesentlichen Kritikpunkte angesprochen.

1.

Wir müssen uns von einem ein- heitlichen und verbindlichen Mu- sikbegriffverabschieden.

Ein Begriff von Musik soll auf drei Fragen Antworten geben: /2/

a) Was wird in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation unter Musik verstanden?

b) Welche Funktionen/Zwecke er- füllt Musik?

c) Wie entsteht Musik?

Diese drei Bestimmungs-Fragen des Musik-Begriffs provozieren eine derartige Vielzahl unter- schiedlicher Antworten, daß eine inhaltliche Eingrenzung des Be- griffs von Musik unmöglich wird.

Schon allein ein Hinweis auf die Wandlungen in der Einschätzung von bestimmten Musikarten macht das deutlich: Was unter der Herrschaft der Nazis als ‚entarte- te‘ Musik galt, erfreut sich heute in Kreisen von Kennern besonde- rer Wertschätzung; Jazz, der noch vor fünf Jahrzehnten als ‚Red- Light-Music‘ diffamiert wurde, darf heute unangefochten Kunst- Volker Schütz

WELCHEN MUSIKUNTERRICHT BRAUCHEN WIR?

Teil I: Klärung einiger Voraussetzungen

Wir müssen uns von vielen liebgewor- denen Gewohnheiten

verabschieden!

(2)

ansprüche erheben. Ebenso war es mit der Seriellen Musik, ähnlich wird es evtl. mit der zukünftigen Einschätzung von Techno sein.

Auch die möglichen Funktionen und Zwecke von Musik sind auf- grund der allgemeinen Verfüg- barkeit von Musik zu jeder Zeit und an jedem Ort inzwischen ins Unbegrenzte gewachsen. Musik- produktion und -rezeption ge- schehen im Zusammen hang einer Suche nach Formen der pragmati- schen Alltagsbewäl tigung und, darüber hinaus, auf der Suche nach dem, was den Menschen emotionale Sicherheit, gleichzei- tig geistige Sicherheit, Sinnzusam - menhang bietet (Weltanschau- ung, Religion, Ideologie). Die Funktionen, die Musik dabei er- füllen kann, sind so vielgestaltig und unterschiedlich, wie es gesell- schaftlich bedingte Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Sozialverbänden gibt.

Nicht zuletzt macht auch die Fra- ge nach den Entstehungsmöglich- keiten von Musik die Vervielfälti- gungen der Begriffsinhalte deut- lich: Heute gilt nicht mehr nur das

‚klassische‘ (schreibende) Kompo- nieren als einzig legitime Art der Musikproduktion, sondern ebenso die Live-Improvisation eines Ein- zelnen oder einer Gruppe von Musikern, seit Stock hau sen eben- so multi-media- oder midi-ge- stütztes Komponieren oder Arran- gieren und anderes mehr.

Wir können also fernerhin nicht mehr von ‚Musik‘ als einem allge- mein akzeptierten und allumfas- senden Begriff ausgehen, sondern müssen, genauer, von ‚Musiken‘

sprechen, von einer Vervielfälti- gung des Begriffes von Musik.

Damit ist auch der in der Musiker- ziehung häufig strapazierte Topos von Musik als ‚universaler Spra-

che‘ hinfällig geworden. Längst haben wir einsehen müssen, daß es ein voraussetzungslosesVerste- hen von Musiksprachen anderer Kulturen /3/nicht geben kann.

/2/ vgl. Kaiser 1996, S. 21

/3/ Zu anderen Kulturen zähle ich nicht nur außereuropäische, sondern auch musikbezogene Teilkulturen in Deutschland. Wer kann schon von sich behaupten, daß er z. B. alle derzeit im Um- lauf befindlichen Ausdrucksformen musikbezo- gener Jugendkulturen versteht? Vgl. dazu Jer- rentrup, der über 20 aktuelle musikbezogene Teilkulturen beschreibt. Vgl. ders.: Aktuelle mu- sikstilistische Strömungen im Pop/Rock und ihr teilkulturelles Ambiente. In: Schütz, Volker (Hg.):

Musikunterricht heute. Oldershausen 1996

2.

