101
Das Sastitantra^).
Von F. Otto Schräder.
I.
Wenn in einem Werke der Yoga-Literatur*) das §astitantra
nicht unter diesem Namen sondern schlechthin als „das Öästra" zitiert wird, und wenn dasselbe Zitat in Väcaspati's Bhämati") bei der Be¬
sprechung des Yoga und als der Ausspruch eines yogaäOstram
vyutpädayitä erscheint, so möchte man glauben, daß jenes ver¬
schollene Lehrbuch der Sämkhya - Philosophie für den Yoga be¬
trächtlich mehr übrig gehabt habe als seine angeblich vollständige Inhaltsangabe: die Sämkhya-Kärikä*).
Verstärkt wird dieser Eindruck durch die heiligen Bücher der
Jainas "). Man vergleiche die folgenden beiden Stellen *): „. . . vdi-
sesiam, vuddha-vayanam , kävilam, vesiam, logäyatam, sat-
thitantam, mädharam, puränam . . und „samkhä jogl'^)
kävilä, hhiuvvü, harnsä, paramahamsä . . .". Es entsprechen
einander also kävilam und kävilä, satthitantam und samkhä jogi.
Leider fehlt der Kommentar zur ersten Stelle; zur zweiten aber
1) Wesentlich identisch mit einem in der Sitzung vom 11. April 1912 der Indischen Sektion des Internationalen Orientalisten-Kongresses in Athen gehaltenen Vortrag.
2) VySsa's BhSsya zu Yo. Sü. IV, 13.
3) Zu Bra. Sü. II, 1, 3; vgl. Tuien, Toga, p. 15.
4) Saptatyäm kila ye'rthäs te'rthäh krtmasya ^aßtitantrasya , Sä.
Kä. 72. In der KärikS ist vom Yoga nur andeutungsweise die Rede, und zwar wird derselbe {aiivarya) als der Erlösung hinderlich betrachtet (Vers 63).
5) Vgl. Garbe, Sämkhya-Philosophie, p. 58/59: „Wenn aber in den heiligen Texten der Jaina das Satthitamtaip neben dem Kävilam (= skt. Käpilam, was für ein Sämkbya-Werk könnte damit gemeint sein?) angeführt wird' usw.
(der Schluß ist verfehlt, wegen vaisesiam usw.).
6) Die erste steht im Anuyogadvära-Sütra, ed. Calc. p. 92 (Berl. HSS. V, p. 697), die zweite im Aupapätika-Sütra, ed. Leumann § 76 (ed. Calc. p. 268;
Berl. HSS. V, p. 539; Ind. Stud. XVI, p. 379).
7) Daß diese beiden hier als Vertreter eines und desselben Systems, eben des Sämkhya-Yoga , und nicht mit dem Kommentator einzeln zu zählen sind, ergibt sich aus der Zahl (beide Male 8, nicht 9) der in den folgenden beiden Listen genannten Hauptvertreter jener brahmanischen Asketenorden.
102 Schroder, Das ISastitantra.
bemerkt Abhayadeva, die Käpilas seien die atheistischen Sämkhyas*),
die Särakhyas (und Yogas)*) dagegen jene, welche prakrti und
tdvara als die Ursachen der Welt betrachteten"). Es scheint dem¬
nach*), daß den Verfassern bezw. Bearbeitern des Jaina-Siddhänta das
6 §ast;itantra als das System oder Lehrbuch des Sämkhya-Yoga galt.
Unter diesen Umständen dürfte es von Interesse sein, zu er¬
fahren, daß es nach der ausführlichen Nachricht einer andern häre¬
tischen Sekte, nämlich der der Päncarätras, ein aus sechzig Lehr-
begriflFen gebildetes und danach genanntes System des Sämkhya-
10 Yoga tatsächlich gegeben hat.
n.
Die Sainhitäa der Päncarätras*) sind das Bindeglied zwischen
der Bhagavadgltä (bezw. dem Näräyaniya) und dem modernen
Visnuismus : einige sind ganz späten Datums , so die kürzlich ver-
18 öfifentlichte Brhad-Brahma-Samhitä (mit Prophezeiungen auf Kämä-
nujäcärya) *); andere, obwohl älter, zeigen gleichfalls noch süd¬
indischen Ursprung, z. B. die in Yämunäcärya's Ägamaprämänya
(10. Jahrh.) öfters zitierte lävara-Sarnhitä ; wieder andere reichen
heran an die Zeit des Mahäbhärata, wenn nicht hinein in dieselbe.
