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Verhandlungen

der XV. Tagung der Estländischen Deutschen Ärztlichen Gesellschaft

in Dorpat vom 8.—10. September 1929.

I

Druck von C. Mattiesen, Dorpat.

1929.

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Verhandlungen der XV. Tagung

der Estländischen Deutschen Ärztlichen Gesellschaft

in Dorpat vom 8.-10. September 1929.

Der Vorsitzende, Prof. E. B 1 e s s i g - Dorpat, eröffnet die Tagung und begrüsst Teilnehmer und Gäste. Ansprachen der Vertreter zahlreicher ärtztlicher Gesellschaften des In- und Auslandes, sowie Dir. P. Bios- f e 1 d s - Reval im Namen der Lehrerschaft Estlands. Verlesen der ein­

gelaufenen Glückwünsche. Festsetzung des Mitgliedsbeitrages auf 5.— EKr.

Darauf Beginn der Verhandlungen.

Hauptverhandlungsthema :

Die Schule in hygienischer und ärztlicher Beleuchtung.

Dr. J. MEYER - Dorpat: Zur Schularztfrage (spez. Schulärztliche Untersuchung).

(Referat.)

Vortragender begründet seinen Wunsch, auf dem Ärztetage die Schul­

arztfrage zur Sprache zu bringen mit dem Hinweis darauf, dass bisher der Wert der Mitarbeit des Arztes in der Schule nicht genügend anerkannt worden. Die an den deutschen Schulen meist ehrenamtlich tätigen Ärzte sollten zu einander in Beziehungen treten, um ihre Aufgaben einheitlich aufzufassen.

Vortragender gibt eine kurze Inhaltsangabe des die schulärztliche Tätigkeit regelnden Staatsgesetzes („Riigi Teat.” Nr. 21, 1921). Die staat­

lich angestellten Schulärzte sind durch die Ambulanz (täglich eine Stunde in jeder Schule) stark in Anspruch genommen. Äusser den regelmässig vorzunehmenden Schülerbesichtigungen haben sie keine weiteren zeitrau­

benden Verpflichtungen. Nur selten nehmen sie an den Konferenzen der Lehrer teil.

In den deutschen Schulen scheint kein Bedürfnis für ambulatorische Behandlung vorzuliegen. Sehr selten nimmt auch bei uns der Arzt an Lehrerkonferenzen teil. Anordnungen in Fällen ansteckender Krankheiten werden oft gewünscht, ebenso Entscheidungen über Befreiung von Schülern vom Turnunterricht. Besichtigung der Schulräume und ihrer Einrichtung hat wenig Zweck. Fehlen uns doch die Geldmittel zur Durchführung der allernotwendigsten Verbesserungen.

Am meisten Zeit beansprucht die Schülerbesichtigung, deren Wert von vielen für recht zweifelhaft gehalten wird. Körperbau und Ernährungs-

ej ITartu Riikliku Ülikooli I 1

ek-tM v

I Raamatukogu

. I

(3)

zustand lauten die Fragen, deren Beantwortung oft recht schwierig ist.

Einwandfreie Ergebnisse gewinnen wir nur durch die Messungen. Eine Beurteilung jedoch der einzelnen Messungen ist sehr schwierig, weil keine Durchschnittszahlen für unsere Kinder vorliegen. Unsere Kinder sind näm­

lich nicht unwesentlich länger und schwerer, als es den Angaben von Feer oder Cemmerer entspricht. Mein Bestreben ist daher darauf gerichtet, zuverlässige Mittelwerte für unsere Kinder festzustellen. Ist das gelungen, so können nach Pirquet’s sehr zweckmässigem Verfahren auf dem Mas­

stab das entsprechende Alter und Gewicht eingetragen werden, so dass mo­

mentan bei der Messung beachtenswerte Abweichungen von dem Durch­

schnitt abgelesen werden können. Auf dem Merkblatt könnte eine Kurve vorgedruckt werden, auf welcher die gefundenen Werte auch graphisch so­

fort festgelegt werden können.

Nahe lag der Versuch, etwa nach F r i t s c h’s Kanon eine Zahl zu finden, welche die Beziehungen der Messungsergebnisse zu einander aus­

drückte. Fritsch multipliziert Länge mit Brustumfang, teilt diese Zahl durch das Gewicht und konstatiert bei Erwachsenen normale Verhältnisse, wenn die gewonnene Zahl um 240 beträgt. Diese recht ansprechende Me­

thode ist jedoch zu weitläufig im Gebrauch. Unbeschadet des angestrebten Endzweckes kann von der Verwertung des Brustumfanges abgesehen wer­

den. Vortragender zeigt eine Tafel, auf welcher der Quotient von Länge und Gewicht in den verschiedenen Lebensjahren der Schüler eingetragen ist.

Die Durchschnittswerte freilich sind an einem zu kleinen Material (168 Kna­

ben und 342 Mädchen) gewonnen; die Messungsergebnisse sind ausserdem nicht genau auf das Ende des betreffenden Lebensjahres berechnet worden.

Diese Zahlen haben also keinen Anspruch auf Genauigkeit. Beispielsweise beträgt diese Zahl bei siebenjährigen Mädchen 5,187; eine Abweichung des Gewichtes um 1 kg. gibt einen Ausschlag von 0,222; im siebzehnten Le­

bensjahre ist die Zahl 2,759 gefunden, der Ausschlag beträgt pro kg. 0,030.

Wir müssen also mit dreistelligen Zahlen operieren. Es ist klar, dass die Vorbedingung für die Anwendung dieser Methode die Beschaffung einer zuverlässigen Kurve des Gewichtes und der Länge der deutschen Kinder in Estland ist, welche auch in biologischer Hinsicht nicht nur für schulärzt­

liche Zwecke von Bedeutung wäre. ■

Vortragender kommt zu folgenden Vorschlägen. Die an den deutschen Schulen tätigen Ärzte sollten sich auf ein einheitliches Merkblatt einigen.

Unter anderem sollten auf diesem gewisse Veränderungen, die als Folgen der Rhachitis anzusehen sind, auf geführt sein; Bemerkungen über das sogen. Drüsenfieber, über Erscheinungen des Eintritts der Reife und dgl.

mehr. Die Schulärzte sollten sich verständigen über Fragen des Sportes, des Mädchenturnens, über die Berücksichtigung schwer fortkommender Kin­

der und viele andere Dinge. Ihre Mitarbeit an der Schule würde sicherlich an Bedeutung gewinnen. Der Schularzt soll durchaus nicht spezieller Be­

rufsarzt sein, sondern im Nebenamt an der Schule arbeiten. Er soll sich eingehend mit dem Seelenleben des Kindes, namentlich während der Zeit der Reifung, mit den Fragen der unbewussten Suggestion und Ähnlichem be­

fassen, damit er nicht bloss Berater in Sachen der körperlichen Gesundheit ist, sondern auch in psychologischer Richtung unsere Jugend zu beurteilen im Stande wäre.

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Dr. 0. ROTHBERG - Dorpat: Warum kommen Kinder in der Schule nicht vorwärts ?

(Korreferat.)

Das Weiterbestehen und die Wohlfahrt eines kleinen Volksstammes wie des unsrigen im Baltikum hängt unter Anderem davon ab, ob eine na­

tional gesinnte, tüchtige und leistungsfähige Nachkommenschaft vorhanden ist, die imstande ist den schwierigen Konkurrenzkampf mit Erfolg durch­

zuführen.

Ein Kriterium für die Leistungsfähigkeit der Nachkommen sind die Erfolge in der Schule. Die Erfahrung lehrt, dass eine gewisse Zahl von Kindern in der Schule versagt und die Gründe dafür 1) in der Schule, ihren Einrichtungen und Lehrzielen, 2) im Lehrer und 3) im Kinde selbst zu finden sind.

Die Schule darf nicht unnütz durch mangelhafte hygienische Ein­

richtungen die Kinder ermüden und ihre Aufmerksamkeit beeinträchtigen (störender Strassenlärm, Licht- und Luftmangel, überfüllte schlecht venti­

lierbare Schulzimmer). Es dürfen nicht zu grosse Anforderungen an das Kind gestellt werden durch Einführung immer neuer Unterrichtsgegen­

stände.

Der Lehrer muss nach Prof. Otto Stählin nicht nur sein Lehr­

fach beherrschen, sondern er muss eine Persönlichkeit mit Charakterstärke und völliger Hingabe und Liebe zu seinem schweren, verantwortungsvollen Beruf sein, der durch Liebe und Strenge die Jugend zu lehren, zu erziehen und zu zügeln weiss.

Im Kinde selbst liegen aber in den meisten Fällen die Gründe für das Nichtvorwärtskommen in der Schule und da kann auch der beste Lehrer keine Erfolge erzielen. Nach Uffenheimer kommen die meisten Kin­

der deshalb in der Schule nicht vorwärts, weil sie nicht ganz normal sind.

Nach der Nomenklatur der Neurologen unterscheidet man je nach dem Grade Idioten, Imbezille und Debile (schwachbefähigte). Die beiden ersten Grup­

pen kommen für die Schule meist nicht in Betracht, wohl aber die Debilen, die sich durch schwache Begabung, Mangel an Fleiss und Konzentrations­

fähigkeit der Aufmerksamkeit auszeichnen und daher in der Schule versa­

gen. Nitsch fand ein Versagen der Kinder in etwa 30% infolge äusserer Gründe, in c. 70% aus inneren Gründen, der Mediziner Harms findet 12,5% und 87,5%. Neben den debilen Kindern gibt es viele Neuro- und Psychopathen, Kinder mit moralischen und ethischen Defekten, körperlich kranke und endlich solche Kinder, die durch äussere ungünstige Verhältnisse, wie Übermüdung durch zu viel Sport, durch ungenügende Ernährung und Schlaf in ihrer Leistungsfähigkeit herabgesetzt sind. Auf alle diese Dinge haben die Eltern, Lehrer und Ärzte zu achten und Spreu von Weizen zu scheiden. Durch Ausschalten äusserer ungünstiger Umstände, in manchen Fällen durch geschicktes heilpädagogisches Anfassen, gelingt es bei vielen Kindern Erfolge zu erzielen und sie zu sozial brauchbaren Gliedern des Volksstammes zu erziehen.