Damit eng zusammenhängend:

Wir haben uns zu verabschieden von einem universal gültigen Wertmaßstabfür Musik.

Jede musikbezogene Ausdrucks- form ist - anthropologisch be- trachtet - Teil der Symbolwelt des

Menschen. Sie ist Mitteilung, Kommunikation, Interaktion /4/.

Insofern ist sie - soziologisch for - muliert - ein gesellschaftliches Phänomen. Der Zusammenhang zwi schen Musik und Gesellschaft ist unauflösbar. Musikalischer Aus- druck kann nicht unabhängig von sozialen, politischen und ökono- mischen Bedingungen entstehen.

Er ist immer Ausdruck gesell- schaftlicher Menschen. Diese schaffen sich ihre Musik gemäß ihren Bedürfnissen und Möglich- keiten, gehen damit um, lieben oder verwerfen sie.

Insofern wäre von einer prinzipi- ellen Gleichwertigkeitmensch li -

cher, musikbezogener Ausdrucks- formen auszugehen. Gleich-Wer- tigkeit kann allerdings nicht be- deuten, daß für alle Mitglieder ei- ner Gesellschaft und damit für die Gesellschaft als Gesamtheit jede Musik den gleichen Wert hätte. Es muß zwischen subjektiver und ob- jektiver Wertsetzung unter - schieden werden. Auf der Ebene subjektiverWertsetzung kommt die Gleich-Wertigkeit folgender- maßen zum Ausdruck: Weil für Person X eine bestimmte Musik (z.

B. Heavy Metal) vollkommener Ausdruck ihrer sozialen Identität ist, schreibt sie ihr einen hohen Wert zu. Person Y tut das gleiche mit einer völlig anderen Musik (z.

B. mit Musik aus der Folk Rock- Tradition der amerikanischen Westküste). Person Z wiederum bezieht sich auf die romantische Musik Schuberts, fühlt ihre perso- nale und soziale Identität voll - kommen von dieser Musik reprä- sentiert usw. Für jeden dieser Mu- siknutzer ist die jeweilige Musik von großer persönlicher und so- zialer Bedeutung und wird des- halb gleichermaßen hoch bewer - tet. Insofern kann von einer Gleich-Wertigkeit der verschiede- nen Musikarten auf einer subjek- tivenEbene gesprochen werden.

In unserer modernen arbeitsteili- gen Gesellschaft kommt es auf- grund von unterschiedlichsten Be- dürfnissen und Interessen zur Hin- wendung zu je unterschiedlichen Musiken. Dies führt in der Regel unweigerlich zu einer Parteinah- me für die je eigene, hochbewer- tete Musik.

Bei der Überfülle heute allein in Deutschland im Gebrauch befind- licher Musikstile und Ausdrucks - formen ist es keinem Menschen möglich, sich Kenntnis von allen musikbezogenen Ausdrucksfor-

Es gibt keinen universal gültigen

Wertmaßstab

für Musik

(3)

men innerhalb unserer Gesell- schaft zu verschaffen. Einzelne Musikstile und Ausdrucksformen bleiben notgedrungen vielen Menschen unbe kannt. So kann es - auf einer gesamtgesellschaftli- chen, einer objekti venEbene - niemals zu einem von allen glei- chermaßen akzeptierten und da- mit allgemein verbindlichen Kon- sens hinsichtlich der Bewertung von Musik kommen. Hier hilft nur, und das wäre Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen, für Tole- ranz und Wertschätzung, der ge- meinschaftliche Diskurs über an- stehende Wertungs-Fragen und - Probleme.

Das Postulat der Gleich-Wertigkeit von Musik impliziert also nicht etwa die Aufhebung unterschied- licher Wertsetzungen zugun sten eines für alle verbindlichen Con- sensus. Es impliziert allerdings Re- spekt und Toleranz gegenüber der individuellen Wertentschei- dung. Es akzeptiert und fördert die Vielheit unter schiedlicher kul- tureller Identitäten und wider- spricht damit einer wertenden Hierarchisierung, auch einer Her- absetzung von musikali schen Aus- drucksformen.

