Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 106|
Heft 41|
9. Oktober 2009 A 2017„Das verstehe ich nicht . . . Das kann doch keiner verstehen“ – so reagie- ren die meisten Menschen und auch viele Ärzte auf die häufiger wer- denden Meldungen über Jugendkri- minalität, insbesondere über Ge- walttaten wie Amokläufe. Wer da- her erschrocken und ratlos ist, sollte dieses Buch lesen, in dem Reinhart Lempp die Gewalttaten Jugendli- cher ein gutes Stück weit erklärt.
Hierbei kommen dem Autor seine großen Erfahrungen als Professor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Tübingen und als forensischer Psychiater zugute.
Er geht dabei von zwei Ansätzen aus. Zunächst von der Zukunfts- angst. Aussichtslosigkeit und Angst vor der Zukunft sind heute unter Jugendlichen weitverbreitet. Die Gründe dafür legt Lempp nahe.
JUGENDGEWALT
Gelungene Erklärungen
Auch bei dem Amokläufer von Er- furt, Robert Steinhäuser, war das so: Die Schule hatte ihn hinausge- worfen. Er sah keine Chance eines weiterführenden Schulab-
schlusses. Die Schuld hier- für konnte er nicht bei sich sehen, er wies sie der Schu- le zu. Aber warum dann ein solches Attentat? Hier greift der zweite Ansatz von Lempp: die Ausbil- dung einer Nebenrealität.
Ursprünglich handelt es sich um Fantasien in der Art des Tagträumens, so wie die meisten Jugendli- chen vorübergehend Größenfanta- sien entwickeln. Heute können Ju- gendliche im Fernsehen und Inter- net Darsteller finden, die scheinbar keine Angst haben, sondern ande- ren Angst machen. So auch bei Ro- bert Steinhäuser: „Die Videos und Gewaltstreifen regten ihn an, sich
in einen Mann hineinzuprojizieren, der stärker ist als alle anderen. Ei- ner, der keine Angst hat, die ihn selbst quält, sondern vor dem die anderen Angst haben.“
Wenn solche Fantasien, angeregt durch eine Selbstwertkrise und ge- fördert durch die suggestive Kraft der Medien, das Erleben eines Ju- gendlichen über längere Zeit be- stimmt, spricht man von einer Ne- benrealität, sozusagen einer ande- ren Daseinsweise neben der Hauptrealität. Was hier angedeutet wurde, legt Lempp wissenschaft- lich begründet dar. Seine didaktisch gelungenen Erklärungen lassen das Erleben dieser Jugendlichen ver- stehbar werden. Hierin liegt der große Wert des Buches für die Ge- waltprävention und für das Verste- hen dieser Jugendlichen. Ärzte, die auf die Frage „Verstehen Sie das, Herr Doktor . . .“ eine Antwort geben wollen, sollten dieses Buch lesen.
Rainer Tölle Reinhart Lempp:
Nebenrealitäten.
Verlag für Polizeiwis- senschaft, Frankfurt 2009, 154 Seiten, gebunden, 24,90 Euro