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Dr. E. "WULFF - Reval: Über die Tuberkulose in Schulalter.

(Korreferat.)

Einleitend gibt Vortragender eine kurze Übersicht der Rank e'schen Untersuchungen von dem zyklischen Verlauf der menschlichen Tuberkulose.

Die Lehre Ranke’s ist, wenn auch noch nicht völlig abgeschlossen, als Ar­

beitshypothese die Basis aller weiteren Untersuchungen geworden. Den Tuber­

kuloseformen des Schulalters sich zuwendend, weist Vortragender auf die pathologisch-anatomischen Untersuchungen B u r k h a r d’s und die Unter­

suchungen mittels der P i r q u e t’schen Reaktion hin (Pirquet, Ham­

burger u. a.), die da besagen, dass die im Schulalter stehenden Kinder bis zu 70% eine tuberkulöse Infektion bereits durchgemacht haben. Von den neueren Arbeiten sei besonders eine von Kieffer erwähnenswert, der unter 2277 Kölner Schulkindern unter den 6jährigen Knaben 31,7% und unter den Mädchen des gleichen Alters 28,5% positive Tuberkulinreaktionen sah. Unter den 8-jährigen reagierten positiv 41,3% der Knaben und 48,7%

der Mädchen. Uns interessieren besonders die Zahlen, die Lüüs bei der Untersuchung von 840 Kindern aus den ärmeren Volksschichten Estlands fand. Sie sind für das Schulalter folgende: 5—10 J. — 67,3%, 10—15 J. — 82,6%, im Allgemeinen also bedeutend höher, als die Kölner Zahlen.

Der Lehre R a n k e’s entsprechend, müsse man im Schulalter vornehm­

lich Krankheitsformen des I-ten und II-ten Stadiums erwarten. Diese Vor­

aussetzungen hat uns Kieffer bestätigt, der in den von ihm bearbeiteten ersten 3 Schuljahren (6.—9. Lebensjahr) durch klinische und röntgenologi­

sche Reihenuntersuchungen nur Tuberkuloseformen des Rank e’schen pri­

mären und sekundären Stadiums feststellen konnte, während tertiäre Organ­

phthise nicht beobachtet wurde. Von den einzelnen Krankheitsformen des primären Stadiums wäre zu nennen: harte Primärkomplexe unter den 6-jährigen in 12,1% der tuberkulinpositiven Kinder, bei den 8-jährigen in 13,9%, akute Primärherde bei Schulneulingen 8 Mal, bei 8-jähr. 1 Mal, tu- morige Bronchialdrüsentuberkulose 7 Mal, nicht tumorige 12 Mal. Die für das Sekundärstadium besonders charakteristischen perifokalen Entzündun­

gen oder Infiltrierungen fanden sich bei den 6-jähr, in 6,7%, bei den 8-jähr.

in 7,8%.

Die Durchsicht von 141 Röntgenbefunden von Schulkindern aller Alters­

klassen der Stadt Reval, die Vortragender bei seinen regelmässigen Reihen­

untersuchungen verdächtig auf Tuberkulose erschienen, ergab in 66,6 % einen normalen, in 33,3 % einen positiven Befund. Unter den positiven Befunden wäre zu nennen: nicht tumorige Bronchialdrüsentuberkulose 17%, tumorige Bronchialdrüsentuberkulose 3,5%, harter Primärkomplex 5%, frischer Pri­

märherd 1,4%, sekundäre Lungentuberkulose (Infiltrierungen und hämatog.

Aussaat) 2,2 %, tertiäre Lungenphthise 4,2 %.

Eine besondere Stellung nehme die offene Tuberkulose des Schulalters ein, da sie eine grosse Gefahr für die Mitschüler bedinge. Von grosser Be­

deutung sei die Feststellung, dass die offene Lungentuberkulose im Schul­

alter unter den mannigfachen Formen der Tuberkulose eine zahlenmässig untergeordnete Rolle spiele. Blümel schätzte die Zahl der Todesfälle an Lungentuberkulose im schulpflichtigen Alter 1925 auf 2000, was einer Zahl von 1 : 30.000 Einwohnern entspräche. Vortragender ist diesen Dingen für

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die Stadt Reval nachgegangen und zu sehr ähnlichen Zahlen (1 Todesfall auf 35.000 Einwohner) gelangt. Sei somit die Zahl der an offener Tuber­

kulose im Schulalter erkrankten Kinder eine auffallend geringe, so müsse andererseits auf die ausserordentlich schlechte Prognose dieser Erkrankun­

gen hingewiesen werden. Die Zahl der Todesfälle schwanke bei den einzel­

nen Autoren zwischen 58—95%, die Zahl der Spontanheilungen dürfte nicht über 10 % gehen.

Nachdem Vortragender die Frage der Prophylaxe und Therapie der TBC. im Schulalter berührt, wobei er besonders auf die Gefahr offentuber­

kulöser Lehrkräfte aufmerksam gemacht, fasst er zum Schluss seine Aus­

führungen in folgende Sätze zusammen:

1) Die im Schulalter zur Beobachtung kommenden Tuberkuloseformen gehören bis zum 16. Lebensjahr vorwiegend dem I-ten und II-ten Stadium nach Ranke an; nach dem 16. Jahr prävaliert das III-te Stadium, die chronische Organphthise.

2) Die Zahl der offenen Lungentuberkulosen ist im Schulalter bis zum 16. Jahr eine sehr geringe. Diese Fälle zeigen jedoch zum allergrössten Teil einen äusserst ungünstigen Verlauf.

3) Zur genaueren Diagnosenstellung ist in zweifelhaften Fällen eine Röntgenuntersuchung dringend erforderlich, die infolge dessen allen Schulen zugänglich gemacht werden sollte.

4) Prophylaktisch und therapeutisch hat die Expositions- und Dis­

positionsprophylaxe für die geschlossenen Fälle die grösste Bedeutung. Die offenen Fälle sind vom Schulunterricht auszuschliessen und der Kollaps­

behandlung zuzuführen.

5) Von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung ist die Ermittelung offentuberkulöser Lehrkräfte, deren Pensionierung durch das in Ausarbei­

tung befindliche Tbc-Gesetz angestrebt werden muss.

6) Durch die Fürsorgestellen soll die Expositionsprophylaxe im Hause der Kinder möglichst durchgeführt werden, wobei ein engerer Kontakt mit dem Schularzt, als bisher üblich, hergestellt werden sollte.

Prof. Dr. E. BLESSIG - Dorpat: Schule und Myopie.

(Korreferat.)

Die Frage nach der Entstehung der Kurzsichtigkeit im Zusammenhang mit der Schule ist neuerdings wieder viel umstritten, trotz einer schier un­

übersehbaren Literatur noch keineswegs geklärt.

Seitdem, nach C o h n’s Vorgang, seit den 60-ger Jahren und bis heute in allen Kulturländern Massenuntersuchungen der Refraktionsverhältnisse an Millionen von Schulkindern ausgeführt werden, bestehen die sogen.

„Gesetze” C o h n’s zu Recht: 1) dass die Zahl der Kurzsichtigen von Klasse zu Klasse aufwärts zunimmt, 2) dass ebenso auch der durchschnittliche Grad der Myopie steigt, 3) dass dasselbe von der niederen Schule zur höhe­

ren auf steigend statt hat, das Maximum in den Oberklassen der Mittel­

schulen, Gymnasien und Oberrealschulen erreicht wird. Diese Feststellun­

gen führten zunächst zu heftigen Angriffen gegen das herrschende Schul­

system, insbesondere gegen das klassische, wobei ungerechterweise alle Schuld auf die Schule gewälzt wurde, wo doch die Arbeitsbedingungen der

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Schulkinder zu Hause mitschuldig sein mochten. Praktisch wurde in weit­

gehendem Masse die optische Hygiene in den Schulen berücksichtigt, was zur Errichtung hygienisch einwandfreier Schulgebäude, sogen. „Schulpa­

läste” führte. Die späterhin in solchen modernen Schulen hie und da aus­

geführten Untersuchungen haben aber bisher noch kein genügend grosses vergleichbares Material geschafft. Die Frage, welches denn eigentlich die schädlichen Faktoren der fortgesetzten Naharbeit im Schulalter sein moch­

ten, suchte man durch verschiedene Theorien zu beantworten, von denen Vortragender einige erwähnt und ablehnt. So z. B. die Akkomodationstheorie, die Konvergenztheorie, die Augenhöhlentheorie (St iiling), die Sehner­

venzerrungstheorie (W e i s s) u. a. Nicht ohne Grund wurde von allen die Uberbürdung und Ermüdung der Schulkinder angeschuldigt (Kaiser Wil­

helms II. Rede, in der von ihm 1890 einberufenen Schulreform-Kommission!).

Andererseits wusste man schon lange, dass die Kurzsichtigkeit, und gerade die progressive für das Auge oft verhängnisvolle, als erbliches fa­

miliäres Leiden und keineswegs nur bei solchen auftritt, die ihre Augen in Schule oder Beruf durch übermässige Naharbeit belastet hätten. Worin aber diese hereditäre Belastung eigentlich besteht, ist bis heute dunkel.

Man nimmt gemeinhin eine verminderte Widerstandsfähigkeit, eine grössere Dehnbarkeit der Sklera, besonders am hinteren Augenpol an.

Klinisch müssen wir immerhin zwei Formen von Myopie anerkennen:

einerseits die sich in mässigen Grenzen haltende, zu keinerlei Veränderun­

gen am Augenhintergrunde führende, mithin gutartige sogen. „Arbeits- m y o p i e”, und andererseits die vorwiegend erblich bedingte, unbegrenzt fortschreitende, das Sehvermögen durch schwere intraokulare Veränderun­

gen gefährdende, oft genug durch Netzhautablösung und dergl. m. zur Er­

blindung führende Myopie. Erstere Form wird von manchen geradezu als eine „Anpassung” an die Naharbeit angesehen, was aber aus manchen hier nicht näher zu erörternden Erwägungen nicht haltbar ist. Dagegen müssen wir die zweite progressive Form als einen ausgesprochenen krank­

haften Vorgang ansehen.

