Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 108|
Heft 39|
30. September 2011 A 2039 Autobiografisch gefärbt er-zählt Eva Lohmann die Ge- schichte der 27-jährigen Milena Winter, die nach ei- nem Zusammenbruch mit der Diagnose Depression und Burn-out in eine psy- chosomatische Klinik ein- gewiesen wird. Sehr realis- tisch schildert Lohmann die ersten Tage in der Klinik.
Eher ein Hotel denn ein Krankenhaus, findet die junge Patientin. Auch Hor- rorszenarien mit hygieni- schen Linoleumböden, ge- stärkten Zwangsjacken und Gummizellen sucht sie hier vergeblich. Vielmehr erlebt sie eine alltägliche, unbeschwerte Betrieb- ROMAN
Ernstes Thema heiter erzählt
samkeit mit Lachen, Lesen, Surfen im Internet und Ein- kaufsbummeln wie in ei- nem Ferienlager. Die Klinik mutiert zum Zuhause. Be - unruhigend schnell kommt man sich in dieser „Käse- glocke“ näher und kann sich „wattegedämpft“ offen über Themen austauschen, die außerhalb der schützen- den Klinikmauern nie zur Sprache kämen. Unter anti- depressiver Therapie kom- men in zahlreichen Einzelsitzungen und Gruppentherapien alle Themen
„Am Anfang war das Wort.“ Das gilt für das Buch der Bücher, die Bibel. Und für den Beginn jeder (gelingenden) Kontaktaufnahme von Arzt und Patient. Hier wie dort sind alle Worte bedeutungsschwer, geben sie doch alle Facetten menschlichen Seins und Daseins in der Welt wieder: Freude und Leid, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Werden und Vergehen, Vertrauen und Betrug, Liebe und Hass, in ste- tem Wechsel, ohne Ausnahme. Die- sen Wechselfällen unseres Lebens widmen sich „Predigten“, deren Botschaften der Bibel entspringen.
Der ehemalige Pfarrer des (Wein-)Ortes Kenzingen hat mit Beginn seines keineswegs gleich- förmigen Ruhestandes einige seiner Predigten mit dem Titel „Heraus- forderungen“ herausgegeben. De- ren Themen sind: Kunst und Kultur, Ökumene sowie die „besonderen“
Festtage des Kirchenjahres. Zu Letz- teren gibt es je fünf Beispiele, ins- gesamt finden sich auf 299 Seiten PREDIGTEN
Gespräche über Sinnfragen
43 eindrucksvolle Predigten, die herausfordern. Somit ist es kein
„Lese“-, vielmehr ein Arbeitsbuch, das zur einer intensiven Befassung mit den jeweiligen Botschaften der Predigten anregt.
Insbesondere die Überlegungen zum Karfreitag und dem Ewigkeits- sonntag (Totensonntag) wecken ärztliches Interesse. Bringen diese doch all das zur Sprache, was die (letzte) Grenzsituation menschli- chen Lebens kennzeichnet: Todes-
stunden, denen niemand zu entrin- nen vermag. Trotz dieser „Ausweg- losigkeit“ liegt in ihnen (für Gläu - bige) auch die Heilsbotschaft, die insbesondere zu Ostern „auflebt“.
Schneider ist es hervorragend gelungen, mit diesen Predigten „he- rauszufordern“: zum Nach-, Mit- und Weiterdenken. Sich mit auch
„unbequemen“ Wahrheiten ausei- nanderzusetzen. Aber ebenso Le- bensfreude aus und mit vollem Her- zen genießen zu können. Der be- sondere Reiz, sich mit Schneiders Predigten zu befassen, liegt an sei- ner gefälligen, klaren Sprache, sei- ner Lebenserfahrung, seiner „seel- sorgerischen“ Expertise, seinen grenzüberschreitenden Erfahrungen und Aktivitäten mit einer elsässi- schen Kirchengemeinde, insbeson- dere aber in den vielfältigsten He- rausforderungen, aus denen den In- teressierten stets neue erwachsen können. Der bio-, psycho-, sozial- metaphysische Horizont lässt sich so auf wunderbare Weise für jeden ausdehnen.
Gespräche über Sinnfragen kom- men in unserem Alltag kaum noch vor. In den „Herausforderungen“
finden wir sie. Hans-Walter Krannich Hanns-Heinrich
Schneider: Heraus- forderungen. Predig- ten zu den Festen des Kirchenjahres, Kunst und Kultur. Fromm, Saarbrücken 2011, 321 Seiten, kartoniert, 58 Euro
Eva Lohmann: Acht Wochen verrückt.
Roman. Piper, München, Zürich 2011, 194 Seiten, gebunden, 16,95 Euro
i i
auf den Tisch, bis Milena eine neue Sichtweise auf ihr Leben gewinnt und als erfolgreich therapiert ent- lassen werden kann.
Anrührend ehrlich schreibt die ehemalige Werbetexterin Eva Loh- mann über den Infarkt der Seele, der im Gegensatz zum Herz- oder Hirninfarkt in der Bevölkerung im- mer noch mit einem gewissen Stig- ma behaftet ist. Auf heiter gelassene Art räumt sie mit vielen Vorurteilen auf. Ihre Sprache ist offen, schnör- kellos und bildhaft. Da werden Ge- fühle in die Mitte geschmissen und vom Therapeuten aufgefangen. Be- griffe wie Klapse, Psychos, Irre und Verrückte werden bewusst provoka- tiv verwendet. „Acht Wochen ver- rückt“ ist somit ein herrlich erfri- schender Roman zu einem ernsten medizinischen Thema und ein wichtiger Beitrag zur Gleichstel- lung seelischer Erkrankungen in der Gesellschaft. Ursula Kempf