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Archiv "ÄRZTEMUSTER: Abwegig" (29.04.1976)

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BLÜTENLESE

Diagnose

Der Domherr Wilhelm von Tyrus (um 1178), ein Mann von umfas- sender Bildung (seine histori- schen Bücher gelten als die be- ste Quelle für das Studium der Lateinischen Königreiche in Nah-Ost), war von König Amau- ry von Jerusalem mit der Erzie- hung seines Sohnes, des späte- ren König Balduin beauftragt.

Der Domherr berichtet über sei- nen Zögling: „Er spielte immer mit den kleinen Adeligen, sei- nen Gefährten, und wie es oft unter Kindern dieses Alters ge- schieht, kniffen sie einander in die Arme oder Hände; alle fin-

gen an zu schreien, wenn sie den Schmerz fühlten, der junge Balduin allein litt alles ruhig, als ob er keinen Schmerz empfände ... Ich glaubte zuerst, es kom- me dies nicht von Unempfind- lichkeit, sondern von Geduld und Ausdauer. Als ich ihn aber zu mir rief, ... entdeckte ich endlich, daß sein rechter Arm und die rechte Hand unempfind- lich waren ... Das war das erste Anzeichen einer schweren Krankheit, von der wir nicht mit trockenen Augen berichten kön- nen. Als er das Jünglingsalter erreicht hatte, erkannte man, daß der junge Mensch von Aus- satz befallen war ..." — König Balduin erlag der Lepra. Dr. Fleiß

Spektrum der Woche

Aufsätze • Notizen

BRIEFE AN DIE REDAKTION

ÄRZTEMUSTER

Zu dem Leserbrief von Frau Dr. Tebbe- Simmendinger im DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATT, Heft 12/1976:

Abwegig

... (Die Verfasserin fragt), ob die neue einschränkende Regelung be- züglich der Ärztemuster zu einer Entlastung der Krankenkassen füh- ren kann. Ich halte die Frage für abwegig: Die Ärztemuster — und darauf haben die Krankenkassen in der Vergangenheit ebenfalls wie- derholt hingewiesen — werden auch vom Verbraucher, bei Kas- senpatienten also von den Kran- kenkassen bezahlt. Die Ausgaben für Ärztemuster schlagen sich nämlich im Preis für die übrigen Arzneimittel nieder. Ganz unabhän- gig davon habe ich aber seit Jah- ren wiederholt in der Öffentlichkeit auf den Unfug hingewiesen, mit Hilfe von kostenlosen Ärztemustern den Versuch zu unternehmen, die eigenen Verordnungskosten in der kassenärztlichen Praxis niedrig zu halten. Mit dieser Handhabung, die leider von nicht wenigen Ärzten seit eh und je üblich war und ist,

wird in unkollegialer Weise denje- nigen Ärztinnen und Ärzten ge- schadet, die grundsätzlich ord- nungsgemäß ihre Arzneimittelver- ordnung der Krankenkasse rezep- tieren. Es wird nämlich durch die in großem Umfang Ärztemuster an Stelle von Rezepten vergebenden Kollegen der Arzneimittelkosten- durchschnitt nach unten verfälscht.

Bleibt zu hoffen, daß künftig auch daran gedacht wird, bevor ein Kol- lege mit der Zielsetzung der Ko- stenverbilligung zwecks Verteilung an seine Patienten zum kostenlo- sen Ärztemuster greift. Das gilt um so mehr, als mit der Ausgabe ko- stenloser Ärztemuster die soge- nannte Kostenexplosion in der Krankenversicherung in keiner Weise gebremst werden kann. Arz- neimuster sind nur zur Erprobung da!

Dr. med. Kaspar Roos Bundesvorsitzender des Verbandes der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV) Belfortstraße 9/111

5000 Köln 1

NS-VERBRECHEN

Der folgende Beitrag wurde angeregt durch Berichte aus jüngster Zeit über Vorgänge im „Dritten Reich"; er zeigt, wie ein jüngerer Sanitätsoffizier im Zweiten Weltkrieg zum erstenmal mit den Verbrechen von Ärztekollegen ohne ärztliche Gesinnung konfrontiert wurde. Der Verfasser wollte zunächst aus Bescheidenheit anonym bleiben. Er legt übrigens Wert auf den Hinweis, daß er gebürtiger Schlesier ist.