20 Zu den letzteren gehört die für unser Problem in Betracht kom¬
mende Ahirbudhnya-Samhitä, ein aus 60 Adhyäyas bestehendes
Ölokawerk, dessen relativ hohes Alter sich u. a. bekundet durch
seinen auffallend unsektarischen Charakter '). Der uns interessierende
Abschnitt dieses Werkes steht , vrie aus folgendem ersichtlich , in
28 unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mahäbhärata.
Der 351(349)ste Adhyäya des Öäntiparvan des Mahäbhärata
beginnt mit den Worten:
Janamejaya uväca \
Sämkhyam yogah päricarätram vedäranyakam eva ca |
1) Kapilo devatä yefäm: sämkhya eva nirisvarä ity arthah.
2) Vgl. p. 101 Anm. 7. ' ' •
3) Buddhyahamkärädikäryagrämavädind^i, prakrtiävarayor jagatkä- ranatvam ahhyupagatäh.
i) Trotz der anderswo (Aup. Sü. , ed. Calc. p. 270; Bhäg. Sü., ed. Calc.
p. 148; vgl. Stevenson, Kalpasütra. p. 29) auftretenden Erklärung: satthitanta- visäradä = käpiliyatantrapanditäh. Denn diese Erklärung stebt im Wider¬
spruch zu unserer ersten Stelle, wo Jc^vilam und satthitantam zweierlei sind.
Die Kommentatoren waren eben geneigt, alles als käpillya zu erklären, was mit dem Sämkhya zusammenzuhängen schien.
5) S. hierüber jetzt A. Govindäcärya Svämin in JRAS. 1911, p. 935 f.
In der Liste der Pädma-Saqihitä sind in Wahrheit mehr als 108, nämlich III (bezw. 112) SaipbitSs aufgezählt. Noch weit mehr Namen (ca. 220) ergeben sich, wenn man alle Listen berücksichtigt, und noch höher steigt die Zahl durcb Zitate. Die erhaltenen Saiphitäs schätze ich auf etwa 40.
6) Änandäsrama-Serie No. 68.
7) Eine von mir unternommene Ausgabe dieser SatnhitS ist im Druck.
Schräder, Das Sastitantra. 103
jnanam/ etäni, brahmarse, lokesu pracaranti ha ||
kim etäny ekanisthäni prthan-nisthäni vä, mune | usw.
Es folgt dann VaiÄampäyana's Antwort, aus der u. a. hervor¬
geht, daß dieser nicht wie Janamejaya 4, sondern 5 Erkenntniswege
(jnänäni) annimmt (Vers 64): 5
Sämkhyam yogah päricarätram vedak padupatam tathä |
jnänäny etäni, räjarse, viddhi nänä-matäni vai ||
Eben diese fünf Systeme bilden nun das Thema des zwölften
Adhyäya der Ahirbudhnya - Samhitä. Auf die Bitte zu Anfang
desselben : lo
Tragt särnkhyarn tathä yogasästram päsupatam tathä |
sättvatani ceti tadrüparn drotum icchämy ahani, prabho \\
folgt die Erklärung der fünf Systeme, deren Inhalt dargelegt wird
durch Aufzählung ihrer (von der Trayl abgesehen) tantra, kända
oder samhitä genannten Hauptbegrifie, und zwar wie folgt. 15
Zunächst wird die Trayi erklärt durch Aufzählung der vier
Veden*), der Anzahl ihrer Schulen, und der 21 Hilfswissenschaften,
von kalpa und vyäkarana bis danda-niti und värttä.
Es folgt die Beschreibung des Sämkhya-Sj'stems , worauf ich
zurückkomme , und dann die des Yoga. Zwei Yoga-Systeme (dve 20
yogasainhite) , so heißt es , habe Hiranyagarbha zu Anfang ver¬
kündigt, nämlich den Nirodha-Yoga und den Karma-Yoga. Von
diesen hat der erste die folgenden 12 „Tantras" : ahga, dosa, upa- sa-rga, adhislhäna, ädhära , bahistattva, rikta-yoga, pürna-yoga,
siddhi-yoga (dreifach) und moksa. Der Karma-Yoga aber zerfällt 25
in 4 „Sarnhitäs", nämlich die nänäkarmamayi und ekakarmamayt mit je einer „äußeren" und einer „inneren" Form (rüpa)-).
Das Pääupata-System — tantram padupatam näma — be¬
steht aus 8 „Kändas": pati, padu , päda, duddha • caryä , misra-
caryä, deva, dllcsä und säyujya. 30
Das Sättvata-System endlich besteht aus 10 „Sarnhitäs": bha-
gavat, karma, vidyä, käla, kartavyä, vaisesiki kriyä, samyama,
cintä, marga und moksa.
