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Modernisierung und ihre Folgen - eine kulturpsychologische Perspektive

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Modemisierung und ihre Folgen

Eine kulturpsychologische Perspektive

Pradeep Chakkarathl Gisela Trommsdorff

1. Einleitung

Modernisierungstheorien haben sich seit ihren Anfangen bemüht, den ge- genwärtigen gesellschaftlichen Zustand als fortschrittliche Entwicklung aus fiüheren Zuständen zu beschreiben, die zugrundeliegenden Entwicklungs- faktoren zu identifizieren und theoretische wie praktische Schlussfolgerun-

gen rur

die künftige Entwicklung bzw. fur Entwicklungsstrategien zu zie- hen. Solche Strategien beruhen auf impliziten oder expliziten Annahmen über die Beschaffenheit und Wirkungsweise von modernisierungsleitenden Maßnahmen, wobei die Annahmen bislang im Wesentlichen aus den Erfah- rungen westlicher Industrieländer abgeleitet wurden. So sind Entwicklungs- hilfeprogramme fur die "Dritte Welt" lange Zeit davon ausgegangen, dass die in westlichen Industrienationen bewährten Verwaltungs-, Wirtschafts-, Bildungs- und Rechtssysteme ohne größere Schwierigkeiten auf nichtwest- liche Gesellschaften übertragbar sind. Tatsächlich waren einige Gesellschaf- ten hinsichtlich der Übernahme westlicher Modernisierungsstrategien au- ßerordentlich erfolgreich, wie das Beispiel Japan zeigt. Andere Gesellschaf- ten hingegen zeigten sich weniger erfolgreich (oder auch weniger bereit), institutionelle Veränderungen vorzunehmen bzw. eigenständige Strategien zu entwickeln, die auf "Modernisierung" im westlichen Sinn zielen. Hierfür ist Indien ein Beispiel, das zwar in vielen Bereichen (Administration, Bil- dung, Recht, Infrastruktur und Sprache) von seiner kolonialen Vergangen- heit geprägt ist, aber trotz teilweise verblüffender Erfolge in manchen Be- reichen (z. B. Atomphysik, Weltraumtechnik und Software-Entwicklung) heute immer noch zu den wirtschaftlich unterentwickelten Gesellschaften zählt.

105 Zuerst ersch. in: Modernisierung: Prozess oder Entwicklungsstrategie? /

Hermann Hill (Hrsg.). Frankfurt am Main: Campus, 2001, S. 105-130

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In diesem Beitrag sollen die sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit der Übertragbarkeit westlich geprägter Modemisierungsmodelle zum Anlass genommen werden, einige Aspekte der gängigen Entwicklungsstrategien unter einer kulturpsychologischen Perspektive zu problematisieren. Die Un- tersuchung erfolgt in drei Schritten:

Im 1. Teil werden Grundzüge der klassischen Modemisierungstheorien nachgezeichnet und auf die Rolle hin überprüft, die sie kulturspezifischen Überzeugungssystemen geben.

Im 2. Teil sollen die Angemessenheit und Wirksamkeit westlicher Mo- demisierungsstrategien anhand der Fallbeispiele Japan und Indien diskutiert und die Bedeutung kulturpsychologischer Faktoren erörtert werden.

Im 3. Teil wird das Problem der unerwünschten Folgen von Modemisie- rung thematisiert und am Beispiel unausgeglichener Bevölkerungsbilanzen gefragt, welche kulturellen und psychologischen Faktoren zur Gestaltung von Intergenerationenbeziehungen beitragen bzw. welche Rolle diese Be- ziehungen im Modemisierungsprozess haben.

2. Modemisierung und Kultur

als Thema der Soziologie und der Psychologie

Die Fragen, inwieweit sich gesellschaftliche Entwicklung über gezielte Maßnahmen bzw. Entwicklungsstrategien lenken lässt, welche Rolle dabei dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zukommt, ob Individuen ihre Ziele frei bestimmen können oder primär naturgesetzlich verlaufenden gesellschaftlichen Prozessen unterworfen sind, standen seit jeher im Zent- rum der klassischen Modemisierungstheorien. Der positivistische Zeitgeist des 19. Jahrhunderts bzw. seine Protagonisten beantworteten diese Fragen mehrheitlich mit naturwissenschaftlich gedachten, mechanistisch-kausalisti- sehen Entwicklungstheorien, fur die Comtes Modell zunehmender Rationa- lisierung über drei Stadien hinweg (vom theologischen über das metaphysi- sche zum positiven Stadium), Spencers biologistisches Modell einer "super- organischen Gesellschaftsevolution" und Marx' materialistisch-dialektische Konzeption einer ökonomisch determinierten Fortschrittsgeschichte die Vorbilder abgaben. Die daraus abgeleiteten westlichen Entwicklungsstrate- gien besagen in ihrer Grundannahme, dass ökonomischer und technologi- scher Wandel universell in einer Art und Weise mit sozialem Wandel zu-

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sammenhängt, die es erlaubt anzugeben, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um den Prozess der Modernisierung als einen Prozess wirt- schaftlichen Wachstums, der Technisierung, sozialer Mobilität, Urbanisie- rung und Ausbildung bestimmter bürokratischer und sozialer Organisations- formen quasi "automatisch" einzuleiten.

