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Archiv "Sinnvolle Differenzierung" (19.07.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 28–29

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19. Juli 2010 505

M E D I Z I N

DISKUSSION

Gesetzliche Regelungen

Tatsächlich kommt in der medizinischen Lehre das Thema vielerorts noch deutlich zu kurz. Dies muss ich auch als Studiendekan der medizinischen Fakultät in Ulm einräumen. So gelungen dieser Beitrag auf der Ebene der Diagnostik ist, weist er doch in Bezug auf Psychodiagnostik, psychische Folgen und Handlungs- implikationen Mängel auf: Das Ende des Artikels zeigt die ganze Problematik an der Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe auf, denn effekti- ver Kinderschutz ist ohne Vernetzung (1) nicht mög- lich.

Falsch ist die Feststellung, dass es in Deutschland in Fällen von Kindesmisshandlung und Kindesmiss- brauch keine Meldepflicht gäbe. Nach der ausführli- chen Debatte um extrem problematische Kinder- schutzfälle wie bei Kevin und anderen (2) haben die Landesgesetzgeber eine Vielzahl von unterschiedli- chen gesetzlichen Regelungen zum Kinderschutz er- lassen. Im bayrischen Gesetz ist zum Beispiel eine Meldepflicht formuliert. Das rheinland-pfälzische und baden-württembergische Landesrecht sieht einen Ab- wägungsvorgang mit Blick auf Garantenpflichten vor, ähnlich wie im Artikel beschrieben. An der Ärzte- schaft sind diese Regelungen weitgehend unbemerkt vorbeigegangen. Wir haben bayrische und baden- württembergische Kinderärzte und Hausärzte hierzu empirisch befragt und mussten ein generelles Nicht- wissen zur rechtlichen Situation, aber auch zu Rechts- fragen und Handlungsoptionen beim Kinderschutz feststellen (3).

Es ist deshalb zu begrüßen, dass der Bund, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, einen zweiten Anlauf genommen hat, hier durch ein Bundeskinderschutzge- setz die gut gemeinte Regelungsvielfalt wieder in ge- ordnete Bahnen zu bringen.

DOI: 10.3238/arztebl.2010.0505a

LITERATUR

1. Ziegenhain U, Schöllhorn A, Künster AK, Hofer A, König C, Fegert JM:

Modellprojekt Guter Start ins Kinderleben. Werkbuch Vernetzung – Chancen und Stolpersteine interdisziplinärer Kooperation und Vernet- zung im Bereich Früher Hilfen und Kinderschutz. Schriftenreihe des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, 2010.

2. Fegert JM, Ziegenhain U, Fangerau H: Problematische Kinderschutz- verläufe – Mediale Skandalisierung, fachliche Fehleranalyse und Strategien zur Verbesserung des Kinderschutzes. Juventa Verlag 2010.

3. Knorr CC, Fangerau H, Ziegenhain U, Fegert JM: „Ich rede mit Ju- gendschutzmenschen über alles, was mir am Herzen liegt.“ Schwei- gepflicht, Meldepflicht, Befugnisnorm, frühe Hilfen und die verwirren- de Rechtslage für Ärzt/inn/e/n bei der Zusammenarbeit mit der Ju- gendhilfe. Das Jugendamt – Zeitschrift für Jugendhilfe und Familien- recht 2009; 82(7–8): 352–7.

4. Jacobi G, Dettmeyer R, Banaschak S, Brosig B, Hermann B: Child abuse and neglect: Diagnosis and management [Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern – Diagnose und Vorgehen]. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(13): 231–40.

Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm

E-Mail: Joerg.Fegert@uniklinik-ulm.de

Interessenkonflikt

Der Autor deklariert mögliche Interessenkonflikte durch finanzielle Förderung von Projekten zum Kinderschutz durch den Bund (BMFSFJ), das Zentrum Frü- he Hilfen, die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Thü- ringen sowie die Kommunen Düsseldorf, München und Ulm.

Sinnvolle Differenzierung

Jacobi et al. weisen in ihrem Beitrag zur Misshand- lung und Vernachlässigung von Kindern zurecht auf das Münchhausen-Syndrom-by-Proxy hin. In dem Beitrag wird jedoch die Symptomatik von Kindern mit einer Artifiziellen Störung mit by Proxy ver- mischt (3), wobei das Münchhausen-Syndrom by Proxy eine bedeutsame Unterform der Artifiziellen Störung ist (2).

Die Differenzierung macht aus Sicht der Arbeit mit Ärzten für Kinder- und Jugendmedizin sowohl im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung als auch der Balintgruppen-Arbeit einen bedeutsamen Unterschied:

beim Münchhausen-Syndrom-by-Proxy (1) stel- len die relevanten Bezugspersonen (zum Bei- spiel die Mutter) das Kind unter der Vortäu- schung von Krankheitssymptomen (Pseudologia phantastica) vor; zum Beispiel wird berichtet, das zweijährige Kind habe nachts „gekrampft“.

bei der Artifiziellen Störung by Proxy werden dagegen stets das Kind direkt schädigende Mani- pulationen (zum Beispiel Medikamentengabe) vorgenommen.