Das an zweiter Stelle beschriebene Sämkhya-System zeigt sich
in folgender Gestalt: 30
Sasti-bhedam Tantrarn Sä in khya in näma.
Dvätrmsad-bhedam Fräkrtain Astävimäati-bhedam Vaikrtam
Mandalam. Mandalam.
1. brahma-tantram 1—5. krtya-kändäni
2. purusa-tantram 6. bhoga-kändam 40
1) kärya-hhedät traißtve 'pi caturdhä sä prakirtitä.
2) Es sei iiier erinnert an Säntiparvan 308 (306), Si. 7 und 8, wo es heifit, daß die Yogas einen dvividham dhyänam unterscheiden, nämlich ekä-
gratä ca manasah pränäyämas tathaiva ca.
104 Schräder, Das ^astitantra.
3.
4.
5, 6—8,
9, 10.
11 12,
äakti-tantram niyati- tantram Icäla-tantram guna-tanträni aksara- tantram präna-tantram
kartr-tantram sämi-tantram jnäna- tantr än i
kriyä-tanträni mäirä- tantr äni bküta-tanträni
7. vrtta-kändam 8—12. klesa-kandani
15 lü 5
13—17.
18—22.
23—27.
28- 82.
13—15. pramäna-kändüni 16. khyäti-kändam 17. vairägya-kändam
18. dharma-kän dam
19. aisvarya-kändam 20. guna-kändam 21. linga-Icändam 22. drsti-kändam 23. änudrävika-kändam 24. duhkha-kändam 25. siddhi-kändam 26. kasäya-kändam 27. samaya-kändam 28. moksa-kändam
Betrachten wir diese Tabelle näher, so fällt zunächst auf, daß
die Ausdrücke tantra und kända hier offenbar synonym sind. Man
möchte hieraus schließen , daß das Sastitantra sowohl ein System
20 als ein Lehrbuch war, indem etwa das Lehrbuch dieses Namens
nacheinander, in ebensovielen wirklichen oder imaginären Ab¬
schnitten, die 60 Grundbegriffe des Systems behandelte.
Sodann springt in die Augen, daß präkrta hier ein umfassen¬
der und vaikrfa ein wesentlich anderer Begriff ist als im klassischen
25 Sämkhya. Alle 25 Prinzipien des letzteren nämlich und noch einige
außerdem fallen hier in das präkrtam mandalam oder den „zeugen¬
den Bereich", wogegen das vaikrtarn mandalam oder der „Bereich der Edukte" überhaupt keine der sogenannten Prinzipien enthält,
sondern nur die Hauptbegriffe einer praktischen Psychologie und
30 Ethik. Diese seelischen Erscheinungen sind vaikrta „auf Um-
wandelung beruhend, sekundär", insofern sie erst durch die Tätig¬
keit der zeugenden Prinzipien zustande kommen. Man könnte hier¬
nach die beiden mandala als das metaphysische und das empirische
oder auch das objektive und das subjektive unterscheiden*).
35 Wenden wir uns nun zur Betrachtung der Prinzipien im ein¬
zelnen, so wird wiederum sofort klar, daß wir es mit Sämkhya-
Yoga und nicht mit dem klassischen Sämkhya zu tun haben.
Denn das erste Prinzip ist brahman, worunter, da purusa und
prakrti erst an zweiter und dritter Stelle folgen , nichts anderes
■to gemeint sein kann als eine diesen oder den Purusas zugrunde liegende 1) Nicht ganz zutreffend wäre die Bezeichnung theoretischer und pralt- tischer Teil, jnäna-künda und karma-künda. Ähnlich der obigen Einteilung ist die des Tattvasamäsa , der nämlich mit den 25 Prinzipien beginnt (1—3) und dann aufzählt, was auf denselben beruht (4—24), wobei — im Gegensatz zu unserm Sa.«titantra — die 5 Väyus unter den abgeleiteten Dingen erscheinen • vgl. S. 105 Anm. 4.
Schräder, Das Sastitantra. 105
Einheit, das Absolute, der .Sechsundzwanzigste' der Moksadhai-ma- Philosophie; vgl. bes. Mahäbh. XII, 310 u. 352 (ed. Calc.).'
Hierzu stimmt, daß der Purusa (2) in diesem System nicht,
wie im klassischen Sämkhya, außerhalb des Bereiches der beiden
mandala^), sondern im präkrtarn mandalam liegt. Von diesem 5
Purusa wird also mit Mahäbh. XII, 315 zu sagen sein: kartrtväc
cäpi sargänärn sarga - dharmä tathocyate kartrtvät pra-
krttnäm ca tathä prakrti-dharmitä.