„Natürlich nicht mehr aufgewacht"

... Im Jahre 1943 verbrachte ich während eines Fronturlaubs einige Tage in Berlin. Eines Tages wollte ich vom Stettiner Bahnhof aus nach einer kleinen Stadt im Norden Berlins fahren. Der Zug war über- voll. Ich entdeckte ein einziges Ab- teil, das fast leer war. Es war reser- viert für Verwundete. Aus dem Fen- ster schaute ein zivil gekleideter Jüngling, der den Arm in der Schlinge trug. ... Der junge Mann freute sich offensichtlich über die Gesellschaft und begann bald ein Gespräch. Als er erfahren hatte, daß er es mit einem Sanitätsoffizier zu tun hatte, erzählte er unaufge- fordert seine Geschichte.

Nach Beginn des Medizinstudiums sei er an einer Schultergelenkstu- berkulose erkrankt und in die be- kannte Klinik des SS-Chirurgen Professor Gebhard nach Hohenly- chen gebracht worden. Als sich ei- nige Wochen nach erfolgloser kon- servativer Behandlung keine Bes- serung zeigte, habe der Chefarzt bei einer Visite die Operation sei- ner schon ziemlich zerstörten Ge- lenkpartie, genauer gesagt eine Transplantation an derselben, be- schlossen. Und er trug dem Assi- stenzarzt auf, geeignetes Material auszusuchen. Auf meine verständ- nislose Zwischenfrage hatte der Erzähler nur gewartet. Ich wollte wissen, wie das mit der Transplan- tation gemeint wäre und wie das vor sich gegangen wäre. Überle- gen lächelnd klärte mich der Held der Geschichte — so kam er sich offensichtlich vor — 'über die Ge- winnung des Transplantats auf. Der Assistenzarzt sei weisungsgemäß in ein benachbartes Lager mit

pol-

1252 Heft 18 vom 29. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen BRIEFE AN DIE REDAKTION

nischen Frauen gegangen, die Frau- en seien mit entblößtem Oberkör- per angetreten und dann sei eine auf Grund eines Vergleichs zwi- schen ihrer äußeren Anatomie und dem Röntgenbild von seiner Schul- tergelenksgegend ausgesucht wor- den. Mich begann zu frösteln.

Ich habe die Szene im Gedächtnis, als sei sie gestern gewesen. Man habe doch nicht für die Gewinnung von Schultergelenksadnexen, d. h.

einen verstümmelnden schweren Eingriff, eine junge, gesunde Frau ausgewählt, das wäre doch wohl nicht möglich. Ich überlegte, ob mein Gegenüber den Verstand ver- loren haben könnte. Aber der machte nicht diesen Eindruck, und was er sagte, paßte zusammen. Er wußte viele medizinische Details, er kannte die Ärzte in Hohenlychen mit Namen. Als er erklärte, man habe gerade darauf Wert gelegt, wegen möglichst guter Einheilungs- chancen einen jungen und gesun- den Menschen für die Transplan- tation zu haben, die gesamten me- dizinischen Daten der Polenfrau seien in seinem Krankenblatt ja eingetragen, blieb mir nur noch die Frage, was man um Himmels willen der Transplantatspenderin als Er- klärung für die beabsichtigte Ope- ration und, vor allem, was man ihr hinterher gesagt habe. Da grinste mein Gegenüber nur überlegen:

Die Frau sei doch natürlich nicht mehr aufgewacht. Mich grauste, ich glaubte zu träumen. Der Zug war kurz vor meinem Ziel. Mir blieb nur noch so viel Zeit, daß ich mir den Personalausweis meines Reisegenossen zeigen lassen und ihm den Rat geben konnte, nie wieder seine Geschichte einem Fremden zu erzählen. Er hatte für den frostigen Ton meiner letzten Worte freilich kein Verständnis.

Einige Tage lang ging ich wie im Fieber umher. Konnte wahr sein, was man mir — fast beiläufig wie in einem Kaffeehausgespräch — erzählt hatte? Konnte ein deut- scher Arzt, ein renommierter Uni- versitätsprofessor solche Ungeheu- erlichkeiten begehen? Ich wußte damals noch nichts von den Ver-

brechen, die schon seit langer Zeit von deutschen Händen begangen wurden. Für mich war der Krieg noch immer ein aufgezwungener Verteidigungskampf, die Regierung samt dem „Führer" bestand für mich noch immer aus Ehrenmän- nern, die von der deutschen Bevöl- kerung in legitimen Wahlgängen an die Macht herangebracht worden waren. Kurz gesagt, ich war noch immer gutgläubig. Da ich schon 1939 eingezogen und den ganzen Krieg über bei der Fronttruppe war, hatte ich auch keine Gelegen- heit zu negativen Informationen.