Unter Aufnahme eines kulturalistischen Trends, der im Anschluß an das Zeitalter der Weltentdeckungen eingesetzt hatte, erhob die Sozialwissen- schaft des 19. Jahrhunderts zugleich den Kulturvergleich zur wissenschaftli- chen Methode (Chakkarath, 2000). Richtungsweisend stellte Tylor (1871/

1958) ausdrücklich fest, dass der Untersuchung fremder Kulturen primär die Rolle zukomme, die universelle Gültigkeit der jeweils postulierten "Gesetze des Fortschritts" zu prüfen - eine Perspektive, der auch Durkheims Studien zu den "mechanischen Ursachen" hinter den modernisierungsleitenden Pro- zessen der Arbeitsteilung, der Spezialisierung und der Entstehung neuer Solidaritätsformen weitgehend verpflichtet waren.

Eine weitergehende Betrachtung erfuhren kulturelle Phänomene zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts in Webers kulturvergleichenden Analysen zu den Entstehungsbedingungen des okzidentalen Rationalismus. Mit seiner These, dass kulturelle Phänomene, wie insbesondere religiöse Überzeugungen, ent- scheidenden Einfluss auf das ökonomische Verhalten von Menschen haben, unterzog er die marxistische Auffassung von Kultur als einem bloßen E- piphänomen der jeweiligen ökonomischen Verhältnisse einer grundlegenden Kritik. Zugleich rückte mit seinen Hinweisen auf die entwicklungsrelevante Rolle von Wechselwirkungsprozessen zwischen Überzeugungssystemen und sozioökonomischen Faktoren die Frage nach der handlungsinduzierenden und psychologischen Wirkung solcher Prozesse auf die Individuen in den Mittelpunkt. Da Webers Ansatz jedoch lange Zeit lediglich als kulturdeter- ministische Variante zu bereits bestehenden Modellen interpretiert wurde und sich so leicht in den Mainstream der bestehenden Modernisierungstheo- rien einordnen ließ, kam seinen interdisziplinär ausgerichteten Detailanaly- sen zur Rolle kuIturspezifischer Faktoren im Modernisierungsprozess lange Zeit nur geringe bzw. einseitige Beachtung zu.

Eine ähnliche Entwicklung wie die soziologischen Modernisierungstheo- rien durchliefen zunächst auch die Ansätze, die ebenfalls seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der noch jungen psychologischen Fachdisziplin kamen und in Wundts voluminöser" Völkerpsychologie" (1900-1920) zusammen- fassend dokumentiert sind. Darin wird die Untersuchung der internen dy-

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namischen Wechselwirkung zwischen den elementaren und den höheren geistigen Prozessen zum unverzichtbaren Untersuchungsgegenstand der Psychologie erklärt, da hier von nachweisbaren universellen Zusammenhän- gen auszugehen sei, die sich ohne eine gründliche Analyse der Sprachen, Mythen, Sitten und Institutionen der Völker nicht aufdecken lassen. Im Hin- blick auf das Selbstverständnis einer Wissenschaft, die sich gerade als empi- rische Disziplin mit experimentellen Methoden gemäß dem naturwissen- schaftlichen Paradigma etabliert hatte, musste dieser kulturvergleichende Ansatz jedoch als unzeitgemäß erscheinen und fand entsprechend geringe Beachtung. Leichter fugte sich dem Zeitgeist dagegen Freuds Modell einer endogen vorprogrammierten Entwicklung des Individuums über universell gleiche Phasen hinweg. Die Mechanik gesellschaftlicher Entwicklung hatte hier nun ihr Gegenstück in der Mechanik individueller Entwicklung. Aller- dings kam dem Phänomen Kultur in Freuds Theorie eine wichtige Aufgabe zu: Sie erfullte die Funktion optimaler Triebunterdrückung und gewährleis- tete damit erfolgreiche Naturbewältigung und die Organisation menschli- cher Beziehungen (Freud, 1913/1968).

Die verbreitete Auffassung, dass menschliche Entwicklung in ihren aus- schlaggebenden Aspekten "organismisch", d. h. "innerhalb" eines vom sozi- alen Kontext weitgehend unabhängigen Individuums ablaufe, wurde in der Psychologie vor allem von Vygotsky (1930/1978) und der russischen sozio- historischen Schule kritisiert. Die Formen menschlichen Sozialverhaltens und seiner Transmission seien vielmehr eine Funktion der Kultur und diese wiederum Ergebnis historischer Prozesse. Daher müssen sich die Kontexte, in denen sich Entwicklung vollzieht, stetig wandeln - und dies mit bedeu- tenden Folgen fur die kognitive, soziale, emotionale und moralische Ent- wicklung des Menschen. Kultureller und sozialer Wandel seien daher über einfache deterministische Modelle, die solchen (ihrerseits kontextgestalten- den) Veränderungen in den Einstellungen und Werten der Individuen keine besondere Aufmerksamkeit schenken, zu mangelhaft beschrieben. Bemer- kenswert ist, dass Vygotsky und seine Schüler ihre kontextualistische Theo- rie auch im Hinblick auf die Frage entwarfen, welche Faktoren bei der Mo- demisierung der gerade gegründeten Sowjetunion und der Entwicklung ih- rer vielfältigen Völker zu berücksichtigen seien. Ihre Forderung nach Be- rücksichtigung kultureller Unterschiede erregte Anstoß, da die marxisti- schen Konzepte (auf ihre ganz eigene Weise) ebenso kulturblind waren wie die meisten anderen der erwähnten Theorien. Im geschichtlichen Rückblick

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auf das Schicksal der Sowjetunion und ihrer Völker beeindruckt jedoch die Weitsicht der soziohistorischen Schule. Unter Anknüpfung an Konzepte, wie sie Weber und Vygotsky zu verdanken sind, haben erst in jüngerer Zeit McClelland (1961) und Inkelesl Smith (1974) die Frage, welchepsyehologi- sehen Faktoren auf Modernisierungsprozesse einwirken und welche Folgen sozialer Wandel fur die Individuen hat, neu aufgenommen.