An Stelle von prakrti finden wir dakti (3): schwerlich aus
einem andem Grunde , als weil für ;ein dreisilbiges Wort an der lo
betreffenden Stelle kein Platz ist. Sakti wird ja öfter unter den
Synonyma von prakrti aufgezählt*).
Als Nr. 4 geben fünf von meinen sechs MSS. noch einmal ein
purusa-tantra. Falls diese Lesart richtig ist, müßten wir bei
Tantras 1 bis 4 an eine Kosmogonie ähnlich wie bei Manu I, 32 is
denken: Brahman (1) teilt sich in zwei Hälften, eine männliche
und eine weibliche (2, 3), aus deren Verbindung Viräj (4) hervor¬
geht. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich lediglich
um einen auf irriger Wiederholung beruhenden Schreibfehler, der
außer in dem zweitbesten meiner MSS. die ursprüngliche Lesart 20
niyati-tantra verdrängt hat. Niyati als besonderes Prinzip neben
käla (5) findet sich u. a. auch bei den Jainas.
Aksara (9) kann an dieser Stelle weder prakrti noch punum
bedeuten ; denn beide sind schon genannt (2, 3). Ich nehme daher
an , daß es sich um die Theorie vom sphota ") handelt , die nach 25
Sä. Sü. V, 57 von den Niriävara-Sätnkhyas bekämpft, von den Yogas
aber anerkannt wurde.
Fräna (10), der fünffache Träger des unbewußten Lebens,
gehört zu den Lehrbegriflfen , welche „vom spätem Sänkhyasystem
beseitigt wurden und auch schon im epischen Säiikhyam in den so
Hintergrund treten, während der Vedänta bis in die spätesten Zeiten
an ihnen festhielt'*).
Das kartr-tantra (11) und das sämi-tantra (12) bereiten
Schwierigkeiten, auch wenn man, was sich kaum vermeiden läßt,
sämi als aus svämi korrumpiert betrachtet. Da buddhi, aharn- 35
kära und manas sonst nicht genannt sind, müssen sie in diesen
beiden Tantras oder einem von ihnen stecken, aber wie? Drei
Erklärungen scheinen möglich.
1) Na prakrtir na vikrtih purufah, Sa Kä. 3.
2) Z. B. im Bliävapraliäsa , s. Sabdalialpadrama sub vocB iakti. — Mit den drei ersten Tantra lassen sich vergleichen die drei „Purusas' in Bhaga¬
vadgltä XV. 16—17: der purusottama oder paramätman (1), der aksara,
oder kütastha (2) und das ksara — sarväni bhütäni (3).
3) Varna-nityatva, Vijnänabhiksu zu Sä. Sü. V, 58 (das Sütra hat: äabda- nityatva).
i) Deussen, A. 6. d. Ph., I, 3, p. 69. Auch im Yoga werden die PrSnas nur als die gemeinsame Äußerung der drei inneren bezw. sämtlicher dreizehn Organe angesehen; Tuxen, Yoga p. 86. Vgl. S. 104 Anm. 1.
106 Schräder, Das Sastäantra.
Entweder ist svämin, wie im klassischen Sämkhya*), die Seele
in ihrer "Verbindung mit den Upädhis, d. h. als ^im. Dann wäre
kartr das antakkarana
Oder svämin ist buddhi, und kartr ist aharnkära -j- manas,
weil nämlich der Aharnkära ,als Ursprung des Manas der Schöpfer
der drei Welten' ist*), während seine anderen Produkte, die fünf
Sinne, als Außenorgane ihm weniger nahe stehen.
Oder, am wahrscheinlichsten: svämin ist manors, und kartr
ist buddhi + aharnkära. Hierzu vergleiche man Hopkins, Great
Epic, p. 133: ,When, as often happens, no egoism is mentioned, it
is because the intellect .... is held to imply egoism'; ferner die
folgenden Bezeichnungen für buddhi (d. h.: buddhi + aharnkära) im
ääntiparvan: bhüta-krt (194, 8), karma-buddhi (285, 13), kartr
(285, 16), karman (von Deussen mit „Täter' übersetzt; 285, 18)
und karmätman (351, 15); und betreffs des manors Stellen wie
ibid. 313, 20: indriyänärn tu sarvesäm iävaram mana ucyate^).