/4/ vgl. Suppan, Wolfgang: Der musizierende Mensch. Mainz 1984, S. 27

3.

Wir werden uns verabschieden müssen von dem überkommenen Begriff von Kultur.

Nehmen wir ein Beispiel: Ergeb- nisse jugendsoziologischer For- schungen zeigen, daß der einzel- ne Jugendliche in der Regel nach- einander oder teilweise auch par- allel an unterschiedlichenmusik- bezogenen Kulturen teilhat.

Letztlich handelt es sich also bei

einem durchschnittlichen heuti- gen Jugendlichen um einen „kul- turellen Mischling“ (Welsch). Er ist das typische Produkt einer Soziali- sation in einer „transkulturell“

verfaßten Gesellschaft. /5/

An diesem Beispiel wird deutlich, daß der gängige Kulturbegriff der kulturellen Verfassung unserer Gesellschaft längst nicht mehr ge- recht wird, daß er deskriptiv un- brauchbar, sogar falsch geworden ist. Dieser traditionelle Kulturbe- griff ist gekenn zeichnet durch (a) die Einheitlichkeit der Lebensfor- men, (b) eine ethnische Fundie- rung (Kulturen sind wie Kugeln oder autonome Inseln, begrenzt durch den territorialen Bereich ei- nes Volkes und dessen sprachliche Grenzen), (c) durch Separierung nach außen (jede Kultur soll als Kultur eines bestimmten Volkes von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden sein und blei ben). /6/Wolfgang Welsch ver- weist darauf, daß alle drei Annah- men dieses traditionellen Kultur- konzeptes heute unhaltbar ge- worden sind. /7/Moderne westli- che Kulturen seien durch eine Vielzahl unter schiedlicher Lebens- formen und Lebensstile gekenn- zeichnet, und sie seien hochgra- dig miteinander verflochten und durchdrängen einander. Lebens- formen endeten nicht an den Grenzen der Nationalkulturen, sondern überschritten diese.

Welsch bezeichnet diese neuarti- ge kulturelle Verfassung von Ge- sellschaften als ‚transkulturell’. /8/

Transkulturell seien Gesellschaften überdies nicht nur auf der Makro- ebene, „sondern ebenso auf der Mikroebene der Individuen. Für die meisten unter uns sind, was unsere kulturelle Formation an- geht, mehrfache kulturelle An- schlüsse entschei dend“. /9/Um

mit der gesellschaftlichen „Trans- kulturalität“ (Welsch) überhaupt zurechtzukommen, bedarf es, nach Welsch, der „Entdeckung und Akzeptation der transkultu- rellen Binnenverfassung der Indi- viduen“ /10/, also der eigenen transkulturel len Binnenverfas- sung. Dem stehen wiederum ge- wichtige Hindernisse im Wege.

Welsch verweist auf die Psycho - analyse, die den damit korrespon- dierenden Problemzusammen - hang zur Genüge beschrieben hat: „Haß gegenüber dem Frem- den ist im Grunde projizierter Selbsthaß. Man lehnt am Fremden stellvertretend etwas ab, was man in sich selbst trägt, aber nicht zu- lassen mag, sondern was man in- tern verdrängt und extern bekämpft. Umgekehrt bildet die Anerkennung innerer Fremdheits- anteile eine Voraussetzung für die Akzeptanz des Fremden im

Außen.“ /11/

Tatsächlich ist die Vielfalt musik- bezogener Teilkulturen in unserer Gesellschaft noch nie so groß ge- wesen wie heute. Das könnte ein- mal an der allgemeinen (media- len) Verfüg barkeit unzähliger hi- storischer und aktueller musikali- scher Ausdrucksformen (aus der ganzen Welt) liegen. Es dürfte zum andern begründet sein in dem unglaublich hohen Anteil von Musiknutzern in unserer Ge- sellschaft /12/und deren unter- schiedlichsten, teilweise äußerst kreativen Formen der Befriedi- gung von musikbezogenen Be- dürfnissen.

