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Frühkindliche Hirnschäden
lösen: Die Kinder mit einer Verhal- tensstörung bei Hirnschädigung entstammten sehr ungünstigen so- zialen Verhältnissen, welche die in ihnen steckenden Möglichkeiten weder voll erschließen konnten noch zu einer Kompensation des angeborenen Defizits in der Lage waren. Umgekehrt konnte bei der anderen Gruppe die familiäre Um- welt als durchschnittlich gut be- zeichnet werden, so daß die leichte frühkindliche Hirnschädigung in der kinderneurologischen Untersu- chung (nach Touwen und Prechtl 1970) noch nachweisbar war, aber eigentlich keinen Krankheitswert mehr besaß.
Unabhängig davon gab es noch eine wesentlich größere Zahl von psychomotorisch gestörten Kin- dern, die keine Hirnschädigung er- kennen ließen, aber auf Grund von oft sehr tief greifenden Entbehrun- gen (psychosensorischer Depriva- tion) oder anderen ungünstigen Entwicklungsbedingungen sowohl Verhaltensstörungen als auch mo- torische Mängel davongetragen hatten.
Es scheint uns also fraglich, ob bei Kindern mit Verhaltensstörung und motorischen Schwächen in der Re- gel eine leichte frühkindliche Hirn- schädigung anzunehmen ist. Zu wenig ist bei diesem Konzept die umweltabhängige Störmöglich- keit der zentralnervösen Entwick- lung bedacht (Pechstein 1973). Un- sere eigenen Untersuchungen le- gen die Vermutung nahe, daß vie- les, was heute in den Sammeltopf
„leicht hirnorganisch geschädigt"
geworfen wird, einer differenzierten biographischen Erhebung und Ana- lyse der familiären Umwelt nicht standhält. Das würde bedeuten, daß das hier kritisierte Konzept in der täglichen Praxis mehr Proble- me aufwirft, als es zu lösen ver- mag.
Aus diesem Grund wäre eine neu- erliche Überprüfung der Hypothese vorn Zusammenhang von hirnorga- nischer Schädigung und Verhal- tensstörung bei Kindern sehr er- wünscht, zumal auch ein Kind, das
die Diagnose „Minihirnsyndrom"
zu Unrecht bekommt, sekundäre Neurotisierung und Kränkungen seines Selbstwertgefühls davontra- gen kann.
Dr. med. Eberhard Haas Dieburger Straße 235 6100 Darmstadt
Schlußwort
Die Ausführungen von Herrn Haas zeigen, daß mein eigentliches An- liegen, auf eine (nicht die einzige) Ursache von Verhaltensauffälligkei- ten im Kindesalter, nämlich die hirnorganische, hinzuweisen und deren diagnostische Möglichkeiten aufzuzeigen, nicht überall verstan- den worden ist; insofern bin ich ihm für diese Anmerkung außeror- dentlich dankbar. Es ist unzweifel- haft, daß die Entwicklung des Zen- tralnervensystems sowohl durch eine frühkindliche Traumatisierung als auch — und möglicherweise sehr viel häufiger — durch andere umweltabhängige Störungen beein- trächtigt werden kann. Vergessen sollte man auch nicht konstitutio- nelle Faktoren. Eine „primär hirn- organische Betrachtungsweise"
der genannten Störungen liegt mir völlig fern. Ich habe betont, daß differentialdiagnostisch die Unter- scheidung einer zerebralen Dys- funktion von neurotischen Fehlent- wicklungen und Milieuschäden häufig sehr schwierig ist. Mir kam es darauf an — und die Ausführun- gen von Herrn Haas scheinen die Notwendigkeit zu bestätigen —, nochmals darauf hinzuweisen, daß als Ursache für Verhaltensauffällig- keiten jeglicher Art und für Schul- schwierigkeiten unter anderem auch eine frühkindliche Hirnschä- digung in Betracht zu ziehen ist und deshalb immer eine Diagnostik in dieser Richtung erfolgen sollte, was leider keineswegs immer ge- schieht. Ich habe darauf hingewie- sen, daß man sich davor hüten sollte, die Diagnose „Leichter früh- kindlicher Hirnschaden" zu stellen, wenn nicht eindeutige Symptome dafür vorliegen. Allerdings meine ich, daß ein entsprechend vorgebil-
deter Kollege in den meisten Fäl- len in der Lage sein sollte, das kli- nische Bild richtig einzuordnen.
Daß dazu eine detaillierte Erhe- bung biographischer Daten und eine gründliche Exploration des Familienmilieus Voraussetzung ist, schien mir selbstverständlich.
Ich bin mit Herrn Haas völlig einer Meinung, daß die exakte pathoge- netische Durchdringung des Pro- blems kein akademisches Bedürf- nis ist. Können doch therapeuti- sche Maßnahmen gezielt erst dann begonnen werden und erfolgver- sprechend sein, wenn die Ursa- chen für die Verhaltensauffälligkei- ten der Kinder erkannt sind. Und eine nicht seltene Ursache ist unbe- zweifelbar die frühkindliche Hirn- schädigung.
Man wird dem hier zur Rede ste- henden Problem sicher nicht ge- recht werden, wenn man auf ein bestimmtes Konzept oder theoreti- sches Modell fixiert ist.
Dr. med. Gunter Groß-Selbeck Universitäts-Kinderklinik Kiel Fröbelstraße 15/17, 2300 Kiel
Notizen
Lungenkrebs bei Frauen — Raucherinnen
am anfälligsten
Auf einer Tagung des American College of Chest Physicians in Anaheim, Kalifornien, erklärte Dr.
Joseph L. Andrews von der Leahy Clinic in Boston, daß sich die Zahl der Lungenkrebsfälle bei Frauen zwischen 1956 und 1972 stark er- höht hat, wobei Raucherinnen bei weitem am anfälligsten sind. Der Lungenkrebs nimmt bei Frauen ra- scher zu als bei Männern. Der An- teil weiblicher Lungenkrebspatien- ten wuchs von 13 Prozent der Ge- samtzahl im Jahre 1956 auf 39 Pro- zent 16 Jahre später, hat sich also verdreifacht. DGK/H
1170 Heft 17 vom 22. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT