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Archiv "Medikalisierung und Krankheitsidentität" (04.05.2012)

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Deutsches Ärzteblatt

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Heft 18

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4. Mai 2012 339

M E D I Z I N

schaftliche Kriterien (unter anderem Reliabilität, Vali- dität) fixierte Medizin. Einerseits besteht die Gefahr, dass „kundenfreundlich“ ausgerichtete Kollegen unkri- tisch ins Burn-out-Horn blasen, was kurzfristig den Umsatz steigern mag und langfristig zum Verlust der langjährig erarbeiteten diagnostischen und therapeuti- schen Standards führt. Andererseits wird unübersehbar, wie weit sich aktuelle psychiatrische ICD-10-Diagno- sen von den Bedürfnissen Betroffener entfernt haben, die (zu Recht) eben nicht nur ein Label für Syndrome sondern Erklärungen für erlebtes Leid wünschen. Die Herausforderung besteht darin, medizinische Notwen- digkeiten und Patienten-Bedürfnisse zu einem zeitge- mäßen Ausgleich zu bringen.

DOI: 10.3238/arztebl.2012.0338c

LITERATUR

1. Kaschka WP, Korczak D, Broich K: Burnout—a fashionable diagnosis.

Dtsch Arztebl Int 2011; 108(46): 781–7.

Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer Prof. Dr. phil. Dr. med. Andreas Hillert Schön Klinik Roseneck

Prien am Chiemsee

BaSchuhmann@Schoen-Kliniken.de

Interessenkonflikt

Prof. Voldenholzer erhielt Honorare für die Vorbereitung von wissenschaf - tlichen Fortbildungsveranstaltungen von Lundbeck, Pfizer, Lily und Aphalen.

Des Weiteren Honorare für Gutachtertätigkeiten von der Firma BMS.

Für ein von ihm initiiertes Forschungsvorhaben erhielt er Gelder von Lundbeck

Prof. Hillert erhielt Gelder für ein von ihm initiiertes Forschungsvorhaben von der Deutschen Rentenversicherung und der Bosch-Stiftung.

Ätiopathogenese berücksichtigen

Zu Ihrem informativen Artikel möchte ich gerne als tie- fenpsychologisch orientierter ärztlicher Psychothera- peut etwas ergänzen:

Es ist mir ein Anliegen, nach den Ursachen der Be- schwerden („Ätiopathogenese“) eines Burn-out zu for- schen. Diese Ursachen können auch im sogenannten

„intrapsychischen Konflikt“ des betreffenden Men- schen liegen. So habe ich in meiner Praxis immer wie- der Menschen erlebt, die unbewusst Erfahrungen aus ihrer frühen Lebensgeschichte (zum Beispiel mangelnd erlebte Wertschätzung durch nahe Bezugspersonen) am Arbeitsplatz wiederholen. Aktuell kann dies dann durch übermäßigen Einsatz und überhöhte Leistungsbereit- schaft – quasi in der Hoffnung, doch noch das ersehnte Lob und die Anerkennung zu bekommen – zur Er- schöpfung führen.

Diese „Psychodynamik“ ist nur eine Möglichkeit von vielen anderen, die mit zum Burn-out führen kön- nen.

Warum schaut man also nicht mal nach den Ursa- chen für dieses selbstschädigende Verhalten – zum Bei- spiel in einer tiefenpsychologisch fundierten Psycho- therapie?

Dann wird man bei gründlicher Anamnese und Be- rücksichtigung der Gefühle und des Verhaltens des Pa-

tienten in der Therapiestunde in Bezug auf den Thera- peuten („Übertragung“) fündig werden. Ziele sind, ge- meinsam mit dem Patienten Schlüssel zur Selbster- kenntnis zu erarbeiten. Damit gibt man ihm eine Mög- lichkeit zur Befreiung von alten Verhaltensmustern mit nachfolgendem Rückgang der Burn-out-Symptomatik.

DOI: 10.3238/arztebl.2012.0339a

LITERATUR

1. Kaschka WP, Korczak D, Broich K: Burnout—a fashionable diagnosis.

Dtsch Arztebl Int 2011; 108(46): 781–7.

