Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 106|
Heft 51–52|
21. Dezember 2009 A 2529N
euengland, eine private Party in einem gutbürger- lichen Vorort einer Großstadt. Die Gäste: Anwäl- te, Unternehmensberater, gut verdienende Angestellte, Journalisten. „Wer zahlt in Deutschland, wenn eine Krebsoperation nötig wird?“, möchte der Gesprächs- partner wissen, der sich um einen Freund sorgt. Im Ge- spräch stellt sich heraus: Eine schwere Erkrankung ist in den Vereinigten Staaten sogar in der oberen Mittel- schicht das Armutsrisiko Nummer eins, für Leute mit weniger Dollar in der Tasche ohnehin. Umso wichtiger ist die geplante US-Gesundheitsreform, Thema des Bei- trags „Revolution oder Scheitern“ in diesem Heft. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beschreibt den Befund abstrakter, aber unmissverständlich so: Alle Industrieländer ge- währleisteten für alle oder fast alle den Zugang zu ei- nem Kern von Gesundheitsdienstleistungen, mit Aus- nahme der Vereinigten Staaten, Mexikos und der Türkei.Der neueste OECD-Vergleich der Gesundheitssysteme (Health at a Glance 2009) enthält einige aus deutscher Sicht höchst interessante Feststellungen: Das deutsche Gesundheitssystem wird für seine Qualität gelobt, auch wenn die (selbstverständlich nicht nur von der medizini- schen Versorgung) beeinflusste Lebenserwartung in Ja- pan, in der Schweiz und elf weiteren OECD-Ländern höher ist als die 77,4 Jahre für Männer und 82,7 Jahre für Frauen hierzulande. Die Mortalität bei lebensbedro- henden Krankheiten, beispielsweise von stationär be- handelten Herzinfarktpatienten, liegt in Deutschland un- ter dem Durchschnitt der Industrieländer.
Nicht nur die Politiker sollten zur Kenntnis nehmen, dass die ambulante Versorgung chronisch Kranker in Deutschland besonders gute Noten erhält. Die Autoren des Ländervergleichs heben hervor, dass Patienten mit Asthma in den Vereinigten Staaten sechsmal so häufig ins Krankenhaus eingewiesen werden wie in Deutsch- land. Ähnliches gilt für Diabetiker. Wer überflüssige Krankenhausaufenthalte vermeidet, spart Kosten, die auch in anderen Ländern kritisch betrachtet werden.
„Die Qualität eines Golfs zum Preis eines Mercedes“ – solche und ähnliche Sprüche über das angeblich schlechte Preis-Leistungs-Verhältnis des deutschen Ge- sundheitswesens sind aus der gesundheitspolitischen Diskussion der vergangenen Jahre noch gut im Ohr.
Wer sich von der OECD-Studie für diese These Argu- mente erhofft hat, dürfte enttäuscht sein. Es stimmt:
Setzt man die öffentlichen und privaten Gesundheits- ausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung, dem Bruttoinlandsprodukt, liegt Deutschland mit 10,4 Pro- zent hinter den USA (16 Prozent), Frankreich (11 Pro- zent) und der Schweiz (10,8 Prozent) auf Rang vier.
Dieser Platz ist aber keine Schande. Warum soll diese Quote, die schon Mitte der Neunzigerjahre bei gut zehn Prozent lag, nicht zunehmen dürfen, wenn der Behand- lungsbedarf wächst?
Aussagekräftiger sind ohnehin die Pro-Kopf-Ausga- ben für Gesundheit. Hier liegt Deutschland unter den In- dustrieländern auf Platz zehn hinter Ländern wie den USA, Norwegen, Luxemburg und Österreich, die alle auch ein höheres Pro-Kopf-Einkommen haben. Dass die deutschen Gesundheitsausgaben pro Kopf den Durch- schnitt der Industrieländer um 20 Prozent überschreiten, ist von der Qualität der Versorgung her allemal ange- messen. Zudem sind in keinem anderen Industrieland die öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben in der Dekade von 1997 bis 2007 so langsam gestiegen: im Schnitt nur um 1,7 Prozent pro Jahr. Budgetierung und Deckelung hinterlassen eben Spuren. Das sollten alle zur Kenntnis nehmen, die – wie im Beitrag „Neuauflage einer alten Diskussion“ geschildert – jetzt schon wieder der Kostendämpfung das Wort reden. Man sollte nicht erst nach Amerika blicken müssen, um zu wissen, was wirklich zählt: eine gute medizinische Versorgung für die ganze Bevölkerung.
GESUNDHEITSSYSTEME
Was wirklich zählt
Heinz Stüwe
Heinz Stüwe Chefredakteur