5/ zum Begriff der Transkulturalität vgl. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität - Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. In: Das Magazin 1994, Ausgabe 3, S. 10 - 13; Hg.: Wissenschafts- zentrum Nordrhein-Westfalen, Reichsstr. 45, 40217 Düsseldorf

/6/ Dieser Kulturbegriff wurde in der deutschen Tradition von Herder ausgearbeitet.

/7/ vgl. Welsch, S. 10 /8/ Welsch, S. 11

(4)

/9/ Welsch, S. 12 /10/ ebenda /11/ ebenda

/12/ Statistisch gesehen beschäftigen sich etwa 10% der deutschen Bevölkerung aktiv mit Musik;

für 90% ist Musik (in irgendeiner Form musikbe- zogener Praxis) die Freizeitbeschäftigung Nr. 1;

vgl. Wirtschaftswoche 30/1995, S. 59

4.

Wir haben Abschied zu nehmen von der Vorstellung, daß ohne Musikerziehung an allgemeinbil- denden Schulen die Existenz unse- res öffentlichen Musiklebens ge- fährdet sei. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß sich diese Vor- stellung lediglich auf einen be- stimmten kleinen, wenn auch ge- wichtigen Teil unseres öffentli- chen Musiklebens bezog: den der traditionellen Kunstmusik. Andere musikalische Teilbereiche oder Teilkulturen blieben von dieser Vorstellung ausgeschlossen.

Sodann wäre zu fragen: /13/

1. Welchen Beitrag leistet eigent- lich Musikerziehung zum Entste- henvon Musik?

2. Welchen Einfluß nimmt Musi- kerziehung in der allgemeinbil- denden Schule auf die Prozesse der Aneignungvon Musik?

3. Welche Formen der individuel- len oder kollektiven Nutzungvon Musik außerhalb der Schule hilft sie zu entwickeln?

Die möglichen Antworten auf die- se Fragen machen recht deutlich, daß der traditionelle einstündige Musikunterricht nur einen äußerst geringfügigen Beitrag zur Entste- hungvon Musik innerhalb unse- res öffentlichen Musiklebens lei- stet, daß er kaum die

Aneignungs prozessevon Musik unserer Schüler beeinflußt (die ei- gentliche, existentiell und biogra- phisch bedeutsame Aneignung von Musik findet in der Regel außerhalb von Schule und in an- derer Form statt) und daß auch

seine Anregungen zur Nutzung von Musik in der Regel im inner- schulischen Zusammenhang ver- bleiben. Fazit: Öffentliches Musik- leben, genauer: Musikleben in den unterschiedlichsten Teilkultu- ren unserer Gesellschaft findet derzeit nahezu vollständig ohne den Einfluß von Schule statt.

Damit ist nicht gesagt, daß das gut ist und so bleiben muß. Im Gegenteil: Die Erfahrungen eines handlungs- und schülerorientier- ten Musikunterrichts der letzten 10 Jahre haben gezeigt, daß das Schulfach Musik sehr gut in der Lage wäre, mehr als bisher zum Entstehen, zur Aneignung und zur Nutzung von Musik beizutra- gen.

5.

Es gilt, Abschied zu nehmen von der unbefragten didaktischen Ma- xime, daß das Redenüber Musik Wesentliches zur Erfahrung von Musik beitragen könne.

Das Redenüber Musik als wesent- lichste Vermittlungsform eines (gymnasialen und gymnasial-ori- entierten) Musikunterrichts hat seine Wurzeln in der Methodik der historischen Musikwissen- schaft. Deren wesentlichste Me- thode war die Verschriftlichung (Versprachlichung) ihrer For- schungsergebnisse, selbst wenn diese Methode mit dem unter- suchten Gegenstand nicht das Ge- ringste zu tun hatte (z. B. bei der Erforschung oraler Musikkultu- ren). Der begriffliche Ausdruck ist jedoch dem musikalischen Aus- druck entgegengesetzt. Er ist le- diglich Hilfsmittel, wenn es darum geht, sich dem nicht-begrifflichen Gehalt einer Musik anzunähern.