Dr. med. Dieter Wankelmuth Ostlandstraße 2

88529 Zwiefalten

wankelmuth.psychotherapie@t-online.de

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Medikalisierung und Krankheitsidentität

Wenn die Autoren von der Modediagnose Burn-out sprechen, schwingt hierbei mit, dass gesellschaftliche Faktoren zu der Verbreitung dieses Begriffes beitra- gen. Zwei Konzepte können hilfreich sein, die in den letzten Jahren in der (Medizin-)Soziologie entwickelt worden sind: Medikalisierung und Krankheitsidenti- tät. Unter Medikalisierung wird ein Prozess verstan- den, in dessen Verlauf ein gesellschaftliches Phäno- men, das bis dahin nicht ausschließlich als medizi- nisch relevant wahrgenommen worden ist, nunmehr in medizinischen Termini definiert und/oder mit medizi- nischen Mitteln behandelt wird (1). Neuere Analysen von Medikalisierungsvorgängen haben deutlich ge- macht, dass nichtärztliche gesellschaftliche Bereiche eine zunehmend wichtige Rolle spielen, während die Ärzteschaft der Ausweitung des medizinischen Defini- tionsbereichs oft mit gemischten Gefühlen gegenüber- steht. Das Konzept der Krankheitsidentität (illness identity) macht deutlich, wie sich Krankheitsidentitä- ten im Zusammenspiel von individuellen (Lei- dens-)Erfahrungen und öffentlichen, vor allem durch die Medien verbreiteten Bildern und Deutungen be- stimmter Befindlichkeiten oder Krankheitszustände herausbilden (2) und in ein spezifisches Krankheits- Narrativ münden.

Das Ziel dieser, in jedem Fall zusätzlichen Betrach- tungsebene, ist es, zu einem noch besseren Verständnis der sehr heterogenen Ursachen und Hintergründe der verstärkten Präsenz des Burn-out-Syndroms zu gelan- gen. Beispielsweise könnten wirksame Gegenmaßnah- men erschwert werden, wenn das „Problem“ nur als ein individuelles und ausschließlich mit medizinischen Mitteln zu behandelndes wahrgenommen wird. Wichtig ist es zu verstehen, wie neuartige Anforderungen aus der Arbeitswelt in individuelle Selbstdeutungen und Identitätsentwürfe übersetzt werden (3) und welche problematische Rolle hierbei gesellschaftlich erzeugte und diskursiv verbreitete Leitbilder spielen können.

Gerade bei einer übermäßig starken und aus persönli-

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chen Gründen nicht ausreichend reflektierten Betonung von Konkurrenzfähigkeit und marktkonformem Ver- halten können diese verinnerlichten Leitbilder zur ge- sundheitsschädigenden Überschreitung eigener Belas- tungsgrenzen beitragen und den jeweiligen Führungs- stil entsprechend beeinflussen.

DOI: 10.3238/arztebl.2012.0339b

LITERATUR

1. Conrad P, Barker KK: The Social Construction of Illness. Key Insights and Policy Implications. In: Journal of Health and Social Behavior 2010; 51: suppl: S67–79.

2. Barker KK: Self-Help Literature and the Making of an Illness Identity:

The Case of Fibromyalgia Syndrome (FMS). In: Social Problems 2002; 49: 279–300.

3. Sennett R: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus.

Berlin: Berlin-Verlag, 1998.

4. Kaschka WP, Korczak D, Broich K: Burnout—a fashionable diagnosis.

Dtsch Arztebl Int 2011; 108(46): 781–7.

PD Dr. phil. Peter Wehling Dr. rer. pol. Willy Viehöver

Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Soziologie, Universität Augsburg

Prof. Dr. med. Harald Gündel

Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm

Harald.Guendel@uniklinik-ulm.de

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Lückenhafte Übersichtsarbeit

Lückenhaft ist diese Arbeit, weil wichtige Aspekte der neueren biopsychologischen und naturwissenschaftli- chen Medizin nicht berücksichtigt sind.