Das vaikrtam mandalam enthält eine Reihe von Prinzipien,
die in der Yoga - Philosophie eine größere Rolle spielen als im
Sämkhya, so die 5 Kleäas (8—12), die unter diesem Namen in der
Sämkhya-Literatur nicht vorzukommen scheinen.
Die 5 krtya-kändäni können schwerlich etwas anderes bedeuten
als die 5 karmayonayah von Tattvasamäsa 11.
Das bhoga-kända (6) muß sich auf den karma-vipäka beziehen.
Im vrtta-kända (7) könnte der „Zirkel' des Werdens und Ver¬
gehens (samcara, pratisamcara) beschrieben sein; vgl. Tattva¬
samäsa 5—6. Oder handelt es sich um die citta-vrttayah? oder
um die prätibha-värttäh , d. h. die zur clairvoyance gesteigerten sinnlichen Fähigkeiten*), von Yo. Sü. III, 36?
Wegen der kledäh (8—12) s. Yo. Sü. II, 3 f. Im Sämkhya ent¬
sprechen ihnen die 5 avidyäh.
Die pramänäni (13 —15) sind ebenfalls beiden Systemen
bekannt.
Khyäti (16) ist, wie ein Fragment Paiicaäikhas bezeugt, ein
alter Sämkhya-Terminus. Gemeint ist viveka-khyäti, Yo. Sü. IV, 28,
d. i. die Unterscheidung von sattva und purusa.
1) Garbe, SSmkhya-Philosophie, p. 305, 287 u. a.
2) Mabäbb. XIV, 41, 3 nacb Deussen, A. G. d. Ph., I, 3, p. 59.
3) Odor sollte irgend ein Zusammenhang bestehen zwischen unseren kartr¬
und sämi-tantra und den ahamkartr und samagrya genannten „Faktoren"
(gunäh) in Paücasikha's System, wie es uns in Mahäbh. XII, 322 vorgetragen wird in der aufsteigenden Reihe: Sinnesorgane, manas, buddhi, sattva, aharn¬
kära, samagrya usw.? Bemerkenswert ist, daß dieses im übrigen ziemlich ver¬
schiedene System ebensoviele Prinzipien zählt, wie unser präkrtam mandalam, nämlich 32, indem nämlich zu den 30 kaläh , aus denen das iarira besteht, nicht, wie Hopkins meint (Great Epic, p. 152) Gott hinzukommt (dieser scheint für Pancasikha nistattya zu sein), sondern die prakrtir avyaktä 114) und Am jna = purufa (Si. 175).
4) Deussen, A. G. d. Ph. I, 3, p. 533.
Schroder, Das §aftitantra. 107
Auf kkyäti folgt vairOgya (17), womit Yo. Sü. III, 49 und 50
zu vergleichen sind, wo auch zuerst khyäti und dann vairägya
genannt wird.
Kändas 16—19 erscheinen in etwas anderer Aufzählung, näm¬
lich als dharmo jnänam virägaidvaryam, in Sä. Kä. 23, wo sie für 6
die saftm-artige Erscheinungsform der buddhi erklärt werden.
Im guna-kända (20) werden offenbar die drei Gunas nicht
für sich betrachtet , wie im präkrtam mandalam (6—8), sondern
mit Bezug auf ihr gegenseitiges Verhältnis, ihre besondere An¬
ordnung*), im Individuum*). lo
Betreffs linga (21) verweise ich auf Sä. Kä. 40 f., und betreffs
drsti (22) und änudravika (23) auf Sä. Kä. 2 und Yo. Sü. I, 15.
Duhkha (24) scheint noch nicht, wie im klassischen Sämkhya,
als dreifach betrachtet zu werden.
Das siddhi-kända (25) muß sich, da die Siddhis des Yoga is
jedenfalls zum aiävarya-kända (19) gehören, auf die des Sämkhya
beziehen *).
Und so vnrd es sich beim kasäya-kända (26) wohl um die
den Siddhis entgegengesetzten Asiddhis oder, allgemeiner, um die
Viparyayas, Aäaktis und Tustis handeln. 20
Unter dem samaya-kända endlich stelle ich mir jene Kritik
der paravädäh vor, auf welche die Särnkhya-Kärikä in der letzten
Aryä als von ihr nicht berücksichtigt hinweist*).
III.
Es bleibt die Frage, was von diesem theistischen Sastitantra 25
im allgemeinen zu halten ist. Die folgenden Bemerkungen sind
gedacht als Beiträge zur Lösung dieser Frage.