Dass nicht schon zu Zeiten von Weber und Vygotsky Impulse fur eine Revision der klassischen Modernisierungstheorien ausgingen, lässt sich durchaus auch kulturpsychologisch deuten: Zum einen stützte sich die Überzeugung, dass das westliche Modell grundsätzlich auf andere Nationen übertragbar war, auf die positiven Erfahrungen, die man innerhalb Europas selbst damit gemacht hatte; zum anderen eigneten sich die Modelle zur Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus, in dem nun quasi eine Entwicklungsstrategie fur die noch rückständigen Länder der Erde gesehen werden konnte; und schließlich verbürgte die positivistische Ausrichtung der Theorien zugleich, dass eine intensive Auseinandersetzung mit kultur- spezifischen Überzeugungssystemen und ihren konstituierenden Faktoren allenfalls von geisteswissenschaftlichem Interesse sein könnte, im Hinblick auf "sichere" Aussagen und Voraussagen jedoch keine Relevanz habe. In- wieweit diese Annahmen selbst nur ein kulturspezifisches (nämlich westli- ches) Überzeugungssystem charakterisieren, also ethnozentrischer Natur sind, konnte nur so lange unhinterfragt bleiben, so lange die Übertragung westlicher Entwicklungsstrategien in fremden Ländern erfolgreich verlief.

Wie wir heute feststellen müssen, ist dieser Erfolg jedoch teilweise aus- geblieben oder aber auf günstige Faktoren zurückzufiihren, die in anderen Fällen nicht bestanden. Um welche Faktoren es sich dabei genauer handelt, soll im nächsten Abschnitt untersucht werden.

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3. Kulturvergleichende Untersuchung zu Erfolg und Misserfolg von Modernisierung am Beispiel Japans und Indiens

3.1 Japan

Dass eine simple Übertragung westlicher Modernisierungsmodelle auf nichtwestliche Gesellschaften problematisch ist, belegt die Geschichte der Bemühungen von Seiten der Weltbank und des IWF, die den gewünschten Erfolg in verschiedenen nichtwestlichen Gesellschaften bisher nicht herbei- fuhren konnten. So sind die Eingriffe des IWF in den von schwerer wirt- schaftlicher Rezession betroffenen ost- und südostasiatischen Gesellschaften bisher an grundsätzlichen internen Entwicklungsproblemen dieser Länder vorbeigegangen bzw. haben zu einer weiteren Belastung dieser Länder ge- fuhrt, wie sich dies besonders deutlich gegenwärtig in Indonesien zeigt.

Dass die simple Übertragung von Entwicklungsstrategien von einer auf eine andere Gesellschaft keineswegs automatischen Erfolg bringt, wird im Übri- gen auch deutlich, wenn man die Modernisierungsgeschichte "erfolgreicher"

Gesellschaften wie Japan genauer betrachtet und im Einzelnen analysiert, was erfolgreich übernommen wurde, was sich an bestehende Strukturen an- passen ließ und was sich als unbrauchbar erwies. Die Frage ist also, inwie- weit der Erfolg bereits im "westlichen Modell" angelegt ist oder vielmehr von Faktoren abhängt, die nicht immanente Bestandteile des Modells selbst, sondern des Kontextes sind, in dem das Modell "funktionieren" soll.

Zunächst ist festzuhalten, dass das "westliche Modell" in Japan keines- wegs komplett übernommen wurde. Vielmehr waren es selegierte "Erfolgs- geschichten", die zunächst aufgrund des Einflusses einzelner fiihrender In- tellektueller, die ihre Ausbildung in Europa (vor allem Berlin, Wien, Paris und London) erhalten hatten, nach Japan importiert wurden. Nachdem die jahrhundertlange Abschließung während des Tokugawa-Shogunats mit dem Beginn der Meiji-Restauration (1868) gewaltsam beendet worden war, wur- den aus verschiedenen europäischen Ländern bürokratische, wissenschaftli- che und technologische Importe vorgenommen. Die sogenannte Iwakura- Mission der Jahre 1871-1873, eine von zahlreichen japanischen Auslandsde- legationen zum Zwecke des Besuchs europäischer Verwaltungs-, Finanz- und Kultureinrichtungen, steht exemplarisch fur das politische Bemühen Japans, gezielt vom Westen zu lernen, wovon noch heute Spuren des fran- zösischen Staatsrechts, des englischen Finanzwesens, der deutschen Medi-

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zin etc. zeugen. Die nach dem verlorenen 2. Weltkrieg von den USA oktroy- ierte Verfassungsänderung und die Übernahme des US-amerikanischen Bil- dungssystems sind weitere (wenngleich historisch anders bedingte) Teilim- porte. Die Auflagen der Amerikaner nach dem 2. Weltkrieg fuhrten keines- wegs zu einer schlichten Kopie der amerikanischen Verfassung und schon gar nicht zu einer Amerikanisierung japanischer Alltagsverständnisse. Diese Teilmodelle wurden nicht nur selektiv übernommen, sie wurden dem japa- nischen "Denken" angepasst. Westliches Rechts- und Bildungsgut wurde mit japanischen Denkmustern so verbunden, dass vielfach eher eine Japani- sierung westlicher Institutionen erfolgte als etwa umgekehrt eine Verwestli- chung japanischer Institutionen.