In ein neues Licht wurde nicht nur die Myopiegenese, sondern die ge­

samte Refraktionenlehre durch S t e i g e r’s 1913 erschienenes umfassendes Werk gerückt: „Die Entstehung der sphärischen Refraktionen”. Danach wären die verschiedenen Refraktionszustände keine biologischen Einheiten, sondern nur Resultate von Variation und Vererbung. Von der Hyperopie des Neugeborenen steigt die Refraktion im Laufe des Wachstumsalters zur Emmetropie oder über diese hinaus zur Myopie fort. Die Emmetropie ist nicht etwa die Norm, sondern nur ein Sonderfall der günstigsten Korre­

lation zwischen Brechkraft und Achsenlänge des Auges. Die mechanischen Faktoren der Naharbeit hätten auf diesen Entwickelungsgang keinen Ein­

fluss. Die Kinder würden kurzsichtig während des Schulalters, aber nicht infolge der Schule! Man kann diesen anregenden und fruchtbrin­

genden Gedankengängen folgen, soweit sie sich nicht auf die notorisch krankhaften Formen der progressiven Myopie erstrecken. Dass letztere nicht nur vom entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt zu beurteilen sind, scheint auch aus den neuesten variations-statistischen Untersuchungen her­

vorzugehen.

Neuerding sind zur Erklärung der Myopiegenese auch konstitutionelle

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Momente (Kuschel: „Erschlaffung der Konstitution”), sowie die Kretschme r’schen Typen des Körperbaues und der psychischen Anlage (I n c z e) herangezogen worden.

Daneben werden auch neuerdings wieder Versuche gemacht mechanisch schädigende Momente anhaltender Naharbeit heranzuziehen. Wie wenig ge­

klärt auch heute noch die Myopiegenese ist, geht recht deutlich aus dem noch im vorigen Jahre 1928 sowohl in der Deutschen Ophth. Gesellschaft zu Heidelberg, als auch in der Ophth. Sektion der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Hamburg hervor.

Mir scheint die Alternative falsch: „Erblichkeit oder Naharbeit”, ebenso die Parole: „Hie Cohn — hie Steiger”! Offenbar sind die Ur­

sachen viel verwickelter, indem oft genug erbliche und mechanische Mo­

mente in der Myopiegenese Zusammenwirken. Wo beide Momente Zusam­

mentreffen, da wird die Myopie am ehesten hohe und höchste Grade erreichen.

• Wie haben wir uns bei solcher theoretischer Sachlage zur prakti­

schen Frage der Verhütung der Myopie in der Schule zu stellen? Ich meine, wir sollen uns hüten unser praktisches Handeln zu sehr von jeweili­

gen theoretischen Anschauungen bestimmen zu lassen. Wir werden in Bezug auf die Wirkung unserer schulhygienischen Massnahmen nicht zu viel er­

warten, uns nicht einbilden dadurch die Myopie aus dem Schulleben auszu­

merzen, werden aber doch nach wie vor bestrebt sein, die neben und äusser den erblichen Einflüssen wirkenden Schädlichkeiten aus dem Schulbetriebe auszuschalten. Um so bewusster werden wir es tun, als wir wissen ein wie grosser Teil der Schulkinder ohnehin schon hereditär myopisch belastet ist.

Gerade so wie wir auch tuberkulös oder neuropathisch oder sonstwie be­

lastete Kinder unter besonders günstige hygienische Verhältnisse zu ver­

setzen Veranlassung haben. Wir halten dabei an der Anschauung fest, dass die Myopie ein Übel ist, auch die sogen. „Arbeitsmyopie”. Also bleibt es nach wie vor unsere Aufgabe unserer heranwachsenden Jugend in den Schulen möglichst günstige Arbeitsbedingungen zu schaffen, und dabei soll das Beste uns für diese Jugend gerade gut genug sein! Es ist dabei ja auch nicht zu vergessen, dass alle die schulhygienischen Massnahmen nicht nur den Augen, sondern zugleich auch der allgemeinen Hygienie des Schul­

alters zugute kommen (Skoliose u. dergl. m.).

Für die Zukunft eröffnen sich vielleicht noch neue Wege zur Be­

kämpfung der Myopie: Rassenhygienie und Eugenik, aber diese Wege sind noch weit und gehören diese Dinge eben auch nicht zum Thema meines Referates.

(Die hier benutzte Literatur kann aus Raummangel nicht angeführt werden.)

Prof. Dr. E. FBHRMANN - Riga : Der Hygiene-Unterricht in den Mittel­

schulen Lettlands.

(Korreferat.)

Vortragender teilt mit, dass im Jahre 1928 in Lettland eine Reform des gesamten Unterrichts • in den Mittelschulen beraten wurde und, ange­

fangen vom Lehrjahre 1928/29, stufenweise, mit den unteren Klassen be­

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ginnend, durchgeführt wird. Es ist dabei auch der obligatorische Unter­

richt in der Hygiene eingeführt, für welchen Vortragender im Bestände einer Kommission das Programm ausgearbeitet hat.

Das Programm besteht, wie üblich aus 3 Teilen, der allgemeinen Hy­

giene, der Personalhygiene und der Kollektivhygiene (von letzterer nur das Kapitel der Epidemiologie und Prophylaxe der Infektionskrankheiten).

Es wird darauf hinegwiesen, dass die sexuelle Aufklärung nicht obli­

gatorisch zum Programm gehört und nur von dazu sich geeignet fühlenden Personen ausgeführt werden sollte, vornehmlich von Ärzten und Ärztinnen,, die in einem guten Vertrauensverhältnis mit den Zöglingen der Schule stehen.

Für die Mädchen ist ein kurzer Spezialkursus der Hygiene der Frau und der Pflege und Aufzucht des Säuglings, wenn möglich mit praktischer Anweisung in diesen Dingen, vorgesehen.

Schwierigkeiten bereitet die Frage des Lehrpersonals. Der Unterricht wird im Zusammenhang mit dem Unterricht in der Biologie und den Natur­

wissenschaften durchgeführt. Die Lehrer sind vielfach selbst noch in hygienischen Fragen zu unbewandert. Diesem Mangel wird durch Ab­

haltung von Sommerkursen für Lehrer und Lehrerinnen allmählich ab­

geholfen.

Vortragender hält den Hygieneunterricht in den Schulen für das wichtigste Mittel der hygienischen Volksaufklärung, die ihrerseits stark auf Morbidität und Mortalität wirkt.

Dr. A. SPINDLER - Reval: Zur Koedukationsfrage.

(Korreferat.)

Vortragender bringt einige Daten aus der Statistik der Geschlechts­

krankheiten in Estland, von denen er glaubt, dass sie die u. a. durch die Koedukation geförderte Angleichung der Geschlechter mit einander be­

leuchten.

Vor dem Kriege erfolgten die Ansteckungen der Männer in etwa 80 % der Fälle durch Prostituierte, 20% durch Freundinnen und Ehefrauen bezw.

es fehlen die Angaben. Ad hoc gemachte flüchtige Bekanntschaften kamen fast nie vor. 1923 sind die Zahlen 20,4%, 52%, ad hoc gemachte Bekannt­

schaften 13,4%, beim Rest fehlen die Angaben. 1928 sind die Zahlen nur 10%, 35% und 39,4%. Mit der letzten Zahl tritt das sozial selbständige Mädchen, das sich sexuell auslebt, die „gargonne” in Erscheinung.

Eine Illustration zur Vermännlichung der modernen Frau, vielleicht auch einer angedeuteten Verweiblichung des Mannes bieten Kurven der pro­

zentualen Beteiligung der Lebensalter an der Ansteckung mit Geschlechts­

krankheiten.

Blaschko u. a. haben vor dem Kriege für beide Geschlechter ge­

trennt Kurven zusammengestellt, welche die Beteiligung der einzelnen Le­

bensalter an den Erkrankungen mit Geschlechtskrankheiten zeigen. Für die weibliche Kurve war charakteristisch ein steiler hoher Anstieg schon vor dem 20. Lebensjahr, ein steiler Abfall in der Zeit vom 20.—29. Lebensjahr und ein Aufhören der Erkrankungen nach dem 50. Jahr. Bei den Männern war der Anstieg der Kurve weniger steil, der Gipfelpunkt niedriger und erst nach dem 20. Lebensjahr, der Abfall allmählicher und es kommen noch

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bis zum späten Alter Erkrankungen vor. Diese Kurven waren, wie Vor­

tragender nachgeprüft hat, vor dem Kriege auch für Estland ähnliche. Wenn er nun nach der offiziellen Statistik für Estland fürs Jahr 1923 solche Kurven zusammenstellt, so bekommt er noch — wenn auch nicht sehr ausgesprochen — die für die weibliche resp. männliche Kurve charakteristischen Zeichen. Je spätere Jahre er aber nimmt, umsomehr verschieben sich sowohl bei den Frauen, wie bei den Männern die prozentuellen Beteiligungszahlen der Le­

bensalter so, dass die weibliche Kurve der früheren männlichen und die männliche der früheren weiblichen immer ähnlicher wird.

Die Gargonne, die naturgemäss nicht mehr ganz jung ist, nimmt einen relativ immer grösseren Platz ein unter den Ansteckungsquellen, also beim ausserehelichen Geschlechtsverkehr überhaupt. Der gut situierte Jung- gesell, der sich mit Prostituierten befriedigt, schwindet nicht, aber prozen­

tual wird er verdrängt durch den Jüngling, der sich mit der Gargonne

„amüsiert”. (Die statistischen Daten, auf die sich Vortragender stützt, erscheinen demnächst ausführlich in „Eesti Demographia”.)