Ein Musikstück ist ja geradezu Ausdruck dafür, daß eine originä- re Erfahrung mit begrifflicher

Sprache nicht zu fassen war, son- dern eben nur über die sinnen- haft-imaginative Ausdrucksform Musik.

Im Zusammenhang der Frage nach geeigneten musikbezogenen Vermittlungsmethoden sich auf die der Musik eigenen Bestim- mungsfaktoren zu besinnen, be- deutet, dem unmittelbaren, akti- ven Umgang mit Musik(instru- menten) einen neuen Stellenwert zuzuordnen und der sprachlichen Auseinandersetzung mit Musik skeptischer zu begegnen.

Dies bedeutet allerdings keine Absage an die Reflexion. Selbst- verständlich sollen im Unterricht- sprozeß gewonnene ästhetische Erfahrungen im Nachhinein ge- meinsam mit der Lerngruppe re- flektiert werden.Es sollte den Be- teiligten klar wer den, daß viele Ursachen für die erfahrenen Wir- kungen (genauer: für die erfahre- nen Resultate dieser Wirkungen) in der Musik angelegt sind und zwar in ihrer Form oder Struktur, ihrem Klang. Die Schüler sollen auf jeden Fall über die hinter der Musik stehende Grammatik aufge klärt wer den. Dazu müssen grammatikalische Begriffe einge- führt und weitere sprachliche In- formationen gegeben werden.

Das Verstehen der inhaltlichen Be- deutungen dieser Begriffe setzt allerdings ästhetische Erfahrun- gen (mittels Musizieren, Tanzen oder Hören) mit dem begrifflich Gemeinten voraus. Deshalb sei eindrücklich davor gewarnt, in den weitverbreiteten Fehler zu verfallen, die Einführung der Be- griffe, also die Theorie der Musik, vor oder überden sinnlichen Erfahrungs prozeß zu stellen. Be- griffe können eine ästhetische Er- fahrung niemals ersetzen, sie sind das Ergebnis des Versuchs, sich

(5)

mit anderen über gemachte ästhetische Erfahrungen zu ver- ständigen. Dies geschieht in unse- rer Kultur gewöhnlich mithilfe von Sprache. Die Entwicklung des Vermögens, den gespielten oder gehörten Klängen/Pat tern einen Sinn im syntaktischen Zusammen- hang der Musik beimessen zu können, bildet eine wichtige Vor- aussetzung dafür, Musik musika- lisch zu denken. Damit ist eine Fähigkeit gemeint, die wir - auf einer vergleichbaren Ebene - in je- dem Sprechakt einsetzen: Wir denkenzu erst das, was wir sagen wollen. Wenn wir also einen Rhy- thmus spielen oder ein Lied sin- gen, sollten wir in der Lage sein, den musikalischen Sinn des Ge- stalteten zu denken: beispielswei- se das Metrum als ordnendes und als korrelierendes Element zum eigenen Pattern o. ä. Erst dann kann es uns gelingen, Musik zu denken bzw. angemessen - wir können auch sagen: künstle risch - zu gestalten. /14/

Damit ist die eine Seite beim Mu- sizieren angesprochen: Der Aus- führende ist in der Lage, mithilfe seines analyti schenDenkvermö- gens (angesiedelt in der linken Hirnhälfte) das Gespielte bewußt zu denken, zu gestalten und zu kontrollieren. Beim Musizieren sollte aber gleichermaßen analo- gesDenken und ganzheitliches Wahrnehmen zur Wirkung kom- men. Wiedemann, der sich inten- siv um eine Übertragung von Er- gebnissen der Hirnforschung auf Methoden des Klavierspiels bemüht hat, /15/ geht davon aus, daß aufgrund von kulturbeding- ten Erfahrungen unsere linke Hirnhälfte (dominant für abstrak- tes und analy tisches Denken, Sprache, Zeitgefühl, rhythmisches Gedächtnis u. ä.) beim Musizieren

automatisch die Kontrolle über- nimmt. Wird jedoch z. B. ohne Noten und in zyklischen Formen musiziert /16/, besteht die Chance, daß sich die linke Hirnhälfte un- terfordert fühlt und die Kontrolle aufgibt. So tritt die rechte Hirn- hälfte in ihr Recht. Ihre Möglich- keiten zur Wahrnehmung und Er- fahrung von Musik sind ganz an- dere: ganz heitliches Verarbeiten von Informationen, musikalisches Empfinden, Intuition, blitz - schnelles Erfassen von musikbezo- genen Zusammenhängen und ebensolches Reagieren, Koordina- tion und Harmonisierung von Körperbewegungen, Zustand der Zeitlosigkeit, Emotionalität.