Seit Japans Aufstieg zur wirtschaftlichen Supermacht der 80er Jahre wurde international diskutiert, was die japanische Erfolgsgeschichte aus- macht und ob man nun nicht das jetzt sogenannte "Japanische Modell" ge- wissermaßen entwicklungsstrategisch re-importieren könne. In westlichen Unternehmen wurde versucht, einen japanischen Führungsstil und eine ja- panische Unternehmenskultur einzufuhren und amerikanische Bestseller wie

"Kai zen" zielten darauf, die dafur erforderlichen Strategien japanischer Mo- demisierung und Technologisierungserfolge zu identifizieren. Bemerkens- werterweise war der Westen aber hinsichtlich des Transfers des japanischen Modells weniger erfolgreich als die Japaner mit der Übernahme westlicher Modelle. In Japan selbst verstärkte dies die Überzeugung, dass Japan und die Japaner über Besonderheiten verfugen, die von anderen grundsätzlich nicht verstanden, geschweige denn übernommen werden können (nihonjin- ron). Auch, dass man sich dem Druck der USA, die eigenen Märkte zu öff- nen, jahrzehntelang erfolgreich widersetzt hat, verstärkte dieses Selbstver- ständnis. Vermutlich ist das seltene Zusammentreffen von politischer und kultureller Zusammengehörigkeit mit klaren räumlichen Grenzen ein wich- tiger weiterer Faktor der kulturellen Identität, die ihrerseits eine wichtige Voraussetzung ist, transfonnationsbedingte Probleme mit hohem Commit- ment gemeinsam zu lösen. Erst in jüngster Zeit haben innere Krisen, z. B.

die noch immer nicht überwundene Rezession, Korruptionsfalle in der poli- tischen Führung und die offenbar gewordene Anfälligkeit gegen Terroris- mus und gewalttätige Sekten, das Bild der Überlegenheit Japans und des japanischen Denkens beschädigt.

Der Mythos von der japanischen Einzigartigkeit bestand allerdings nicht nur in Japan selbst, sondern auch im Westen, wo das japanische Modell als

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rätselhaftes, d. h. in gängige Modernisierungstheorien schwer einzuordnen- des Phänomen erschien, da bestimmte Begleiterscheinungen, die fiir Mo- demisierungsprozesse als "typisch" gelten, in Japan weitgehend ausblieben.

So wurden beispielsweise kollektivistische Werthaltungen nicht durch zu- nehmenden Individualismus erodiert und die erwartete gesellschaftliche Desintegration westlichen Ausmaßes (einschließlich steigender Kriminali- tätsraten) blieb weitgehend aus. Hinzu kommt, dass sich die Logik klassi- scher Modernisierungstheorien, wonach die Erfolgsrezepte einer ökono- misch und technologisch fortschrittlicheren Gesellschaft auch auf andere Gesellschaften nutzbringend anwendbar sein müssten, als trügerisch heraus- gestellt hat.

Die anscheinende Rätselhaftigkeit dieser Phänomene könnte jedoch einer den klassischen Modernisierungstheorien immanenten ethnozentrischen Perspektive entspringen, die sich eventuell durch eine kulturpsychologische korrigieren ließe, d. h. durch eine Betrachtung, die den kulturspezifischen Besonderheiten des japanischen Modernisierungskontextes und deren Rele- vanz fiir das Denken, Fühlen und Handeln der darin tätigen Akteure größere Beachtung schenkt.

Dass die westliche Modemisierung zu einem nationalen Entwicklungs- ziel wird, ist keineswegs selbstverständlich, wenn man z. B. an religiös- fundamentalistische Gesellschaften wie den Iran denkt, der eine Modemisie- rung nach westlichem Vorbild mit Hinweis auf die Überlegenheit islami- scher Wertvorstellungen ausdrücklich ablehnt. Warum war dies in Japan anders?

Zum einen ist festzuhalten, dass die sozio-politischen und wirtschaftli- chen Bedingungen zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit westlichen Entwicklungsstrategien fiir den "take-off' günstig waren (z. B. war die Verwaltungsbürokratie und die Alphabetisierungsrate bereits zu Beginn der Meiji-Ära relativ fortgeschritten). Offenbar ist es in Japan gelungen, durch die Verbindung eigener historisch gewachsener Ressourcen mit westlichen Importen die notwendigen Bedingungen fiir eine höchst erfolgreiche Moder- nisierung zu schaffen, die durch Assimilation und Akkommodation gekenn- zeichnet war. Insofern erscheint ein historisch "günstiges" Zeitfenster rur einen Import bestimmter Entwicklungsstrategien bei gleichzeitiger Verfiig- barkeit über relevante tradierte Ressourcen unerlässlich fiir eine erfolgreiche Modemisierung.

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Durch die jahrhundertelang bewährte Samurai-Ethik bestand eine gut funktionierende Bürokratie auf der Grundlage konfuzianischer Prinzipien von Gehorsam, Loyalität und Anerkennung von Autorität. Religionssozio- logische Analysen zur erfolgreichen Übernahme des westlichen Modernisie- rungsmodells in Japan legen dar, dass diese Werte in vielerlei Hinsicht funktional äquivalent den preußischen Werten der Pflichterfullung und Dis- ziplin sind, die u. a. die verspätete Modernisierung in Deutschland mit ge- tragen haben (vgl. Bellah, 1971; Bendix, 1966/67). Aber nicht nur die ver- mutlich "objektiv" gegebenen Ähnlichkeiten in den japanischen und deut- schen Werthaltungen, sondern darüber hinaus auch die subjektiv wahrge- nommenen Ähnlichkeiten könnten dazu beigetragen haben, dass das Modell westlicher Modernisierung schnell in Japan Eingang gefunden hat und be- reitwillig übernommen wurde.