Diskussion über das allgemeine Schulthema : Prof. Bürgers - Königsberg: Das Bestreben, die Schulhygiene durch hauptamtliche Schulärzte zu fördern, zeigt sich bei allen Kulturvölkern in steigendem Masse. Die Ärzteschaft muss sich allgemein in den Dienst der Prophylaxe stellen, jedoch soll jede Fürsorgetätigkeit nicht in das Gebiet der Therapie übergreifen. Schülermessungen sollen nach antropologischen Methoden durchgeführt, das Material entsprechend den Gesetzen der Sta­

tistik bearbeitet werden. Dabei sind alle Indizes für ein Urteil über die Konstitution wertlos. Vergleiche mit Normalkurven müssen die örtlichen Verhältnisse und die Veränderung durch Umwelt berücksichtigen. Die Epi­

demiologie der Geschlechtskrankheiten muss in der Statistik grössere Zeit­

räume beachten. An der mangelhaften Konzentrationsfähigkeit der Schüler trägt das moderne Tempoleben viel Schuld. Bedenklich ist der Zustrom geistigen Proletariats zu den höheren Schulen.

Dir. Pantenius - Dorpat. Unsere Kultur hat eine Höhe erreicht, von der ihr ein Abstürzen in die Tiefen der Barbarei droht. Eine falsch geleitete Pädagogik kann dazu viel beitragen. Infolge der veränderten so­

zialen Stellung der Frau ist namentlich bei der heutigen Mädchenerziehung die sexuelle Frage von sehr grosser Bedeutung. Dieses Problem aber kann nur dann gelöst werden, wenn sich die Vertreter der Medizin, Sozio­

logie und Pädagogik zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden. Daher ist es sehr dankenswert, dass der Ärztetag uns Pädagogen zu einem Meinungs­

austausch Gelegenheit bietet.

Diskussion zum Referat von Dr. J. Meyer- Dorpat.

Dr. E. Wulff-Reval bemerkt zur Frage der Behandlung der Schul­

kinder durch den Schularzt, dass eine Dauerbehandlung in den kommunalen Schulen Revals nicht durchgeführt werde. In den Schulambulatorien finde wohl eine gelegentliche medizinische Beratung des Schülers statt, eine längere Behandlung werde jedoch in der Regel abgelehnt. Bezüglich der regelmässigen Messungen bemerkt Redner, dass ihm die Differenzen bei den jährlichen Untersuchungen durchaus von Wert gewesen seien, ferner

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könne durch die jährliche Bestimmung der Medianzahlen der Länge, des Brustumfanges und des Gewichts, für jede Altersklasse getrennt, dank der grossen Zahlenreihe ein gewisser Typus für jeden Volksstamm oder Volks­

splitter ermittelt werden. Von einer grossen Bedeutung erscheinen Redner die jährlichen Reihenuntersuchungen deshalb, weil durch sie der Schularzt, ähnlich wie früher der Hausarzt, in die Lage versetzt werde relativ häufig den Gesundheitszustand seiner Schüler zu kontrollieren. Redner betont zum Schluss, dass er sich immer der tätigen Mithilfe der Lehrerschaft zu er­

freuen gehabt habe, ohne welche er sich eine erspriessliche Tätigkeit als Schularzt nicht denken könne.

Dr. E. Girgensohn - Reval. Die sehr interessanten Zahlen Dr.

Meyer’s, die das Verhältnis der Körperlänge zu Gewicht ausdrücken, be­

deuten den Entquellungszustand der Organismen, der von der Geburt bis zum Tode beständig zunimmt. Dass die reichsdeutschen Kinder stärker entquellt sind als die baltischen, resp. dass der Wassergehalt der baltischen Kinder grösser ist, kann von verschiedenen Umständen abhängen, jedenfalls aber wird der Wassergehalt vom Elektrolytsystem des Körpers reguliert.

Er kann in Abhängigkeit sein von der annerkanntermassen kochsalzreichen Ernährungsweise in den Baltischen Staaten im Verhältnis zu Deutschland.

Für die Konstitutionserfassung dürfte eine einzelne Messung kaum viel wert sein, durch längere Zeit durchgeführte Messungen könnten, wenn sie dem Schulärzte, resp. dem behandelnden Arzte bekannt sind, Hinweise ge­

ben, die vielleicht doch nicht ohne Wert sind, da sie Abweichungen von der Norm anzeigen könnten.

Dir. H. Pantenius - Dorpat. Der Schularzt müsste pekuniär so gestellt werden, dass er seine ganze Arbeitskraft der Schule widmen kann..

Beschränkt sich seine Tätigkeit, wie das jetzt vielfach geschieht, haupt­

sächlich auf medizinische Untersuchungen und das Einsammeln von sta­

tistischen Daten, so haben die Schüler keinen unmittelbaren Nutzen davon, was sehr bedauerlich ist. Bis es dazu kommt, dass ein Arzt sich ganz der Schule widmen kann, sollte man, was billiger wäre, an jeder grossen Schule und für mehrere kleine Schulen gemeinsam eine entsprechend ausgebildete Kranken- und Armenschwester anstellen, die dort helfend und ratend ein­

zugreifen hätte, wo Krankheit und Elend die Entwickelung eines Kindes bedrohen. Natürlich müsste eine solche Persönlichkeit unter der Anleitung und Aufsicht des Arztes und des Direktors arbeiten.

Dr. Dahl- Pernau weist darauf hin, dass es seiner Erfahrung nach zu keinen Spannungen zwischen Schularzt und Schule gekommen ist. Das Schwergewicht der schulärztlichen Besichtigungen sieht er nicht in den Messungen, sondern in Überwachung von Lunge und Herz und der Sinnes­

organe. Den Erfolg der schulärztlichen Tätigkeit sieht er in Beratung so­

wohl der Schüler und deren Eltern, als in der Beratung der Lehrer bei pädagogischen Massregeln.

Dr. E. Thomson- Reval: Die Frage, ob der Schularzt Lehrer und Mitglied der Schulkonferenz sein soll, ist von Bedeutung. Auf einem Ärzte­

tag haben sich die anwesenden Pädagogen gegen den Arzt als Konferenz­

mitglied ausgesprochen. Aus einem Vortrag des Inspektors der Reformierten Schulen in St. Petersburg Emil Thomson 1906 entnehme ich anderer­

seits: „Der Lehrerstand will den Schularzt, aber er muss pädagogisch ge-

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bildet sein. Darum schon, dass er es werde, sei er Glied der Konferenz.”

„Gerade dass er nicht Lehrer, macht den Arzt geeigneter zu seinem intimen Verkehr mit der Jugend und wertvoller für die Lehrerkonferenz.” „In drei­

facher Weise wird sich also sein Wert in der Konferenz erweisen: Als An­

walt der Kinder vor dem Lehrerkollegium. Als Anwalt der Konferenz vor den Eltern. Als Vermittler zwischen den Ständen der Lehrer und Ärzte.”

Die hier an den Schularzt gestellten Anforderungen sind ideal, könnten aber nur von einem Schularzt ohne Nebenamt geleistet werden — und dafür fehlen uns die Mittel.

Schulrat M u s s o - Reval bemerkt, dass aus der bisherigen Diskussion hervorzugehen scheine, dass die gegenwärtige Stellung der Schulärzte allge­

mein als unbefriedigend anzusehen ist. Um dieser Erkenntnis auch prakti­

sche Folgen zu geben, sei es erwünscht, dass der Ärztetag eine entsprechende Resolution annehme, um die Öffentlichkeit, auf diese Tatsache aufmerksam zu machen, vielleicht auch eine Eingabe an die Deutsche Kulturverwaltung richte. Dem Idealzustand, den Dr. Thomson gezeigt habe, könnten wir viel­

leicht doch näher kommen, wenn z. B. für alle Revaler deutschen Schulen gemeinsam ein hauptamtlicher Schularzt angestellt werden würde, der den Schulen mehr Zeit widmen könnte, als alle Schulärzte zusammen, die ihr Amt heute als schwachbesoldetes Nebenamt führen müssten.

Dr. V. Schröppe - Reval beanstandet auf Dr. Meyer’s Schulgesund­

heitsbogen die Frage: „Vererbung”, die sich weder bei der Besichtigung der Kinder, noch genügend bei der Befragung der Eltern beantworten lässt; sie müsste ersetzt werden durch die Frage: liegen Krankheitsanlagen oder Dispositionen in der Familie vor. Dr. Rotberg wandte das lateinische, heute so unsäglich misbrauchte Wort: Mens sana etc. in seinem Vortrag an, zum Glück mit einer kleinen Einschränkung. Opponent schlägt vor, diesen Satz ganz aus dem medizinischen Wortschatz auszumerzen, der nur Unheil anrichtet. Juvenal hat nie das behauptet, was jetzt aus dem Satz gemacht wird, sondern nur auf gerufen: Oran dum ist, ut sit mens sana etc. Was allein dem Satz auch Berechtigung gibt. Nur eine ein- oder zweimalige Besichtigung der Schüler durch den Schularzt im Lauf des Jahres hält Opponent für ungenügend, es ist zum gegenseitigen Kennenlernen dringend er­

forderlich eine Ambulanzstunde 1 oder 2 X wöchentlich abzuhalten, aber ohne Behandlung. Die Wahl des Arztes zur Behandlung der Kinder kann den El­

tern überlassen bleiben. In solch einem Verhältnis des Arztes zur Schule fällt die Schulschwester, wie Dir. Pantenius sie fordert, weg, sie ist nicht nur überflüssig, sie könnte sogar schaden, da sie schnell zur Kurpfuscherin werden würde. Es ist aber darum wünschenswert nicht einen neuen Spe­

zialisten „Schularzt” zu kreieren, sondern gerade den praktischen Arzt mehr heranzuziehen. Im ärztlichen Nachwuchs werden sicher auch pädagogisch begabte Ärzte sich finden, die auch den hygienischen Unterricht übernehmen könnten, was dem Gefühl des Opponenten nach den Unterricht im Gegen­

satz zu dem des Lehrers lebendiger, dem Leben näher gestalten würde. Voll­

kommene Kentnisse in der Anatomie und Physiologie beibringen, soll nicht das Ziel sein, aber Klarheit über die Grundbegriffe. Der Lehrer aber soll selbst ebenfalls richtige hygienische Vorstellungen haben.