1. Zur Erklärung des Namens §astitantra beruft sich Väcas-
patimiära*) nicht auf dieses selbst, sondern auf das Räjavärtika;
im Käjavärtika aber ist, wie wir jetzt durch Takakusu wissen*), so
die zitierte Stelle selbst gleichfalls ein Zitat: sie findet sich nämlich
in dem von Paramartha um 560 A. D. ins Chinesische übersetzten
Kommentar zur Sämkhya-Kärikä, und zwar zur Hälfte auch hier
als Zitat (ohne Quellenangabe)'). Mit andern Worten: schon um
500 A. D. hatte bei den Sämkhyas selbst der Name §astitantra ss
aufgehört, ohne weiteres verständlich zu sein. Et ist daher wenig
1) Samniveäa-vis'efa, Vyäsa zu Yo. Sü. IV, 13.
2) Oder stecken in diesem guna-kända die tuftayali des Säipkhya?
3) Tattvasamäsa 17, Sä. Kä. 51 usw.
4) Vgl. den Namen drfti-väda des verloren gegangenen zwölften Aügas der Jainas.
5) Komm, zu Sä.,Kä. 72.
6) Balletin de l'Ecole Fran(;aise d'ExtrIme Orient, 1904, p. 12.
7) Prof. Takakusu hatte die Güte, für mich die Stelle noch einmal nach¬
zusehen.
1 3
108 Schräder, Das So^H^t^riira.
wahrscheinlich, daß Väcaspatimiära (im 12. Jahrh. A. D.) das Sasti¬
tantra noch selbst gekannt habe*).
2. Das genannte Zitat ist verdächtig nicht nur weil es einen
Namen erklären will, sondern auch wegen dieser Erklärung selbst.
5 Denn da die 10 Mülikärthas das System tatsächlich erschöpfen*),
so können die 50 Bhävas nur hinzugefügt sein, um die Zahl 60 zu
erreichen. Hierfür spricht auch, daß der Aufzählung der Bhävas
ein völlig anderes Prinzip zugrundeliegt als der der Mülikärthas,
weshalb denn Näräyana-Tlrtha in seinem Kommentar zu unserer
10 Stelle (Sä. Kä. 72) zwar die Bhävas mit den Worten des Räja¬
värtika") anführt, die Mülikärthas aber ersetzt durch ,purusak
prakrtir buddhir ahartikäro gunäs trayah \ tanmätram indriyarn
bhütam'. Aber Näräyana's Erklärung ist vereinzelt und spät und
macht gleichfalls den Eindruck , dem Namen zuliebe erfunden zu
15 sein : denn es ist nicht einzusehen , warum die Gunas als 3, die
Tanmätras, Indriyas und Bhütas dagegen nur als je 1 zählen sollten.
Anders in der Ahirbudhnya-Samhitä: hier handelt es sich um die
Erklärung eines Systems, nicht eines Namens, und es ist nichts
Verdächtiges in der Erklärung, ja es scheint unmöglich, daß diese
20 Aufzählung von dem Autor der Samhitä erfunden sei.
3. Die Ahirbudhnya-Samhitä kennt nur e i n Särnkhya-System, das oben beschriebene, und sie nennt dieses : sastibhedatn tantrarn
särnkhyarn näma. Es werden also schon hier die Worte sasti-
bhedam tantram (= sastitantram) und särnkhyarn als synonym
25 gebraucht, und man braucht folglich Garbe*) nicht zuzugeben, daß
das Wort sastitantra in Kärikä 72 ,ein besonderes Werk" bedeute
und nicht ,eine Bezeichnung der Särpkhya-Lehre überhaupt" sei.
In der 70 sten Äryä wird die Lehre, die der Muni, d. h. Kapila,
dem Äsuri übergab und Asuri dem Pancasikha , tantra genannt,
30 d. h. offenbar scuntitantra, und die 71 ste Äryä hat hierfür siddhänta.
Die Erwähnung der äkhyäyikäh und paravädäh in Äryä 72 nötigt
gleichfalls nicht zur Annahme, daß ein bestimmtes Lehrbuch ge¬
meint sei. Denn in Mahäbhärata XII, 320, 164, wo an ein Lehr¬
buch nicht gedacht ist, heißt es ganz ähnlich:
35 nanu näma tvayä moksak krtsnah Pancaäikhäc chrutah \
sopäyak sopanisadah supäsangah sanidcayah \\
4. Der Name Sastitantra für Sämkhya scheint zurückzugehen
auf ein Lehrbuch dieses Namens. Denn es sind uns Zitate aus
einem solchen erhalten, und auch die chinesische Tradition*) be-
1) Sein und Vyäsa's Zitat (s. S. 101, Anm. 2 und 3) ist ein als das Rationale des Yoga berühmt gewordener Vers.