Mit der gewaltsamen Öffnung Japans war die jahrhundertelang tradierte Überzeugung einer einmaligen und überlegenen Nation angegriffen - die Überlegenheit westlicher Technologie, Wissenschaft und Wirtschaft war plötzlich konkret erfahrbar. Dass diese "fremden" ökonomischen und tech- nischen Erfolge als eigene Zielsetzungen internalisiert und westliche Ent- wicklungsstrategien als Vorbild übernommen wurden, hängt vermutlich auch damit zusammen, dass diese Entwicklungsstrategien nicht als fremd sondern als vereinbar mit bestehenden kulturellen Werten, ja sogar als Bes- tätigung fur deren Bedeutung und damit verbundener kultureller Identität angesehen werden konnten. Hier liegen wohl psychologisch wichtige Vor- aussetzungen fur die erfolgreiche Modernisierung in Japan.

Weiter gehört zu den Kulturbesonderheiten Japans, pragmatisch und fle- xibel zu handeln. Damit können erfolgversprechende Entwicklungsstrate- gien eingesetzt werden, auch wenn damit partiell von tradierten Vorstellun- gen abgewichen werden muss. Die japanische Kultur ist traditionell gekenn- zeichnet durch eine besondere Integrationsleistung aus verschiedenen Denk- stilen - dem Schintoismus, dem Konfuzianismus, dem Buddhismus -, die ursprünglich vor allem aus China und Korea sowie Indien stammen und die eigene funktionale Bedeutungen im Alltagshandeln des Einzelnen einneh- men. Nicht zuletzt ist dies in der Sprache und Schrift (vor allem den aus dem Chinesischen abgeleiteten Kanji-Zeichen) erkennbar, die ab dem Vor- schulaIter gelernt werden müssen. Auch wenn Japaner heute von sich sagen, sie seien nicht religiös, sind doch auch heute noch Teile dieser über Jahr- hunderte hinweg tradierten Überzeugungen wirksam und definieren die Be-

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sonderheiten der japanischen Kultur. Zwar ist der Schintoismus keine Staatsreligion. Dennoch wirken sich schintoistische Überlieferungen auf Alltagshandeln und die Gestaltung bedeutsamer Lebensereignisse aus.

Die Flexibilität in der Verbindung verschiedener Denkstile wird im Übri- gen durch Besonderheiten des "asiatischen" Denkens verstärkt, das nicht wie im Westen nach Regeln der Widerspruchsfreiheit, sondern der Verknüp- fung widersplÜchlicher Aussagen strukturiert ist (peng/ Nisbett, 1999).

Um Entwicklungsstrategien der Modernisierung zu akzeptieren und mit hohem Engagement zu verfolgen, bedurfte es also keineswegs des Erlernens einer besonderen neuen Handlungsstruktur. Das gilt sowohl fur die japani- sche Führungselite als auch fur die japanische Bevölkerung. Der Grundkon- sens wurde vor allem durch die Wiederbelebung des traditionellen Famili- enideals (ie) als Teil der kulturellen Identität erreicht. Das paternalistische Modell des japanischen Staates und der japanischen Firma entspricht der nach konfuzianischem Muster idealisierten Familienstruktur mit dem Fami- lienältesten als Autorität, die sich dem Wohlergehen der Familienmitglieder verpflichtet versteht, und den Familienmitgliedern, die sich zu kindlichem Gehorsam ("filial piety") verpflichtet fuhlen und durch gegenseitige Loyali- tätsbeziehungen lebenslang als Glied einer Ahnenkette, fur deren Verehrung der Älteste der Familie Sorge trägt, miteinander verbunden sind (vgl.

Trommsdorff, 1997). Dieses idealisierte Modell der Familie war Grundlage aller an Entwicklungsstrategien der Modernisierung beteiligten Institutio- nen; es beeinflusste die Sozialisation des Einzelnen in Familie, Schule und Beruf entscheidend und strukturierte somit über die Lebensspanne hinweg die individuellen Handlungsorientierungen. Dieses Modell war nun keines- wegs aus dem Westen übernommen, sondern ein indigenes, d. h. in dieser Kultur entwickeltes Modell, das sich als eine hervorragende kultureigene Entwicklungsstrategie der Modernisierung erwies. Es erlaubte enorme Lei- stungs- und Verzichtbereitschaften des Einzelnen und einen gewaltigen Wirtschaftserfolg der Gesellschaft, der mit Bewunderung und Sorge im Ausland registriert wurde, bis die Rezession einsetzte. Diese lange Zeit der selbstverständlich tradierten und übernommenen kulturellen Werte haben auch in Krisenzeiten dazu beigetragen, dass Japan als Gesellschaft und Kul- tur relativ homogen und stabil geblieben ist, auch wenn sich in einigen Be- reichen Auflösungserscheinungen und soziale Probleme zeigen (vgl.

Trommsdorff, 1996, 1998).