Schlusswort. Dr. Meyer- Dorpat: Mein „Gesundheitsbericht”

ist von mir nach dem amtlich vorgeschriebenen Sanitätsblatt zusammenge­

2*

(13)

stellt. Von mir ist nichts hinzugefügt worden. In meinem Referat habe ich micht nicht für die ambulatorische Behandlung der Kinder in dem vom Staate vorgesehenen Ausmass ausgesprochen. Die Beurteilung der Konsti­

tution der einzelnen Schüler halte auch ich für das zu erstrebende Ziel. Das ist aber ausserordentlich schwer durchzuführen. Durch Messungen ist da freilich nichts zu erreichen. Ich habe im Referat die Bedeutung von Messun­

gen, die einige Jahre hindurch vorgenommen wurden, für die Beurteilung des einzelnen Schülers selbst betont. Das Pirquet’sche Messband, an der Messstange angebracht, halte ich für äusserst zweckmässig, — jedoch nur, wenn nach Gewichts- und Längebestimmung womöglich aller deutschen Kin­

der des Landes die Durchschnittszahlen berechnet worden sind. Die Medi­

anzahlen müssen Jahr für Jahr festgestellt werden, und sind nicht so zu­

verlässig wie Durchschnittszahlen, die aus möglichst grossen Zahlen ge­

wonnen sind. Ein Blick auf die Messstange genügt zur Beurteilung des Falles; stärkere Abweichungen vom Durchschnitt machen es notwendig dem betreffenden Schüler grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden. — Eine wirk­

liche Unterernährung halte ich bei uns für selten.

Schulärzte sollten nicht Spezialärzte werden. Der erfahrene Arzt soll im Nebenamt Schularzt sein. Hinzuziehung von Spezialisten ist unerlässlich.

Meine Äusserung über die „Gegnerschaft” zwischen Lehrer und Arzt sind aus prinzipieller Überlegung, nicht persönlich gemeint. Zwischen Schul­

leitung und Lehrerschaft und mir als Schularzt bestehen die allerbesten Be­

ziehungen. Der Arzt steht dem staatlich vorgeschriebenen Programm, welches die Kinder in unnatürlicher, daher ungesunder Weise belastet, ab­

lehnend gegenüber; der Lehrer muss das Programm in seinem Fach mög­

lichst vollkommen unter Anstrengung der Kinder durchzuführen bestrebt sein. Hierin sehe ich eine unüberbrückbare grundsätzliche Spannung zwi­

schen Lehrer und Arzt.

Diskussion über den Vortrag von Dr. Rotberg - Dorpat.

Dr. v. Ze d d e 1 m a n n - Dorpat: Bei der Frage des Nichtvorwärts- kommens der Kinder in der Schule dürfen 2 Monate nicht äusser acht ge­

lassen werden: 1) Die Behinderung der Nasenatmung und ihre Folgen, 2) die Schädigung des Gehörs der Kinder.

Ad I. Scheidewandverbie^ungen, Nasenpolypen, Hypertrophie der Muscheln einerseits, adenoide Vegetationen andererseits (Rachenmandel, hintere Rachenwand), die die Nasenatmung behindern, rufen nicht nur event.

eine Entwickelungsstörung, wie Spitzbogenform und Enge des harten Gau­

mens hervor, sondern beeinflussen ungünstig die geistige Entwicklung — Man­

gel an Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, leichte Ermüdbar­

keit; häufige Kopfschmerzen. Infolge Störung des Schlafes — unruhiger Schlaf, häufiges Träumen u. s. w. — nimmt die Ermüdung zu.

Ad II. Haupteingangspforte für das in der Schule gebotene ist das Gehör. Schädigung desselben hat oft ein starkes Zurückbleiben in der geistigen Entwicklung zur Folge und macht es den Kindern unmöglich, dem Unterricht zu folgen. Eine Gehörsprüfung der Schulkinder ist absolut er­

forderlich. Da eine solche den Schularzt zu sehr belasten würde, müssten die Lehrer selbst die Prüfung vornehmen, wie es an einigen Orten Deutsch­

lands bereits geübt wird. Bei etwa 25 % der Kinder ist das Hörvermögen

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herabgesetzt. Als normal ist ein Hörweite für Flüstersprache, die nach ruhiger Ausatmung mit dem in den Lungen verbleibenden Rest der Luft ausgeführt wird, auf 20—25 m. zu bezeichnen. Kinder, deren Hörweite noch etwa 4 m. für Flüstersprache erreicht, können noch gut folgen, während eine Herabsetzung bis auf %—4 m. schon schwere Störungen hervorruft, unter Va m. ist ein Folgen in den Stunden ausgeschlossen. Die Prüfung durch die Lehrer hat sich im allgemeinen sehr gut bewährt, zu groben Fehlern kommt es dabei kaum. Alle Schwerhörigen müssen selbstverständ­

lich zwecks genauer Untersuchung dem Facharzt überwiesen werden.

Prof. B 1 e s s i g - Dorpat weist auf die Bedeutung richtiger Kor­

rektion etwa vorliegender Brechungsfehler der Augen hin, besonders des Astigmatismus. Kinder, die bis dahin schwer gelernt hatten und für faul und unbegabt galten, machen danach überraschende Fortschritte. So kann eine richtige Brille von grossem Segen für die ganze weitere Ent­

wicklung des Kindes werden.

Schlusswort. Dr. 0. Rotberg - Dorpat: Die Bemerkungen von Herrn Kollegen Zeddelmann sind gewiss berechtigt und beachtenswert, sofern es sich um geistig normale Kinder handelt. Bei geistig minderwerti­

gen hilft die Operation leider nicht viel. Jedenfalls müssen aber deutliche Krankheitssymptome beseitigt werden.

Diskussion über den Vortrag von Prof. Fehrmann - Riga.

Dr. Meyer- Dorpat: Ich kann die Stellungnahme der letti. Kom­

mission zum Hygieneunterricht nur voll und ganz anerkennen. In 4 Schul­

jahren lässt sich viel erreichen. In einem Schuljahre, wie es bei uns der Fall ist, kann der umfangreiche Stoff nicht bewältigt werden. Ohne gründ­

liche Einführung in die Anatomie und Physiologie kann ein wirkliches Ver­

ständnis für hygienische Fragen nicht erzielt werden. Der Unterricht soll in den Händen von Ärzten liegen.

Diskussion über das Korreferat von Dr. Spindler - Reval.

Prof. E. Masing- Dorpat: Die vom Vortragenden vorgeführten Kurven (Vergleich der geschlechtlich infizierten Männer und Frauen nach Altersklassen geordnet) kommen dadurch zustande, dass die Zahl der in jeder Altersklasse erkrankten Individuen auf die Gesamtzahl der Er­

krankten bezogen und als Ordinate auf getragen wird; es handelt sich also bloss um relative Werte, die natürlich nicht erkennen lassen, ob die absoluten Zahlen in jeder Altersgruppe zu- oder abgenommen haben.

Will man aber Schlüsse ziehen, wie der Vortragende, dass die Frau der Gargonne sich nähere und der Mann zum „puellus” werde, so wird doch wohl die Berücksichtigung der absoluten Zahlen in jeder Altersklasse not­

wendig sein (Vergleich der Zahl der Erkrankten mit der Gesamtzahl der Bevölkerung in der entsprechenden Altersklasse).

Dir Pantenius - Dorpat: Die statistischen Daten des Herrn Dr.

A. Spindler haben zum mindestens einen grossen heuristischen Wert. Mir persönlich bestätigen sie die Richtigkeit einer Ansicht, zu der ich auf ganz anderem Wege gelangt bin. Seit dem Weltkriege hat eine Entfrauung der Frau besonders stark eingesetzt. Denn die Gargonne oder die Junggesellin ist keine Frau mehr. Als alter Pädagoge kann ich nur sagen: die Schule

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tut viel zu wenig, um dieser Gefahr vorzubeugen. In den heutigen Mädchen­

schulen bleibt die seelische Eigenart der Frau unbeachtet. Dort werden ge­

nau dieselben Lehrfächer nach genau denselben Lehrmethoden vorgetragen, wie in den Knabenschulen. Das Verständnis für diesen pädagogischen Feh­

ler ist leider noch nicht erwacht.

Dr. Pfaff- Dorpat macht auf Fehlerquellen in der Statistik auf­

merksam. Es werden die Namen auf den Registrierkarten nicht genannt, daher ist es möglich dass Doubletten vorkommen; ausserdem werden viele nicht behandelt und auch nicht registriert. Der grosse Prozentsatz der er­

krankten deutschen Männer (5%) im Vergleich zum Prozentsatz der anderen Nationen erklärt sich vielleicht auch dadurch, dass die Deutschen sich alle behandeln lassen, also registriert werden, wogegen die anderen sich oft nicht behandeln lassen und unregistriert bleiben.

Dr. GIRGBNSOHN - Reval: Über Krankenbehandlung durch Um­

stimmung.

(Referat.)

Im Anschluss an das unter diesem Titel erschienene Buch von Prof.

Königer - Erlangen berichtet der Vortragende über moderne Wandlun­

gen in der Auffassung der Krankheiten und der Krankenbehandlung.

Ausgehend von den nach Proteininjektionen im Organismus eintreten­

den physikalisch-chemischen Zustandsänderungen und ihrer Folgen, der Herd- und Allgemeinreaktionen, ist eingehendere Forschung dazu gekommen, auch nach sehr vielen anderen therapeutischen Massnahmen (Antipyretica und Sedativa bei peroraler Anwendung, physikalische Therapie, Operationen u. s. w.) ähnliche Änderungen nachweisen zu können.

