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in neuer Weg ist immer auch eine Chance“ – be- reits mit der Auswahl dieses Mottos beweist die Autorin ihre eigene Urteils- unfähigkeit, wie dem ärztli- chen Leser bereits nach weni- gen Seiten des Buches klar wird. Insbesondere Pädiater und Allgemeinärzte möchten wir auf die Existenz dieses Laienbuchs aufmerksam ma- chen. Manche der dort zu findenden Ratschläge sind nicht nur abenteuerlich her- geleitet, sondern vor allem auch gefährlich.Therapie trotz ärztlicher Warnung
Leider scheinen sowohl das Buch als auch die Autorin einigermaßen bekannt zu sein, da uns innerhalb weni- ger Monate bereits zwei Fälle von Kindern bekannt wur- den, die durch Befolgen des Ratgebers schwere Schäden erlitten (Hypervitaminose D, schwere Hyperkalzämie mit typischen EKG-Veränderun- gen, Nephrokalzinose, Nie- reninsuffizienz und Gedeih- störung).
Im ersten Kapitel wird von der Autorin der Krankheits- verlauf des eigenen Sohnes geschildert. Symptome wie
„Steifmachen, Schreien, ver- mehrtes Schwitzen und fla- cher Hinterkopf“ hätten zur Recherche in einem medizini- schen Hausbuch und ihrer Verdachtsdiagnose Rachitis geführt. In Eigenregie sei die tägliche Vitamin-D-Dosis von 500 IE auf zunächst 2 000 IE, später auf 10 000 bis 20 000 IE erhöht worden, zusätzlich zu drei bis sechs Gramm Kal- zium. Diese Therapie sei trotz mehrfacher ärztlicher War- nung bis zum Alter von zwölf Jahren fortgeführt worden.
Die vier folgenden Kapitel beinhalten weitere haarsträu- bende und verantwortungs- lose Ratschläge der Autorin.
Wiederholt werden teils über 30 Jahre alte wissenschaft- liche Arbeiten zitiert, die Er- gebnisse aus dem Zusammen- hang gerissen und ohne Fach- verständnis falsch wiederge- geben. So sei das Schwitzen ihres Sohnes durch Kalzium-
mangel hervorgerufen, belegt durch eine Arbeit von 1976, in der gezeigt wurde, dass bei Ratten kalziumarme Diät die Körpertemperatur erhöhe.
Fieber sei also die Extrem- form von Kalziummangel.
Pathophysiologische Zusam- menhänge nicht begriffen Die sowohl bei Osteoporose als auch bei Zerebralparese auftretende Skelettverfor- mung belege die Nützlichkeit einer Vitamin-D- und Kal- zium-Therapie. Es werden auch genaue Empfehlungen gegeben: „Gerade bei Kin- dern mit Hyperaktivität . . . sollte (man) daher zu Beginn nicht mehr als 2 000 IE und frühestens nach einer Woche
5 000 IE Vitamin D einsetzen, dabei auf reichliche Kalzium- ergänzung (zur freien Verfü- gung) achten.“ Und: „Bei sonst gesunden Kindern ha- ben sich 5 000 IE Vitamin D und 1 000 bis 1 200 Milli- gramm Kalzium bei Bettnäs- sen bewährt. Und da für den Stoffwechsel des Erwachse- nen keine anderen Grundre- geln gelten als für das Kind, kann man jedermann nur Mut machen, bei Schlaflosig- keit und Inkontinenz einmal diesen Weg zu versuchen.“
Blutuntersuchungen seien zur Diagnose von Kalzium- Mangel nicht nützlich, da auf- grund des verstärkten Para- thormonsignals das Serum- kalzium nicht erniedrigt sei.