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In den letzten Jahren, nachdem es Japan nicht gelungen ist, die tiefgrei- fende wirtschaftliche Rezession zu überwinden, begann allerdings ein Um- denken. Mit der Rezession ist die lebenslange Anstellung der Firmenange- hörigen nicht mehr selbstverständlich und mit der zunehmenden Öffnung gegenüber westlichen Werten der Individualisierung erscheint das idealisier- te Familienmodell fragwürdig. Die japanische Familie erfährt nicht zuletzt aufgrund der veränderten demographischen Struktur und der veränderten Rolle der Frau gegenwärtig einen erheblichen Wandel (vgl. Trommsdorff, 1998).

Die Frage wird zunehmend deutlicher gestellt, wie viel japanisches Den- ken sich Japan im Kontext einer stark veränderten Weltwirtschaftslage noch leisten kann und ob nicht besser westliche Modelle der Individualisierung fur die Bewältigung der entstandenen sozialen, wirtschaftlichen und politi- schen Probleme verwendet werden sollten.

Ob das japanische Entwicklungsmodell nun ausgedient hat, nachdem die Modernisierung erreicht wurde und gegenwärtig die Folgen der Modernisie- rung zu bewältigen sind, und worin die Folgen der Modernisierung beste- hen, sind Fragen, die empirisch zu prüfen sind. Sie sollen am Ende der Be- trachtung noch einmal aufgegriffen werden.

3.2 Indien

Wie in Japan durchlief die Auseinandersetzung um gezielte Modernisierung auch in Indien Phasen zunächst bereitwilliger Aufnahme und dann wieder der Ablehnung von westlichen Werten, Ideen und Verhaltensweisen. Die indische Situation unterscheidet sich von der japanischen allerdings in vie- len Punkten:

Die indische Gesellschaft gründet sich auf eine Hochkultur, die neben der mesopotamischen, ägyptischen und chinesischen zu den ältesten der Menschheit zählt und zu Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends mit den Stadtgründungen im Industal die fortgeschrittenste städtische Zivilisation ichrer Zeit schuf Im Vergleich zu den anderen der genannten Hochkulturen hat die indische Gesellschaft jahrtausendealte weltanschauliche und soziale Traditionen in einem Ausmaß bewahrt und weitergefuhrt, das als kulturrus- torisches Phänomen gilt (KulkeJ Rothermund, 1998). Anders als Japan war Indien in seiner Gescruchte nie abgeschottet und hat durch seine lange Ge-

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schichte hinweg viele Fremdeinflüsse erfahren (darunter mesopotamische, arische, hellenische, christliche, islamische, französische, portugiesische und britische) und dabei große Integrationsfahigkeit bewiesen.

Zugleich hatte Indien fur weite Teile Asiens eine kulturstiftende Funk- tion. Lehnworte aus den altindischen Sprachen, insbesondere philosophi- sche, juristische und politische Termini, zeugen ebenso von der Ausstrah- lung indischer Kulturleistungen wie das Weiterleben ursprünglich indischer Motive in der Kunst und Literatur südostasiatischer Länder. Die weltge- schichtlich bedeutsamste Wirkung, die von Indien ausging, ist die weitge- hend friedliche Missionierung weiter Teile Südost- und Ostasiens durch Hinduismus und vor allem Buddhismus, die intensiv etwa mit dem 5. Jahr- hundert n. ehr. einsetzte. Diese ,,Modernisierungsschübe", die vom indi- schen Subkontinent auf andere Teile Asiens ausgingen, kamen erst mit der Ankunft der europäischen Seemächte im 16. Jahrhundert zu einem Ende.

Seit den frühesten Anfangen seiner Geschichte war Indien eine Multikul- tur, die hinsichtlich des Zusammentreffens solcher Faktoren wie geographi- scher Ausdehnung, A1ter, Bevölkerungszahl, Zahl der ethnischen Gruppen und Religionen, Aufnahme fremdkultureller Einflüsse, Sprach- und Schrift- vielfalt mit Japan oder anderen Ländern nicht vergleichbar ist. Die Bemü- hung um Integration dieser vielfaltigen Aspekte prägte die indische Ge- schichte seit ihren Anfangen und fordert die indische Politik bis heute. Fal- len in Japan Nation und Kultur weitgehend zusammen, so ist das fur Indien keineswegs der Fall. Vor der Unabhängigkeit 1947 war es eine Ansamm- lung unzähliger Regionalreiche und Fürstentümer, die formal zwar unter der Oberhoheit des britischen Empire standen, aber in ihrer Gesamtheit nie eine Nation ausmachten. Inwieweit es Indien mittlerweile gelungen ist, den Nati- onalgedanken, der die Unabhängigkeitsbewegung zu Beginn des 20. Jahr- hunderts getragen hatte, wiederzuerwecken und praktisch umzusetzen, ist eine vieldiskutierte, aber - nicht zuletzt wegen des Zerfalls des alten Indien in zwei souveräne Staaten - nach wie vor offene Frage (Khilnani, 1997). Sie berührt allerdings ein fur unseren Kontext zentrales Problem: Welche Be- deutung hat das Zusammengehörigkeitsgefuhl einer Gesellschaft fur den Erfolg von Entwicklungsstrategien?

Mahatma Gandhi, der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, hatte keinen Zweifel daran, dass eine Modernisierung Indiens ohne die ge- seIlschaftsübergreifende Vermittlung eines indischen Zusammengehörig- keitsgefuhls zum Scheitern verurteilt sei. Obwohl selbst ein überzeugter

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Hindu, sah er das größte ("selbstgemachte") Hindernis auf dem Wege zur Nation im hinduistischen Kastensystem, vor allem in dem darin verankerten Konzept der "Unberührbaren", das die Integrierbarkeit großer gesellschaftli- cher Gruppen aus religiösen und philosophischen Gründen von vornherein ausschloss (Gandhi, 1986). Dass Gandhis Versuch, gegen dieses in Jahrtau- senden gewachsene und verfestigte System anzugehen, scheiterte, kann da- mit erklärt werden, dass er die Bedeutung des Teils fur das Ganze, d. h. des Kastensystems fiir das umfassendere Überzeugungssystem, unterschätzte.