Das Charakteristische, früher nicht Beachtete dieser Wirkungen der Therapie ist, dass sie in Phasen verlaufen: anfängliche Hemmung, dann Steigerung, endlich Herabsetzung der Reaktionsfähigkeit, und dass diese Wirkungen polytrope sind, sich nicht nur auf das angewandte Mittel bezie­

hen, wie die bisher allein beachteten monotropen Allergieen, sondern die Tendenz haben, sich nicht nur im Körper auszubreiten, sondern auch gleich­

zeitig die Reaktionsweise gegen andere Reize im gleichen Sinne zu ändern.

Daher spielt das zeitliche Intervall zwischen den Anwendungen der Mittel oft eine ausschlaggebende Rolle, erscheint geradezu manchmal wichtiger als die Höhe der Dosis und die Art der Mittel, die selbstverständlich auch eine grosse Bedeutung haben. Für die Therapie wichtig ist die gegebene Konsti­

tution, die heute als dem Individuum eigentümliche Reaktionsweise aufge­

fasst wird. In ihren Grundzügen ist sie erblich bedingt, sie kann aber inner­

halb gewisser Grenzen, einer Reaktionsbreite, sich dauernd oder vorüber­

gehend ändern. Diesen Änderungen, die teils physiologische, teils patholo­

gische sind, muss sich die Therapie anpassen, die ihrerseits wieder vorüber­

gehende Konstitutionsänderungen hervorruft. Man kommt zu einer konti­

nuierlichen oder intermittierenden Therapie, je nachdem man die Intervalle der Medikation wählt, ebenso kann man eine die Reaktionen steigende oder hemmende Therapie wählen, erstere ist bei chronischen Krankheitszustän­

den, letztere bei akuten Infektionen anzustreben. Fasst man die Krankheit als aus verschiedenen Gründen veränderte Reaktionsweise des Organismus

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auf, so ergibt sich die Möglichkeit einer „umstimmenden” Therapie, deren Zweck ist, bewusst die Reaktionsweise des Kranken so zu ändern, dass Festigkeit gegen die krankheitserregenden Reize, resp. Gifte eintritt. Da wahrscheinlich fast alle unsere therapeutischen Massnahmen, einschliesslich auch die Suggestion, äusser und neben ihren sonstigen Wirkungen auch zu Umstimmungen führen, erscheint diese Anschauungsweise geeignet zum Ver­

ständnis dessen, dass in der Vergangenheit — und auch in der Gegenwart — Erfolge mit Mitteln erzielt sind, die uns heute als wertlos erscheinen. Die Kunst des erfolgreichen Arztes aller Zeiten mag zu einem guten Teil darin bestanden haben, dass er auf Grund eingehender und sorgfältiger Beobach­

tung seiner Kranken die richtige Art der Anwendung der Mittel herausfand.

Diskussion:

Prof. Bl e s s i g - Dorpat: In dem Referat wurden als „umstimmend”

so ziemlich alle Mittel der physikalischen wie auch medikamentösen Thera­

pie angeführt. Danach möchte man fast fragen: welche therapeutischen Massnahmen, soweit sie überhaupt wirksam sind, wirken denn nicht um­

stimmend? Bei so weiter Fassung scheint der Begriff der „Umstimmung”

sich schliesslich mit dem der „Wirkung” zu decken.

Prof. Masing- Dorpat bemängelt, dass die Begriffe, mit denen die Lehre von der Behandlung durch Umstimmung arbeitet, noch vielfach un­

klar sind. Zu solchen undeutlichen Begriffen gehören auch die der Resistenz­

steigerung und Resistenzverminderung, die heute gebraucht wurden. Was darunter zu verstehen ist, wie die „Resistenz” gemessen wird, bleibt offen.

Schlusswort: Die Frage, ob nicht der Begriff der Umstimmung ein zu weiter und verschwommener sei, findet ihre Beantwortung darin, dass als Test die Proteinwirkungen angenommen werden. Finden sich bei der Untersuchung der Wirkung eines Mittels Zustandsänderungen, die polytrop sind, dann ist die umstimmende Wirkung erwiesen. Die Dosierung wird immer eine schwierige sein, da sie individualisierend sein muss unter Be­

rücksichtigung der zur Zeit gegebenen Reaktionsweise des Organismus.

Daher werden sich auch in Zukunft nur Richtlinien angeben lassen, keine festen Normen.

In der Lehre von der Umstimmung liegt eine neue Betrachtungsweise, die dem modernen Denken entspricht, das die Lebensvorgänge dynamisch zu erfassen sucht und das Ganzheitsprinzip betont. Das Wesen des Lebens ist ein unergründbares, metaphysisches Problem. Die Lebenserscheinungen sind aber heute unserem Verständnis im Vergleich zu früheren Zeiten wesentlich nähergerückt durch die neue Wissenschaft der Kolloidchemie. Die Assimi- lations- und Adaptationsprozesse, die das Leben charakterisieren, spielen sich letzten Endes in den submikroskopischen Regionen der Mizellen, der kolloiden Primärteilchen ab. Hier wird auch der Kampf zwischen Organis- muszellen und den Krankheitserregern ausgetragen. Gelingt es den Kör­

perzellen ihre Gegner zu töten, d. h. ihre Eiweissmizellen auszuflocken durch Bildung spezifischer Fermente, so ist Assimilation derselben durch Phago- cytose möglich. Erfolgt das Umgekehrte, so muss sich der Organismus an die in den Zellen angesiedelten Bakterien und ihre Stoffwechselprodukte adaptieren, was das Wesen des Krankheitsprozesses ausmacht.

Die Einzelheiten sind der Forschung schwer zugänglich und noch nicht

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genügend aufgeklärt, doch kann man annehmen, dass Oberflächenkräfte, besonders auch elektrische Ladungszustände der Mizellen hierbei eine aus­

schlaggebende Rolle spielen und dass Zustandsänderungen des Organismus, wie sie durch die umstimmende Therapie herbeigeführt werden, den lebendi­

gen Kräften des Organismus Vernichtung der Gegner und Wiederherstellung der Integrität erleichtern.

Prof. Dr. 0. BRUNS - Königsberg: Die physiologische Grundlage der Wiederbelebungstherapie.

Ist auch dann noch, wenn zur Atemlähmung der Herzstillstand hinzu­

tritt, die künstliche Atmung die Methode der Wahl?

Nach meiner Auffassung Ja, und zwar zugleich mit Haut- und Schleim­

hautreizen.

Es gelingt zwar bei Menschen auch durch forcierte Beatmung nicht einen echten Notkreislaus des Blutes zustandezubringen. Wohl aber birgt die künstliche Atmung wichtige Hilfsmittel zur Wiederbelebung der stocken­

den Herztätigkeit in sich.

1) Reflektorische Reizung des Herzens: Die Beatmung reizt durch Dehnung und Kompression der Lunge das Herz reflektorisch via Lungen­

vagus und Phrenicus, der auch zentripetale Erregungen leitet.

2) a) Mechanische Reizung des Herzens von aussen her durch Druck und Zug der Lungen, ferner durch rhythmische Kompression des Herzens zwischen Brustbein und Wirbelsäule. Die intrakardial gemessenen Druck­

werte schwanken beim Menschen nach meinen Experimenten zwischen —10 und 4-15 cm Wassersäule.

б) Ausserdem bewirkt die Beatmung ein lebhaftes Hin- und Her­

strömen des Blutes im Herzinnern und damit eine Reizung der Innenflächen der Herzhöhlen.

с) Durch das Hin- und Herfluten des Blutes in den Herzhöhlen wird weiterhin die Wirksamkeit von intrakardial angewandtem Adrenalin, Koffein und Strohpantin wesentlich erhöht.

т) a) Eine energische Beatmung insbesondere mit gleichzeitiger Sauer­

stoffinhalation treibt Kohlensäure, Kohlenoxyd, Chloroform in beträchtlichen Mengen aus dem Lungen- und Herzblut.

b) Die Sauerstoffzufuhr bewirkt nach meinen Resultaten eine wesent­

liche Anreicherung des Lungen- und Herzblutes mit Sauerstoff. Beim grossen erstickten Hund findet sich nach 6 Minuten Beatmung 45 %, nach 16 Minuten Pulmotorbeatmung 86% Sauerstoff im Blut des linken Herzens.

Dieses sauerstoffhaltige Blut kommt durch den Beatmungsdruck in der Ex­

spirationsphase in die Koronararterien, so dass eine gewisse Sauerstoff zu­

fuhr zum Herzmuskel- und -nervensystem denkbar wäre.

Bei der geringen Ventilationsgrösse, die ich durch sämtliche Beat­

mungsformen erzielte (100 bis maximal 400 ccm Luft bei lebenswarmen menschlichen Leichen, dabei toter Raum in den Luftwegen 150 ccm!), ist daher unbedingt gleichzeitige Sauerstoffzufuhr zu fordern, und auch dann eine wesentliche Arterialisierung des Herzblutes fraglich.

Bei dem Howard und S c h ä f e r’schen Verfahren ist die Inspiration mangelhaft,

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Der Apparat von Fries vereinigt alle mechanischen Hilfsfaktoren zur Wiederbelebung der Herztätigkeit. Apparate sind aber natürlich nicht überall zur Steile und brauchen kostbare Zeit zur Montierung.

Bei Atemstillstand und Fortdauer der Herztätigkeit ist in erster Linie zu achten auf energische inspiratorische Lungendehnung unter Inhalation von Sauerstoff. Nur die ursprüngliche Silvesteratmung ist die physiologi­

sche Form der Erleichterung der spontanen Herztätigkeit. Die anderen Beatmungsmethoden sind gute mechanisch und reflektorisch wirksame An­

regungsmittel bei Stillstand der Herztätigkeit.

Da bei Herz- und Atemstillstand aus vollem Leben heraus die Ganglien­

zellen des Gehirns die Unterbrechung der Blutzufuhr im äussersten Fall 12 Minuten ohne dauernde Schädigung ertragen, bin ich für Anwendung möglichst drastischer mechanischer und reflektorischer Reize.

Diskussion:

Dr. E. Girgensohn - Reval fragt: 1) ob bei Scheintot wirklich vollständiger Herzstillstand stattfinden kann; 2) wenn ja, welche die maxi­

male Zeit ist, nach dem Wiederbelebung erfolgen kann; bei den Yogin, den sogen, indischen Fakiren, wird von Lebendigbegrabensein bis 42 Tagen berichtet.