„. . . wird verständlich, dass trotz eindeutiger und schwe- rer Mangelsymptomatik des Kindes Blutuntersuchungen fast immer ohne jeden Be- fund sind, und bei kleinen Kindern kann aus eigener Erfahrung schon wegen der damit verbundenen Quälerei für das Kind von Blutunter- suchungen nur abgeraten werden.“ Über Röntgendia- gnostik bei Verdacht auf Rachitis wird von der Autorin nach Zitat einer Arbeit von 1967 geurteilt: „Die Suche nach Mängeln oder Über- schüssen per Röntgenunter- suchung ist daher immer, nicht nur beim Säugling, obsolet.“ Zusammenfassend stellt die Autorin fest: „Die Aufklärung über das Vor- handensein eventueller Män- gel . . . wäre einfacher und kostensparender dadurch zu erbringen, dass man testet, ob mit einer Zulage des gesuch- ten Stoffes Verbesserungen zu erreichen sind oder nicht . . .“ Weitere gefährliche Aussagen lauten: „Dabei besteht keinerlei wirkliche Gefahr, irgendwelche Dauer- schäden . . . zu initiieren, denn bei Unterbrechung der Vit- amin-D-Zufuhr ist längstens innerhalb von 24 Stunden . . . alles wieder beim Alten.“
Und: „Die Korrektur einer möglichen Überdosierung von Vitamin D besteht daher darin, dass man Kalzi- um erhöht . . .“ Und weiter:
„ . . . findet man die richtige Menge der täglichen Kalk- tabletten relativ einfach, in- dem man sie den Kindern frei zur Verfügung stellt.“ Simple pathophysiologische Zusam- menhänge sind trotz Konsul- tation einschlägiger Fachlite- ratur zu Pädiatrie, Neurologie und Biochemie von der Auto- rin offensichtlich nicht begrif- fen worden: „Der unter dem Einfluss des Parathormons erhöhte Blutkalziumspiegel macht . . . mindestens zwei Dinge sehr unwahrscheinlich, a) dass ein hoher Kalzium- spiegel des Blutes Überschuss signalisiert – im Gegenteil, er signalisiert Mangel, b) dass somit die Empfehlung, bei überhöhtem Kalziumspiegel . . . Kalzium zu meiden ist, hilfreich ist – im Gegenteil, sie ist gefährlich.“
Potenzielle Gefährdung von Kindern
Wegen der potenziellen Ge- fährdung von Kindern durch das Buch sollten betroffe- ne Familien in Arztpraxen und Krankenhausambulan- zen aufmerken. Man fragt sich, inwieweit der Verlag seiner Sorgfaltspflicht (den Buchinhalt zu prüfen) über- haupt nachgekommen ist.
Der Verlag trägt schließlich bei der Veröffentlichung von solchen Inhalten nicht nur eine hohe Verantwortung, sondern muss hier auch mit Regressforderungen von El- tern geschädigter Kinder rechnen.
Dr. med. Bettina Zimmermann1, Prof. Dr. med. Helmuth-Günther Dörr1, Prof. Dr. med. Jürgen Dip- pell2, Dr. med. Jens Gierich3 Korrespondenzautor:
Priv.-Doz. Dr. med. Jörg Dötsch Klinik für Kinder und Jugendliche der Universität Erlangen-Nürnberg Loschgestraße 15
91052 Erlangen
1Klinik für Kinder und Jugendliche der Universität Erlangen-Nürnberg, Direktor:
Prof. Dr. med. Wolfgang Rascher
2Clementine Kinderhospital, Frankfurt/
Main
3Stiftung Deutsche Klinik für Diagnostik, Fachbereich Kinderheilkunde und Jugend- medizin, Wiesbaden
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A258 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 530. Januar 2004
B Ü C H E R
Gesundheitsratgeber
Eine Vielzahl haarsträubender und verantwortungsloser Ratschläge
Silke I. Herzog Muethen: Mein Kind war Spastiker. Vermeidbare Behinderung, vermeidbare (Kinder)krankheiten. David Verlag, Münster, 1999, 116 Seiten, broschiert, 15 A