Welche Aspekte kennzeichnen dieses Überzeugungssystem?

Der Hinduismus geht wie die meisten indischen Religionen und Philoso- phien davon aus, dass im Leben und allem Diesseitigen auf grund der offen- kundigen Vergänglichkeit alles Materiellen kein beständiger Wert liegt, dass ein "vernünftiges" Leben darauf also nicht gerichtet sein sollte. Wer in sei- nem Denken und Handeln primär materialistisch orientiert ist, haftet an Vergänglichem und verstrickt sich damit in einen Verblendungszusammen- hang, der wahre Einsichten versperrt. Wahre Einsichten können nur durch eine asketische und spirituell orientierte Lebensfuhrung erlangt werden, die sich im Idealfall aus allen materiellen und auch sozialen Bindungen löst - eine Phase, die im klassischen hinduistischen Lebenszyklusmodell nach der Erfullung sozialer, insbesondere familiärer Pflichten, jeder durchlaufen muss, der äußerste menschliche Reife erlangen will (Kakar, 1978). Bemer- kenswerterweise ist es das Kastensystem, das über strikt einzuhaltende Kas- tenregeln verbürgt, dass trotz dieser weltflüchtigen Orientierung die gesell- schaftstragenden sozialen Pflichten erfullt werden. Zugleich verbürgt es, dass der unterschiedliche soziale Status, den die Mitglieder der Gesellschaft einnehmen, als gerecht aufgefasst werden kann, da er aus dem Prinzip des karma und dem Glauben an die Wiedergeburt abgeleitet wird. Das karma- Prinzip besagt, dass alle Handlungen eines Menschen Folgen fur die Quali- tät seiner nächsten Existenz haben. Es versteht sich, dass die strikte Befol- gung der Kastenregeln günstige Wiedergeburt garantiert (d. h. Lebensbedin- gungen verspricht, die den Heilsweg erleichtern), Regelverstöße dagegen ungünstige Wiedergeburt nach sich ziehen.

Will man verstehen, warum das Kastensystem entgegen vieler Prognosen noch immer Bestand hat, muss man verstehen, worin seine Vorzüge liegen:

Es erleichtert die Handlungsorientierungen der Individuen und repräsentiert ein System sozialer Gerechtigkeit, das durch äußerliche Aspekte, denen nur Verblendungsfunktionen zugeschrieben werden, nicht in Frage gestellt wer-

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den kann. Die allmähliche Zersplitterung der ursprünglichen vier Kasten in mittlerweile Tausende von Kasten zeigt zugleich, dass das System keines- wegs starr ist und soziale AusdifIerenzierungen erlaubt. So kann auch die

"Glaubensgemeinschaft" der Hindus keineswegs als homogene Gruppierung betrachtet werden: Jedes Dorf und jede Kaste verehren ihre eigenen Gotthei- ten, die wiederum sehr unterschiedliche religiöse und emotionale Inhalte repräsentieren. Das Kastensystem beweist also dieselbe Integrationsfähig- keit, die Indien als Kultur seine Geschichte hindurch bewiesen hat. Es ist anzunehmen, dass die Abschaffung eines gesellschaftlich hochrelevanten Überzeugungs- und Orientierungssystems rur die Individuen und eine Ge- sellschaft, in der sich 85% der Bevölkerung zu diesem System bekennen, weitreichende soziale und psychologische Folgen hätte.

Seit den religionssoziologischen Studien Max Webers (vgl. Weber, 1916- 1920/1996), hält die Diskussion an, welche Rolle das hinduistische Über- zeugungs- und Gesellschaftssystem im Hinblick auf Modemisierungspro- zesse spielt, ob es sich gemäß der klassischen Theorien im Zuge der Indust- rialisierung zusehends auflösen oder aber Industrialisierung nach westli- chem Muster verhindern und stattdessen einen neuartigen Modemisierungs- prozess in Gang setzen würde. Letztlich bleibt die Antwort sicherlich abzu- warten, doch lässt sich nicht nur angesichts der bald 3500 Jahre alten "Er- folgsgeschichte" des indischen Kastensystems, sondern auch angesichts des Aufstiegs fundamentalistischer Hindu-Parteien zur politischen Macht ge- genwärtig feststellen, dass die Mehrheit der indischen Wähler an einer Ab- schaffung des hinduistischen Systems weiterhin nicht interessiert ist. Dies zeigt übrigens auch, dass die verbreitete Überzeugung, Demokratie und Modemisierung (im westlichen Sinne) gingen Hand in Hand, auf zu einfa- chen Annahmen beruht.