Prof. Fehrmann - Riga fragt den Vortragenden, ob es für städti­

sche Feuerwehrstationen und Stationen für Hilfeleistung bei Unglücksfällen nach den theoretischen Grundlagen und praktischen Erfahrungen zu empfehlen sei, anstatt der Sauerstoffapparate jetzt solche mit einem Zusatz von 4% CO2 bereit zu halten, oder ob es besser sei, beide Arten zu halten.

Dr. Sadikoff - Talsen fragt über die Umstände und Vorgänge beim Tode durch Erhängen. Redner hat Fälle von geglückter Wiederbe­

lebung Erhängter beobachtet, in welchen dann später doch rettungslos der Tod eintritt.

Schlusswort: nicht eingegangen.

Dr. A. WAEBER-Libau: DieBedeutung des Schmerzes für Diagnose, Therapie, und Prognose gynäkologischer Erkrankun­

gen.

Die Schmerzprobleme werden im Allgemeinen zu einseitig vom Gesichts­

punkte der Lokalisation betrachtet. Schmerzpunkte werden in Beziehung gebracht zu bestimmten Erkrankungen und differentialdiagnostisch ver­

wertet. Dadurch kommt etwas Starres und Schematisches in die Schmerz­

probleme hinein. Als Ergänzung dieser Betrachtungsart ist die physio­

logische und psychologische Vertiefung notwendig. Kein einzi­

ges Krankheitssymptom ist so reich an Ergebnissen für die somatische Grundlage der Erkrankungen als auch für das psychologische Bild der Pati­

enten, wie die Art des Schmerzgefühls.

Der Schmerz ist nicht eine Empfindung im Sinne der Sinnesempfin- dungen, sondern gehört zu den Gefühlen. Wenn auch, wie O. Foerster das betont „bei den meisten Schmerzreizen, die unseren Körper treffen, reines Schmerzgefühl in der Regel nicht für sich allein erscheint, sondern mit Empfindungen gepaart und untermischt ist, so gehört es doch zu der

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Gruppe derjenigen psychischen Phänomene, die man im Allgemeinen als Gefühle und Affekte bezeichnet und den Wahrnehmungen und Empfindun­

gen im engeren Sinne gegenüberstellt. In präziser psychologischer Ter­

minologie sollte man daher stets von Schmerzgefühl und nicht von Schmerzempfindung sprechen.”

Wir müssen auch neurologisch das affektive Nervensystem vom perzeptorisch-kritischen (affektlose reine Sinnesempfindung) unterscheiden. Das affektive Nervensystem ist dem sympathischen System gleichzusetzen. Spezifische Endapparate für das Schmerzgefühl sind bisher nicht nachgewiesen. Die marklose Nervenfaser ist Perzeptionsinstrument für den Schmerz.

Zwei Fragen sollen untersucht werden: Die Intensität und die Lokalisation des Schmerzgefühls. Die Intensität wird reguliert durch die Intaktheit des perzeptorisch-kritischen Systems. Am stärksten gestört sind die normalen Verhältnisse bei Läsionen der Hinterhornsegmente und der Thalamusgegend. Es kommt zu Irradiation des Schmerzes über weite Be­

zirke der Körperoberfläche, der Schmerz gewinnt den Charakter der Hy- perpathie (O. Foerster). Alle Störungen in der Intensität des Schmerzes, die durch organische Veränderungen bedingt sind, können auch durch funktionelle Störungen verursacht werden.

Die Lokalisation ist um so ungenauer, je weniger das betreffende Gebiet mit perzeptorisch-kritischen Lokalzeichen versorgt ist. Je mehr wir von der Körperoberfläche in die Tiefe gehen, um so ungenauer wird die Lokalisation. Am ungenauesten die Lokalisation bei Erkrankungen des Nervensystems.

Typische Bilder in der Gynäkologie der gestörten Schmerzintensität und Lokalisation sind die Dysmenorrhoea und die Parametritis posterior.

Diagnostisch wichtig ist in solchen Fällen eine segmentale Unter­

suchungsmethodik und die Anwendung der Novocaininfiltrationen zur Ausschaltung des Lokalschmerzes (Infiltration des Frankenhäuserschen Plexus, des Head’schen Hautdermatoms, paravertebrale Anästhesie nach Mandl). Therapeutisch — Ausschaltung der schmerzauslösenden Ursache.

Vorsicht bei der Prognosenstellung operativer Eingriffe, jedoch keine grund­

sätzliche Ablehnung. Möglichste Erhaltung der anatomischen Verhältnisse.

Abzulehnen die Fixation nach Doleris, Fixation an die Bauchdecken, Vor­

sicht in der Anwendung des Querschnittes; der Längsschnitt ist besser.

Wichtig länger dauernde Nachbehandlung. Übung und vielseitige Bean­

spruchung des epikritischen Systems durch Gymnastik, Sport, Handarbeit, Bäder etc. Psychotherapie allein macht es nicht. Hoffnungslosigkeit der Schmerztherapie, wenn das Schmerzurteil durch nicht zu beseitigende affek­

tive Komplexe immer von neuem unterhalten wird.

Diskussion:

Dr. Hirsch- Reval: Es ist zu begrüssen, dass die Erkenntnis psy­

chisch bedingter, oder wenigstens beeinflusster, Krankheitssymptome und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit psychischer Behandlung auf allen Spezialgebieten unserer Wissenschaft zunimmt, wie auch der eben gehörte Vortrag vielen beweist. Als ausschlaggebend bei Bewertung von Schmerzen überhaupt ist meiner Ansicht nach die Aufmerksamkeit, welche der

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Kranke auf diese richtet, zu betonen. Diese ist so wichtig, dass unter Um­

ständen von jeder lokalen Behandlung, zugunsten einer allgemeinen, Abstand genommen werden muss. In besonderen Fällen kann sogar ein absichtliches „N ichtbehandeln” das einzige Heilmittel sein.

Schlusswort: Sehr zu begrüssen ist es, dass wir uns mit dem Kollegen Dr. Hirsch auf einer Linie treffen in der Stellungnahme gegen­

über den gynäkologischen Erkrankungen der Neuropathen. Es lag mir vor allem daran eine Brücke zwischen der Gynäkologie und Neurologie herzu­

stellen. Wir brauchen einander; es ist nur notwendig die Gebiete ins Auge zu fassen, wo wir uns gegenseitig helfen können. Aufgabe des Gynäkologen ist es in solchen Fällen nicht das somatische Substrat, das die Schmerzen schafft, zu übersehen. Das kann ungeheuer schwierig sein, ist aber von ausserordentlicher Wichtigkeit, denn die beste neurologische Beratung und psychotherapeutische Behandlung kann nicht den gewünschten Erfolg er­

zielen, wenn der Gynäkologe die Organerkrankung, von der doch die Be­

schwerden ihren Anfang nehmen, übersieht. Die Deutung der vielseitigen Schmerzphänomene bei Frauenleiden verlangt andererseits wieder die Mit­

arbeit der Neurologie und Verständnis des Frauenarztes für die in meinem Vortrag behandelten Grundfragen der Intensität und der Lokalisation des

Schmerzes. •

Dr. GIRGENSOHN - Reval: Zur Kasuistik der ausgetragenen Extra­

uteringravidität.

, Bericht über einen vom Vortragenden am 27. IX. 1927 operierten Fall von rechtsseitiger, ampullärer Tubargravidität mit ausgetragenem lebendem Kinde. Die Operation bestand in supravaginaler Amputation des Uterus, der sich gleichmässig mit dem tubaren Fruchtsack in die Länge entwickelt hatte, ihm langausgezogen anlag, und in Exstirpation des intraligamentär entwickelten Fruchtsackes.

Die Patientin ist vollkommen genesen; das Kind, das eine Deformation des Unterkiefers und einen Klumpfuss auf wies, erlag nach 6 Tagen einer Pneumonie.

Diskussion:

Dr. Thomson- Dorpat: Auf die Anfrage des Vortragenden, ob eventuell von den Kollegen in Dorpat ein ähnlicher Fall beobachtet worden sei, berichtet Th., dass er im Alexandra-Stift für Frauen in St. Petersburg eine übertragene ectopische Schwangerschaft im 13-ten Monat erlebt hat.

Hierbei war die Diagnosenstellung vor der Laparatomie ebenfalls äusserst schwer gewesen, da nach Absterben der übergrossen Frucht dieselbe ent­

zündliche Verwachsungen mit den sie umgebenden Intestinas der Bauch­

höhle eingegangen war und als grosser massiger Beckentumor imponierte.

Aus der Anamnese war im 4. Monat eine ca 1 Woche lang dauernde Schmerz­

attacke im Mutterleibe mit peritonitischen Erscheinungen bekannt. Bei der Laparatomie stellte es sich nach Herausschälen des in der Bauchhöhle mit den Eingeweiden fest verwachsenen Foeten heraus, dass derselbe also im 4. Monat der Gravidität nach Berstung der linksseitigen geschwängerten Tube ohne nennenswerte Blutung in die freie Bauchhöhle ausgetreten war und hier seine Entwickelung an der intaktgebliebenen Nabelschnur fort­

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gesetzt hatte, während die Placenta zwischen den Blättern des lig. latum bis auf die Beinschaufel hin ihr Wachstum genommen hatte und operativ nicht entfernt werden konnte. Sie wurde mit Gedärmen gedeckt, nach der Scheide zu drainiert und jauchte im Laufe von ca 3 Monaten zur Scheide hinaus. Patientin wurde gesund.

Dr. F. v. BORMANN - Reval: Die Bekämpfung einer Scharlachepi­

demie.

Die jetzige Scharlachepidemie in Reval dauerte etwa 3% Jahre. Trotz der Anwendung aller üblichen Mittel, nahm sie ungestört ihren Fortgang.

Es ist nicht unser Verdienst, wenn sie jetzt vor dem Abschluss ist.