2) Garbe, SSmkhya-Philosophie, p. 196 f.
3) Jedoch ohne Nennung desselben („granthäntare').
4) Grundriß III, 4, p. 7; Sämkhya-Philosophie, p. 58. Vgl.. Max Müller, Six Systems, pp. 228 u. 271, und Deussen, A. G. d. Ph. I, 3, pp. 410 u. 466.
5) Takakusu, loc. cit., p. 59.
1 3
Schräder, Das Sastitantra. 109
richtet von einem Buch dieses Namens, das 60 000 Slokas gehabt
habe, und von Pancasikha verfaßt worden sei. Aber die Zahlen¬
angabe mag auf Phantasie beruhen (60 X 1000), und die Angabe
betreffs des Verfassers ist offenbar, wie die gleiche Angabe in der
Vidvattosini*), ein aus Kärikä 70 entstandener Irrtum. Denn alle 5
zwölf uns erhaltenen PaficaSikha-Fragmente sind in Prosa, und
überdies ist nach Väcaspati und Bälaräma-) Värsaganya der Ver¬
fasser des §astitantra. Von den beiden Zitaten aus dem §astitantra ist das eine metrisch, das andere nicht; ein drittes Zitat, das viel¬
leicht aucb hierher gehört»), ist gleichfalls nicht metrisch. Ebenso lo
sind in Prosa die beiden übrigen unter Värsaganya's Namen über¬
lieferten Zitate*).
5. Die Biographie Vasubandhus, nach Takakusu eine glaub¬
würdige Quelle, berichtet*), daß Vindhyaväsa (= ISvara-Kysna) die
Lehre seines Meisters Värsaganya«) vollständig geändert') und so- is
dann damit die Buddhisten angegriffen habe. Diese Nachricht ist
verständlich, wenn Värsaganya's Lehre unser oben beschriebenes
§astitantra des Sämkhya-Yoga war. Man könnte dann nämlich
sagen: die Buddhisten rühmten sich, die Welt ohne Zuhilfenahme
der widerspruchsvollen theistischen Hypothese erklären zu können, so
und die Mimämsakas taten ein Gleiches; daher ISvara - Krsna
ebenfalls als Moderner auftreten zu müssen glaubte, unter Preis¬
gabe der theistischen Bestandteile des ihm überlieferten Systems.
Und man könnte weiter darauf hinweisen, daß nicht allein Värsa¬
ganya als Verkünder ies theistischen Sastitantra, sondern auch der »5
einzige seiner Vorgänger, von dessen Lehre uns Einzelheiten er¬
halten sind, nämlich PancaSikha, dem Sämkhya-Yoga offenbar näher
stand als dem NirlSvara - Sämkhya "). Äber das hohe Alter des
1) Jyestharäm's Bombay-Ausgabe der SSinkbya-Kärikä mit Kaumudi und Vidvattosini.'p. 320.
2) Charpentier in ZDMG., 1911, p. 845.
8) Garbe, Sämkhya-Philosophie, p. 58. Ist die Vermutung richtig, so ist vielleicht bedeutsam, daß für den Sämkhya-Autor nicht, wie für den Yoga- Autor (s. oben p. 101) das Sastitantra das Lehrbuch schlechthin, sondern das
„andere Lehrbuch" ist.
4) Vyäsa zu Yo. Sü. III, 52 (53); Väcaspati zu Sä. Kä. 47.
5) Takakusu, loc. cit., p. 40 f.
6) Takakusu hat .Vrsagana ou Värsagana". — Die beiden chinesischen Nachrichten: 1. daß Isvara-Kisiia das Sastitantra des Pancasikha abgekürzt, und 2. daß Vindhyaväsa die Lehre des Vär.saganya völlig umgearbeitet habe, beziehen sich also auf eine nnd dieselbe Tatsache.
7) II pensa que le mieux itait de le changer cntürement.
8) Pancasikha lehrt (und so das Näräyaniya, Mahäbh. XII, 346, 13—18), daß die Seele unendlich klein ist (Vyäsa's Yogabhäsya 1, 36; Fragment 4 bei Garbe), aber bei der Erlösung unter Aufgabe ihrer Individualität mit dem un¬
endlich Großen (äkääa, sarvävasa) eins wird (Mahäbh. XII, 219, 42 f). Sein Ausspruch über die unerlöste Seele = apratibuddha (Yogabh. 11, 5; Garbe, Fragm. 5) ist zu vergleichen mit der Lehre vom apratibuddha etc. in Mahä¬
bhärata XII, 310, 309, etc. (Calc. Ausg.).