Die rechte Hirnhälfte dominiert damit die eigentlich musikspezifi- schen Wahrnehmungs- und Erfah- rungsmöglichkeiten. Dies sind ex- akt die Wahrnehmungs- und Erfahrungsfor men von Musik, die von heutigen Jugendlichen favori- siert werden. Vom Standpunkt des jugendlichen Rezipienten aus betrach tet ist Musik eine nichtbe- grifflicheAusdrucksform, die sich an die Sensorien des gesamten Körpers wendet, um Körper, Geist und Seele gleichermaßen zu ‚be- wegen‘, d. h. den ganzenMen- schen anzusprechen. Mit der Ent- wicklung jugendspezifischer musi- kalischer Ausdrucksformen haben sich tendenziell diesbezügliche Rezeptionsformen von Musik ent- wickelt: namentlich ein „Hören mit dem ganzen Körper“. /17/

Damit ist die Potentialität von ästhetischemDenken und Han- deln angesprochen. Ästhe tisches Denken zielt eben gerade nicht auf rein begriffliche, sondern auf sinnenhaft-imagi nativeWelter - schließung. Gemeint ist ein Den- ken, das in besonderer Weise mit Wahrnehmung - und zwar mit Wahr neh mung mithilfe aller Sin- ne - im Bund ist.

Es sollte also im Musikunterricht nicht darum gehen, Musikstücke als Objekte des Wissens und der Rationalität (gar musikhistorischer Gelehrsamkeit) zu präsentieren, sondern sie als Medien ästhe - tischer Erfahrung, d. h. ästheti- scher Wirklich keits er fahrung, zur Geltung zu bringen. Ein Musik- stück ist ein Versuch, die ima - ginative Sinnvermutung einer je originären Erfahrung in eine oh - ren fällige Sinngestalt zu gießen.

Diese Gestaltung ist Zeichen für etwas, das nur so, und nicht etwa begrifflich, erfaßt und festgehal- ten werden konnte.

/13/ vgl. Kaiser 1995, S. 21

/14/ vgl. die Hinweise von Gruhn als Ergebnis seiner langjährigen Auseinander setzungen mit kogniti onspsychologisch-orientierten Forschun- gen zum musikalischen Lernen; Gruhn, Wilfried:

Schulmusik in der Krise? In: Zs Musik und Unter- richt 36 (1996)

/15/ vgl. Wiedemann, Herbert: Klavierspiel und das rechte Gehirn. Neue Erkenntnisse der Ge- hirnforschung als Grundlage einer Klavierdidak- tik für erwachsene Anfänger. Regensburg 1985 /16/ Unterrichtlich bewährt haben sich Musiken aus der Rock/Popkultur, aus Lateinamerika, aus Schwarzafrika u. ä.

/17/ vgl. Schütz, Volker: Didaktik der Pop/Rock- musik - Begründungsaspekte. In: Helms, S. u. a.

(Hg.): Kompendium der Musikpädagogik. Kassel 1995, S. 268

Zusammenfassung

Eine Begründung von Musikunter- richt, seiner Inhalte, Methoden und Ziele, kann sich nicht mehr auf bestimmte, in der bisherigen Tradition des Faches gültige Vor- aussetzungen beziehen. Wir müs- sen uns vielmehr auf folgende Ge-

Die Theorie der Musik darf nicht vor oder über dem sinnlichen Er-

fahrungsprozeß

stehen

(6)

gebenheiten einrichten:

- Der Gegenstand von Musikun- terricht, die Sache ‚Musik‘, präsen- tiert sich in einer Vielheit von un- terschiedlichsten Musiken, einge- bettet in die unterschiedlichsten sozialen Zusam menhänge, Funk- tionen und musikbezogenen Pra- xisformen.