Die vor kurzem erfolgte endgültige Aufklärung der Scharlachaethio- logie (ich stehe auf dem Standpunkte, der Scharlach sei eine Streptokokken­

monoinfektion) , erlaubt uns eine eingehendere Kritik unserer Kampfmethoden gegen den Scharlach.

Vor allem wird die Isolierung des Krankheitsherdes,

— des Scharlachkranken, — geübt. Wie lange soll man den Patienten isoliert halten? Die Schuppung ist ein ungenügender Indikator, da die Schuppen nicht ansteckend sind. Die üblichen 6 Wochen erweisen sich sehr oft als eine zu kurze Frist. Aber auch viel längere Termine (bis zu 240 Tage) schützen nicht vor „Heimkehrfällen” . Die Anwesenheit des Strept. haemolyticus scarlatinae im Nasenrachen ist für die Ansteckungsfähigkeit des Patienten entscheidend. Die Versuche, die Ansteckungsfähigkeit des Patienten durch N asen-Rachenabstrich-Unter- suchungen auf Str. haem. festzustellen (3 X negativ — Patient entlassen, Friedmann u. Deiche r), wie es bei Diphtherie gehandhabt wird, haben sich jedoch nicht bewährt. Man ist beim Strept. nie sicher, ob man ihn auch festbekommt (Bürgers, Seligmann u. and.).

Im Sinne einer Ausrottung der Epidemie wäre die Isolierung problematisch, vielleicht nur für bösartige (Fulminans-) Fälle not­

wendig, um die hochvirulenten Strept.-Stämme zu eliminieren. Als Iso­

lierungstermin ist die Frist von 6 Wochen ein Nonsens. Es sei aber davor gewarnt von den 6 Wochen der Behandlung abzusehen. Der Scharlachpati­

ent ist erst nach 6 Wochen gesund (Schick).

Ist die Desinfektion notwendig? Bürgers hat gezeigt, dass getrocknete Strept. wenigstens 1TA J. ihre Lebensfähigkeit und Virulenz bei­

behalten. Nun aber fungieren die toten Gegenstände (Möbel, Bücher, Spiel­

sachen, Schuppen, Staub u. s. w.) höchst wahrscheinlich nur selten als Ver­

breiter der Erkrankung.

Jedenfalls weder der Kranke, noch seine tote Umgebung können die Kontinuität der Epidemieverbreitung aufklären. Auch die von den Eltern vor jeder Berührung mit der Aussenwelt geschützten Kinder er­

kranken an Scharlach.

Schon Johannese n, in der letzten Zeit auch besonders Bürgers, wiesen auf den epidemiologischen Zusammenhang des Scharlachs mit den Nasen-Rachenaffektionen der Umgebung hin.

Mir fiel besonders die Häufung der Anginen in der Scharlachum­

gebung (Kinderasyle, Krankenhauspersonal, Truppenteile u. ä.) auf. Die

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Anginen sind um das vielfache häufiger als der Scharlach. Bei ihnen findet sich der Str. haem. beinahe in 100% (einmalige Untersuchung). Bei ge­

sunden Kontrollen sowie bei Nasen-Rachenerkrankungen aus der Masern­

umgebung ein viel geringerer % % der Str.-funde *). Da diese Anginen sich auch sonst (Verlauf der Komplikationen u. s. w.) durch nichts, äusser dem Exanthem und der Schuppung vom Scharlach unterscheiden, — dürfen wir jetzt, wo Klarheit über die Ätiologie des Scharlachs geschafft ist, nicht mehr von Scharlach — akutem Exanthem sprechen, sondern vielmehr von Scharlach — spezifischer Streptokokken-Angina, welche bei Disponierten von einem Exanthem begleitet wird.

*) Mandelbaumstäbchen gelang es mir in meinem gemeinsam mit Dr.

Stankievic (Reval) ausgeführten Versuchen so gut wie niemals aus­

findig zu machen.

Bei der Epidemiebekämpfung achteten wir bis jetzt nur auf den Exanthemscharlach. Gegen die Anginen (geschweige die Bazillenträger) ist schon wegen ihrer enormen Zahl jeder Kampf unmöglich.

Ist auch eine Bekämpfung des Scharlachs so überaus wichtig? Man muss zwei Arten von Seuchen unterscheiden. Seuchen, wie die Pest, Variola vera u. ä., die durch ihre Wucht jede Konstitution brechen und die Mensch­

heit ausrotten. Die sind mit allen Mitteln zu bekämpfen. Dann kom­

men aber Seuchen wie Morbilli, Scharlach u. ä., die meist nur den mangel­

haften Konstitutionen den Tod bereiten, gewissermassen Dispositions­

seuchen. Ob wir durch eine energischere Bekämpfung derselben nicht die Natur in ihrer Säuberungsarbeit auf halten? Ein ewiger Fehler der Menschheit, die in sinnlosen Kriegen ihr bestes Zuchtmaterial vergeudet, und im Frieden über jedem Degeneraten voll Humanitätsdusel zittert. Beson­

ders jetzt wo „Ihre Hoheit die Quantität” herrscht.

Jedenfalls hat uns die Forschung der Neuzeit in der aktiven Anti­

scharlachimpfung ein sehr wirksames Kampfmittel gegen den Scharlach gegeben. Auch in Reval hat sich dieselbe ausgezeichnet bewährt. Unter den Geimpften (mehrere tausend) erkrankten im Laufe von 2 Jahren nur ca 30/00. Unter den Nichtgeimpften zur selben Frist ca 3°/o.

Diskussion:

Dr. Rothberg - Dorpat: Der Vortragende bekennt sich zum An­

hänger der Theorie, dass der Streptokokkus haemolyt. der Erreger des Schar­

lachs ist. Das ist nicht bewiesen und daher scheinen mir verschiedene Schlüsse des Vortragenden sehr anfechtbar. Die Scharlachepidemiologie ist auch dunkel. Die Bestrebungen prophylaktisch den Scharlach zu bekämpfen sind schon alt, ich erinnere an die Bemühungen mit Gabritschewski- und Moserserum. Leider war ihnen kein Erfolg beschieden. Es bleibt zunächst abzuwarten, ob die jetzt geübte aktive Immunisierung Erfolge zeitigt.

Dr. Gernhardt - Dorpat fragt an, ob die in letzter Zeit mehrfach beobachtete Häufung chirurgischer Streptokokkenerkrankungen (Empyeme, Phlegmonen, Erysipel) zur Zeit von Scharlachepidemien auch für die Re- valer Epidemie zutrifft.

Dr. W a e b e r - Libau: Der Herr Vortragende vertritt die An­

schauung, dass der Scharlacherreger der Streptokokkus haemolyt. sei. Ich

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möchte daran erinnern, dass vor ca 15 Jahren dieser selbe Streptokokkus haemolyt. auch in der Therapie und Klinik der septischen Erkrankungen schon seine Rolle spielte, und dass der Applaus, mit dem er damals be- grüsst wurde, nicht lange anhielt. So weit ich orientiert bin, nimmt auch Schottmüller an, dass äusser dem Strept. haemolyt. noch ein endogener in der Disposition gelegener Faktor notwendig ist, damit das Krankheits­

bild des Scharlachs entsteht. Es ist ausserdem bekannt, dass bei einer Epi­

demie durchaus nicht alle erkranken. Ich wäre dankbar für eine Ergänzung des vom Vortragenden gebrachten Materials in der Richtung, ob die ge­

schilderte Scharlachepidemie irgendwelche Tatsachen zu Tage gefördert hat, die eine Erklärung dafür geben könnten, welche Verhältnisse Ursache sind, dass nur ein Teil derjenigen, die einer Infektion ausgesetzt waren, er­

krankten. Es ist doch noch immer eine ungelöste Frage, wie das zu erklä­

ren ist, dass in einer Familie, in der wiederholt Infektionsmöglichkeiten waren, ein Teil der Angehörigen von Scharlach verschont bleibt.

Schlusswort: nicht eingegangen.

Dr. W. HOLLMANN-Dorpat: Zur Technik der Diathermie.

(Demonstration.)

Dozent Dr. EDM. SPOHR - Dorpat: Die Grundlagen der geschlechts­

gebundenen Vererbung.

(Referat.)

Im Anschluss an den von Mag. zool. W. Petersen 1927 auf der XIV. Tagung der E. D. Ä. G. gehaltenen Vortrag über „Das X-Chromosom in der Vererbungslehre” werden an Hand von Bildern und Schemata die Grundzüge der Vererbungslehre in Erinnerung gebracht. Insbesondere wird auf die „M ende Eschen Regeln” hingewiesen, die ihrem Wesen nach als Ausdruck der geschlechtlichen Fortpflanzung und eines sich in den Ge­

schlechtszellen, den „Gameten”, abspielenden Vorganges („Chromoso­

menhypothese”) zu betrachten sind.

Bei Erforschung der Geschlechtsvererbung haben sowohl Züchtungs­

versuche als auch zytologische Untersuchungen ergeben, dass das Ge­

schlecht ein „mendelndes Merkmal” darstellt und durch „Anlagen”, die an die „Geschlechtschromosomen” gebunden sind, bedingt ist.

Im Hinblick auf die Vererbungserscheinungen beim Menschen be­

schränken sich die weiteren Ausführungen nur auf eingeschlechtliche Organismen.

Bezüglich der Geschlechtsvererbung zwingen die Beobachtungen und Überlegungen zur Annahme, dass das eine Geschlecht „heterozygot”, d. h.

das Produkt zweier den Geschlechtsanlagen nach ungleicher Gameten, das andere dagegen „homozygot”, — d. h. aus der Verschmelzung von gleiche Geschlechtanlagen enthaltenden Gameten hervorgegangen sein muss. In der Geschlechtsvererbung lassen sich somit folgende 2 Fälle der Hetero- zygotie unterscheiden:

1. Das Männchen ist den geschlechtlichen Anlagen nach heterozygot und weist eine „dominierende” männliche Anlage auf, d. h. es besitzt zweier­

lei Spermakerne; das Weibchen ist homozygot und hat daher nur gleiche

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