Erschöpfungszeichen sind zwar Kernmerkmale so- wohl von Burn-out als auch Depression, und diese Er- krankungen werden häufig als eine einzige klinische Entität zusammengefasst. Dies ist jedoch nicht korrekt, weil sich die Depression durch zahlreiche, deutlich an- dersartige Symptome und nicht ausschließlich durch

„Erschöpfung“ definiert. Aus biopsychologischer Sicht kann man „Burn-out“ heute sehr wohl klinisch charak- terisieren durch

Ausschluss einer Depression und Fatigue (durch die klinische Symptomatik)

Charakterisierung der „Erschöpfung“ durch bio- typische somatische Muster, die durch Bestim- mung des Tagesprofils von freiem Cortisol im Speichel, Messung der Neurotransmitter Noradre- nalin und Serotonin im Urin, sowie durch eine Qualifizierung des autonomen Nervensystems mittels HRV (Herzratenvariabilität) und einem ausführlichen Fragebogentest möglich ist.

Dieses Verfahren wurde unabhängig sowohl von Hellhammer et al. (1) in Form des „Neuropattern“, als auch in etwas anderer Form von unserer Arbeitsgruppe entwickelt (2). Auf der Grundlage dieser Bestimmun- gen findet man vier charakteristische Untergruppen von Burn-out:

Subjektive „Erschöpfung“, aber biologische Res- sourcen intakt

übersteigerter Verbrauch von Noradrenalin

Minderung der „Stressbremse“ Serotonin

Erschöpfung der adrenalen Cortisolproduktion.

Diese Differenzierung eröffnet gezielte individuelle integrative Maßnahmen wie Verhaltenstherapie, Stress- verarbeitungs- und Entspannungstechniken, sowie Sub- stitution defizitärer biologischer Substrate. Auch soll- ten epi/genetische, neuro-endokrine-immunologische Parameter, die nachhaltig wirksam sind, in die Betrach- tung einbezogen werden.

Wir sollten Burn-out differenzierter betrachten und im Hinblick auf die rasant zunehmenden psychischen Erkrankungen mit modernen naturwissenschaftlich- holistischen Methoden angehen.

DOI: 10.3238/arztebl.2012.0340a

LITERATUR

1. Hellhammer D: Neuropattern: A new translational tool to detect and treat stress pathology. I. Strategical consideration. Stress 2011 (Epub ahead of print).

2. Wolf AS: Burnout-Syndrom: Es kann jeden treffen. Gynäkologie und- Geburtshilfe 2011; 16: 2–4.

3. Kaschka WP, Korczak D, Broich K: Burnout—a fashionable diagnosis.

Dtsch Arztebl Int 2011; 108(46): 781–7.

Prof. Dr. med. Alfred Wolf Elchingen

drfredwolf@yourprevention.de

Interessenkonflikt

Prof. Wolf erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Schlusswort

Unser Beitrag hat eine engagierte und kontroverse Dis- kussion ausgelöst. Dies unterstreicht die Relevanz und Aktualität des Themas.

Herr Kollege Breitenbürger zeigt in seinem Leser- brief zu Recht eine Reihe von Umständen beziehungs- weise Rahmenbedingungen auf, die unter anderem in der Berufsgruppe der Ärzte eine Burn-out-Symptoma- tik begünstigen können. Was mögliche Therapieansätze angeht, so wird in unserem Beitrag von einem „schulen- übergreifenden Ansatz“ gesprochen (S. 786). Darunter lassen sich die von Herrn Dr. Wankelmuth mitgeteilten persönlichen Erfahrungen mit der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie durchaus subsumieren.

Zu Herrn Kollegen Wolf ist anzumerken, dass das Hauptanliegen unseres Beitrags nicht in einer umfas- senden Darstellung der neurobiologischen Grundlagen von Burn-out zu sehen ist, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl auch verfrüht wäre, weil die Datenlage noch sehr lückenhaft ist. Wir möchten aber darauf hin- weisen, dass der Erstautor des Artikels mit seiner Ar- beitsgruppe bereits vor Jahren Untersuchungen zur Funktion des autonomen Nervensystems bei affektiven Erkrankungen anhand der Herzratenvariabilität (HRV) durchgeführt hat (siehe unter anderem [1–3]). Die Litera- turrecherche zu dem referierten HTA-Bericht (4) wurde

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