- Diese Vielzahl von Musiken er- fordert unterschiedliche

Bewertungsmaß stäbe, gemäß den je dahinterstehenden, unter- schiedlichsten ästhetischen Maxi- men.

- Unsere Gesellschaft ist transkul- turell verfaßt. Es gibt keine für alle verbindliche (musikalische) Kultur bzw. (musikbezogene) Le- bensform mehr. Anstelle dessen ist eine Vielzahl von möglichen Lebensstilen und kulturellen Iden- titäten, von gleichberechtigten Teilkulturen getreten.

- Musikerziehung kann deswegen nicht mehr auf eine für alle ver- bindliche musikbe zo gene Kultur/Lebensform hinerziehen;

sie ist damit auch keinesfalls mehr notwendige Voraussetzung für den Fortbestand des Teilbereichs öffentlicher Musik kultur, der - bis- lang hochsubventioniert - die tra- ditionelle Kunstmusik pflegt.

- Die noch immer überwiegend gepflegte begrifflicheAuseinan-

dersetzung mit und über Musik im Musikunterricht reicht längst nicht mehr aus, um der Vielfalt schulisch möglicher und notwen- diger ästhetischer Erfahrungsfor- men gerecht zu werden. Musiker- ziehung muß verstärkt andere Methoden der musikalischen Er- fahrung nutzen.

Aufgrund dieser veränderten Vor- aussetzungen von einer prinzipiel- len Gefährdung von Musikunter- richt an allgemeinbildenden Schu- len zu sprechen, ist falsch. Musik- unterricht war noch nie anders in seinem Bestand zu sichern, als durch politische Entscheidungen.

/18/Warum sollten die negativ beeinflußt werden allein durch die Tatsache, daß Musikunter richt versucht, sich auf die derzeitigen gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingun gen einzu- richten?

Im Gegenteil: Die Legitimations- basis von Musikunterricht verbrei-

tert sich in dem Maße, in dem sich Musikunterricht als Anwalt unter- schiedlichster musikalischer Pra- xen und Teilkulturen versteht.

Und daß Musik in unserer Gesell- schaft eine unhintergehbare Tat - sache mit einer enormen sozialen und auch ökonomischen Bedeu- tung ist, dürfte nie mand mehr in Frage stellen können und wollen.

Musik ist aus unserer Gesellschaft nicht wegzu denken. Grund ge- nug, staatliche Institutionen (Schule, Musikschule, Konservato- rium, Musikhochschule u. ä.) und deren Finanzierung zu fordern, die dem unabweisbaren Professio- nalisierungsbedarf im Bereich mu- sikalischer Praxis gerecht werden.

(Forts.: Teil II‚ „Perspektiven eines brauchbaren Musikunterrichts“

erscheint im AfS-Magazin 2)

/18/ vgl. Kaiser, H. J.: Musikunterricht für alle? In:

Ritzel, Fred / Stroh, Wolfgang (Hg): Musik- pädagogische Konzeptionen und Schulalltag.

Wilhelmshaven 1984, S. 166 - 173

Was der versierte Texter, Komponist und Arrangeur Felix Janosa hier an- bietet, ist wirklich außerordentliche Beachtung wert. Zehn witzige und charmante Lieder werden in einem ansprechenden Notenbild als Voll- playback und als Instrumentalplayback für den eigenen Gebrauch ange- boten. Die Texte sprechen sicherlich alle Altersstufen der Sekundarstufe I an

(Dieter Bührig in "Musik und Bildung" 1 / 1996)

Felix Janosa: Das RAP-Huhn. 10 tierische Raps. eres 2216, (inclusiv CD) DM 39,80

E R E S E D I T I O N , Postfach 1220, 28859 Lilienthal / Bremen

hierhin Film „RAP HUHN“

Musikunterricht: An- walt unterschiedlichster

musikalischer Praxen

und Teilkulturen

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