110 Sehrader, Das Saftitantra.
letzteren (wie auch des ersteren) ist durch das Mahäbhärata be¬
zeugt; es geht daher nicht an, ISvara-Krsna als seinen Urheber zu
betrachten, und so bliebe allein übrig, in ihm den Reformator zu
sehen und in seinem Werk mit Takakusu*) .l'öcho de la renaissance"
5 zur Zeit der Gupta-Dynastie. In diesem Falle wäre also das athe¬
istische Sämkhya durch das theistische zeitweilig in den Hinter¬
grund gedrängt worden. Soviel ist wohl mindestens anzunehmen,
daß die beiden Systeme in ihrer Entwickelung mehrfach ineinander
übergegriffen haben.
10 6. Mit der Annahme der Nebeneinanderentwickelung und gegen¬
seitigen Beeinflussung von theistischem und atheistischem Sämkhya
verträgt sich der Gedanke, daß es zwei §astitantras gegeben habe.
Man denke an das Gegenstück der Särnkhya-Kärikä bei den theisti¬
schen Sämkhyas: die ÄryäpancäSIti (Paramärthasära , Ädhärakäri-
14 käh*)) des Bhagavad-Ädisesa "). Aber Värsaganya's Werk war offen¬
bar in Prosa geschrieben. Möglicherweise also haben wir in der
Überlieferung eine Konfusion von zwei §astiitantras, von denen das
eine (das des Sämkhya-Yoga) in Versen, das andere dagegen in
Prosa abgefaßt war.
1) Loc. cit., p. 57.
2) Unter diesem Namen in Kasmir verbreitet und daher wohi identisch mit den Ädhära-KSrikäs , deren wesentlichen Inhalt (sära) Abhinavagupta in seinem Paramärthasära verarbeitet zu haben vorgibt.
3) Mehrmals gedruckt, zuletzt als No. 12 der Trivandrum Sanskrit Series.
Ill
Zum hebräischen Nominalsatz
Von Friedrich Schwally.
Carl Brockelmann in seinem Grundriß der semitischen
Sprachen, Bd. II, § 24, S. 46 f., sagt richtig: ,daß die reinen
Nominalsätze nicht nur vor zeitlosen und allgemein gültigen Aus¬
sagen stehen , sondern auch auf bestimmte Zeitsphären bezogen
werden können, die dann in ihnen selbst durch nähere Bestimmungen
oder durch den Zusammenhang angedeutet werden".
Dieses allgemeine Prinzip ist, soweit ich sehe, auch schon
früher von Spezialgrammatikern vertreten oder als selbstverständlich
vorausgesetzt worden. Es scheint mir aber, daß dasselbe in noch
mehr als einer der semitischen Einzelsprachen und Dialekte weiterer Vertiefung bedarf. In besonderem Maße gilt dies für die hebräische
Grammatik. Denn die in ihr übliche Dai-stellung der Nominalsätze
ist merkwürdig verworren und unklar. Die ganz elementare Frage
nach der Beurteilung von Nominalsätzen als Haupt- oder Neben¬
sätze wird niemals prinzipiell aufgeworfen, ünd die gelegentlich vor¬
getragenen Auffassungen leiden an einer auffallenden Unsicherheit.
Ich will diesen Sachverhalt zunächst an zwei Beispielen illu¬
strieren , die ich der Grammatik von Gesenius-Kautzsch*), des verbreitetsten aller Lehrbücher des Hebräischen, entnehme.
Zum Beweis dafür, daß sich aus dem Zusammenhang er¬
gäbe, welcher Zeitsphäre die nominale Aussage angehöre, wird § 141,
Nr. 8 f die Stelle Gen. 19, i angeführt: DiD nypn mä'' üib") .und
Lot saß im Tore von Sodom". Indessen deutet die Einfügung der
Konjunktion „während" in Klammern deutlich an , daß der Gram¬
matiker schwankt, ob hier ein Haupt- oder Nebensatz vorliegt.
Der folgende Absatz (g) setzt auseinander, daß im Nominal¬
satze nicht selten zwischen Subjekt und Prädikat eine Verbindung
mit Hilfe des Verb TfT, hergestellt werde, namentlich im Interesse
einer genaueren Bestimmung der Zeitsphäre. Er beruft sich dafür
1) Vortrag gehalten in der orientalischen Sektion der 52. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Marburg a. d. Lahn im September 1913.
2) 28. Auflage, Leipzig 190.9.
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