Auch während meiner wenigen Ur- laubstage in diesen Jahren trug niemand Gerüchte an mich heran, die in der Zivilbevölkerung kursier- ten.

So traf mich die Begegnung mit einer nie zuvor gekannten menschlichen Mentalität, die in diametralem Gegensatz zu der meiner ärztlichen Lehrer stand, mit voller Wucht. Ich vermochte das Erfahrene nicht einzuordnen und nicht zu verarbeiten. Schließlich entschloß ich mich, den mir als Soldat einzig gangbar er- scheinenden Weg zu gehen. Ich schnallte um zu einer Meldung bei meinem zuständigen Vorgesetzten.

Das war im Urlaub der Standort- arzt. Da hatte ich tumber Tor, wie mir später klar wurde, nun sehr viel Glück. Schließlich konnte mir das damals recht übel .bekommen, daß ich als kleiner Oberarzt wagte, ge- gen den allmächtigen General so Unerhörtes vorzubringen; Unerhör- tes, wie ich es als normaler Medizi- ner empfand. Aber der Standort- arzt, der meine Geschichte ruhig anhörte — er war übrigens Reser- vist und ist heute noch am Leben

—, hatte die gleiche Mentalität wie ich. Zwar erschütterte ihn der In- halt meiner Meldung nicht — der- artiges schien er nicht zum ersten Male gehört zu haben —, aber er teilte offenbar, ohne es deutlich zu zeigen, meine Empörung und sag- te_ schließlich etwas, womit er sei- ne ärztliche Einstellung eigentlich doch klar dokumentierte: Er sagte nämlich, ich solle mir einmal vor- stellen, daß Deutschland den Krieg

verlöre und derartige Dinge, wie wir sie gerade besprächen, in der Welt bekannt würden. Der Oberfeld- arzt wußte zweifellos besser Be- scheid über die Kriegslage als ich.

Er meinte es ernst mit seinem Blick in eine Zukunft, wie sie dann auch eintraf.

Im Nürnberger Ärzteprozeß kamen diese Dinge zur Sprache, und Geb- hard wurde ihretwegen hingerich- tet. Der Standortarzt erklärte mir, als er mich verabschiedete, er wür- de mich wahrscheinlich noch auf- fordern, meine Meldung schriftlich nachzureichen.

Tatsächlich erhielt ich 2 Tage spä- ter — ich war inzwischen nach Hause gefahren — eine solche Aufforderung. Die betreffende Mel- dung diktierte ich unserer damali- gen Krankenschwester (die noch lebt und sich an das Vorkommnis erinnert). Die Durchschrift besitze ich noch. Die Meldung schickte ich umgehend an den Standortarzt Berlin. Ich habe in der Sache nie mehr etwas gehört.

Wenn ich das Geschehen heute noch einmal aus dem Gedächtnis aufzeichne — was mir nicht schwerfällt, so enorm erregte es mich seinerzeit, bis zu nächtelan- ger Schlaflosigkeit —, so lediglich deshalb, weil es mir die typische Reaktion eines in den alten hippo- kratischen Traditionen erzogenen Jungarztes widerspiegelte. Zügello- sigkeit und Zynismus einer SS-Cli- que stellte hierzu eine Gegenwelt dar. So bedurfte ich auch zu mei- ner Meldung gegenüber meinem Vorgesetzten keines Mutes, da ich eine offizielle Billigung des Vor- ganges für unmöglich hielt.

Ich handelte aus reiner Empörung stellvertretend für Tausende von anderen Ärzten, die an meiner Stel- le — zufällig konfrontiert mit dem mörderischen Vorgang — als Wehrmachtsangehörige sicherlich ebenso gehandelt hätten.

Dr. med. Friedrich Mehlhose Mühlenstraße 34

1000 Berlin 37 (Zehlendorf)

DEUTSCHES .ÄRZTEBLATT Heft 18 vom 29. April 1976 1253

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