Diese beiden Syndrom-Ausprägungen voneinander zu differenzieren macht auch klinisch Sinn, weil die Dynamik bei einem Münchhausen-Syndrom oft auf der Ebene der Psychosomatischen Grundversorgung als eigene Not der Mutter (zum Beispiel übermäßige körperbezogene Ängste, die auf das Kind projiziert werden) besprechbar sind. Dagegen ist die Bezie- hungsstörung zwischen Kind und Bezugsperson bei der Artifiziellen Störung in der Regel sehr viel schwerwiegender und die Aufklärung der gesamten Dynamik oft ungleich protrahierter, ganz davon abge- sehen, dass das Kind unmittelbar gefährdet ist.

DOI: 10.3238/arztebl.2010.0505b zu dem Beitrag

Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern – Diagnose und Vorgehen

von em. Prof. Dr. med. Gert Jacobi, Prof. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Dettmeyer, Dr. med. Sibylle Banaschak, Prof. Dr. med. Burkhard Brosig,

Dr. med. Bernd Herrmann in Heft 13/2010

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506 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 28–29

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19. Juli 2010

M E D I Z I N

Schlusswort

Die Feststellung, das Thema Kindesmisshandlung komme auch in der universitären medizinischen Leh- re zu kurz, ist sicherlich zutreffend. Wir würden wei- tergehend sagen, dass auch bei der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Ärzten und medizinischen Assis- tenzberufen sowie bei behördlichem Fachpersonal (Jugendamt, Polizei, Justiz) erheblicher Aufklä- rungsbedarf besteht. Zu den weithin unterschätzten Folgen der Kindesmisshandlung gehören psychische Folgeschäden, so dass der Hinweis von Prof. Fegert auf eine gebotene Psychodiagnostik sowohl beim be- troffenen Kind als auch bei den Misshandlern, also häufig seinen Eltern, ebenso unterstützt werden kann wie die verstärkt zu diskutierenden Handlungsimpli- kationen. Richtig ist allerdings – und so waren unse- re Ausführungen gemeint – dass es in Deutschland keine bundesweit geltende Meldepflicht bei gegebe- nen Verdacht auf eine Kindesmisshandlung gibt. Nur einzelne Landesgesetzgeber haben derartige Rege- lungen formuliert, was dann in dem betreffenden Bundesland selbstverständlich zu beachten ist. Wie wenig wünschenswert diese Regelungsvielfalt ist, darauf weist auch der Leserbriefschreiber hin mit sei- nem Verweis auf eine angekündigte, aber noch aus- stehende Regelung in einem Bundeskinderschutzge- setz. Zutreffend wird beklagt, dass eine umfassende- re Darstellung einer auch psychiatrischen Psychodi- agnostik bei Eltern und Kind sinnvoll wäre, dies war jedoch nicht mit den Umfangsvorgaben für den Bei- trag zu vereinbaren. Deshalb wurde der Fokus auf die psychosomatische Evaluation mit Erfassung der fa- miliären Dynamiken gelegt, nicht zuletzt, um Umris- se eines verstehenden Zugangs zu diesen menschli- chen Katastrophen zu skizzieren.

Das Münchhausen-Syndrom-by-Proxy (MSbP), dessen Existenz vor nicht allzu langer Zeit teilweise noch bestritten wurde, wird derzeit primär als eine

Form der Kindesmisshandlung gesehen, mit den auch von uns genannten unterschiedlichen Syndrom- Ausprägungen („active inducers“; „doctor addicts“,

„help seekers“). Diese Ausprägungen lassen in der Tat eine weitergehende Klassifikation des Syndroms aus psychiatrisch-psychosomatischer Sicht sinnvoll erscheinen, worauf Prof. Heuft zutreffend hinweist.

In einer Übersichtsarbeit konnte auf derart spezielle Aspekte, die dann auch bei anderen Misshandlungs- formen zu beachten wären, nicht näher eingegangen werden. Die in dem zweiten Leserbrief angegebene Differenzierung, auch der hypochondrische Wahn by Proxy [„hypochondrasis by proxy“] und depressive Wahnbildungen der Eltern, sollten hier nicht verges- sen werden. Mit der darin enthaltenen feinen nosolo- gischen Abschattierung ist dies klinisch nützlich, wo- bei auch hier ja nur Hinweise auf Themenfelder ge- geben werden können.

DOI: 10.3238/arztebl.2010.0506 LITERATUR

1. Jacobi G, Dettmeyer R, Banaschak S, Brosig B, Hermann B: Child abuse and neglect: Diagnosis and management [Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern – Diagnose und Vorgehen]. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(13): 231–40.

Prof. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Dettmeyer Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Rechtsmedizin Frankfurter Straße 58 35392 Gießen

E-Mail: reinhard.dettmeyer@forens.med.uni-giessen.de

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des In- ternational Committee of Medical Journal Editors besteht.

LITERATUR

1. Eckhardt-Henn A, Heuft G, Hochapfel G, Hoffmann SO: Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin. Stuttgart: Schattauer 2009 (8. Aufl.).

2. Eckhardt-Henn A: Artifizielle Störungen und Münchhausen-Syndrom.

Gegenwärtiger Stand der Forschung. Psychother Psychosom Med Psychol 1999; 49: 75–89.

3. Asher R: Munchhausen´s Syndrome. Lancet 1951; 1: 339–41.

4. Jacobi G, Dettmeyer R, Banaschak S, Brosig B, Hermann B: Child abuse and neglect: Diagnosis and management [Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern – Diagnose und Vorgehen]. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(13): 231–40.

Prof. Dr. med. Gereon Heuft Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherpie Universitätsklinikum Münster Domagkstraße 22 48149 Münster

E-Mail: heuftge@mednet.uni-muenster.de

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des In- ternational Committee of Medical Journal Editors besteht.

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