Vor dem Hintergrund dieser Hinweise lässt sich besser verstehen, wie westliche Interventionen aus indischer Sicht wahrgenommen wurden. Be- ginnen wir mit der britischen Kolonialherrschaft, so war sie aus indischer Sicht lange Zeit nur ein Kapitel in einer historisch langen Reihe von Fremd- herrschaften. Sie war sozusagen kein "dramatischer" Einschnitt der Öff- nung, wie im Falle Japans. Im Übrigen war die britische Herrschaft lange Zeit von der Idee rassischer und zivilisatorischer Überlegenheit gegenüber der "primitiveren" indischen Kultur getragen. Auf der Seite der indischen Fürsten und Intellektuellen stand dem die Überzeugung indischer Überle- genheit gegenüber, die bis heute in Verweisen der indischen Politik und In-

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tem/enz auf

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Einflüsse, die über Jahrhunderte von der eigenen Kultur auf andere Regionen Asiens ausgingen, ihren Ausdruck findet. Es ist bis heute vergleichsweise schwierig, den indischen Eliten zu vermitteln, dass ihr Land einer Modernisierung durch westliche Lehrmeister bedarf, zumal die Erfah- rung mit den Briten eine solche Vermittlung erschwert hat (vgl. Schoettli, 1997). Zwar haben die Briten bestimmte Veränderungen der sozialen Insti- tutionen und der Infrastruktur des indischen Organisationssystems gefordert (Recht, Bildungssystem, Administration, Verkehrssystem und Elektrifizie- rung), doch zielten diese Maßnahmen nie auf eine Modemisierung der indi- schen Gesamtgesellschaft; von den "Segnungen" profitierte nur eine kleine indische Elite, die ihre Karriere vor allem an den juristischen Fakultäten englischer Universitäten und in der britischen Verwaltung machte.

Hinzu kommt, dass die Briten gut funktionierende Sektoren der indischen Wirtschaft gezielt zerstörten, um ihren heimischen Markt vor Konkurrenz zu schützen. Bekannte Beispiele sind die Zerschlagung der indischen Textilin- dustrie und der gescheiterte Versuch, ein Salzmonopol zu errichten. Da die britische Kolonialherrschaft hauptsächlich nach dem Prinzip des "divide et impera" ausgerichtet war, also aus der politischen und sozialen Zersplitte- rung der indischen Gesellschaft Vorteile zu ziehen versuchte, waren ihre Modemisierungsbemühungen stets halbherzig, was sich z. B. daran zeigt, dass wenig unternommen wurde, um die Bevölkerung zu alphabetisieren.

Alphabetisierungsprogramme waren im Wesentlichen Gegenstand der For- derungen einzelner - meist übrigens indischer - Reformer.

Die britisch-indische Begegnung war ein "cultural clash", der bis heute Folgen fiir die indische Haltung gegenüber westlichen Modemisierungsbe- mühungen hat: Erstens besteht gegenüber westlichen Forderungen eine gro- ße Skepsis bei den indischen Eliten, die zu großen Teilen noch immer an Gandhis Konzept der "self reliance" ausgerichtet sind, dem die indischen Regierungen immer wieder Rechnung tragen mussten. In einem ständigen Spagat versuchen sie z. B., Forderungen der Weltbank nach einer strafferen Zinspolitik und außenwirtschaftlicher Liberalisierung nachzukommen, dies aber innenpolitisch als genuin indische Strategien zu legitimieren. Zweitens war der "cultural clash" aber vor allem ein Zusammenstoß zweier Weltan- schauungen bzw. Überzeugungssysteme: Aus indischer Sicht zeigte die Er- fahrung mit der britischen Herrschaft, a) dass westliche, d. h. materialisti- sche Orientierungen letztlich nur Probleme bringen; b) dass es die von Gan- dhi bewusst als "indische" Maßnahmen initiierten Strategien des philoso-

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phisch abgeleiteten zivilen und gewaltfreien Widerstands waren, die den Sieg des eigenen Systems über das fremde System herbeifiihrten.

Die bisherigen Ausfiihrungen geben Hinweis darauf, dass das hinduisti- sche Überzeugungs- und Gesellschaftssystem sich sowohl auf einer psycho- logischen wie auch auf einer historischen und politischen Ebene über Jahr- tausende bewährt und auch in jüngerer Zeit unter Beweis gestellt hat, dass es zu Modemisierung in der Lage ist, ohne sich selbst in Frage zu stellen:

Trotz ungebremsten Bevölkerungswachstums konnten die vor wenigen Jahrzehnten prophezeiten Massenhungersnöte verhindert werden, teilweise dank eines westlich vermittelten Know-hows der genetischen Behandlung von Getreide ("Grüne Revolution"); Indiens Presse ist eine der größten und freiesten der Welt und der freie Fluss von Daten und Informationen - eine wichtige Voraussetzung für die frühzeitige Aufdeckung von Fehlentwick- lungen - ist gewährleistet; auch auf dem Bildungssektor wurde viel geleis- tet, etwa um die Zahl der Hochschulabsolventen zu erhöhen und qualifizier- te Fachleute auszubilden, die inzwischen weltweit nachgefragt werden. Die- se Leistungen werden jedoch in ihrer Bedeutung für gesamtgesellschaftliche Modemisierung wieder geschmälert, wenn man bedenkt, dass die Zahlen des Gesundheitswesens, etwa hinsichtlich Mangelerscheinungen, hoher Kindersterblichkeit und niedriger Lebenserwartung (insbesondere im Ver- gleich zu China) besorgniserregend sind und die Analphabetenquote in den letzten Jahrzehnten nahezu unverändert bei etwa 60% geblieben ist.

Der Vergleich des indischen Kontextes mit dem japanischen macht deut- lich, dass es soziohistorisch und kulturpsychologisch höchst unterschiedli- che und gemeinhin wenig beachtete Faktoren sind, die hinter den skizzierten Problemzusammenhängen stehen. Exemplarisch wurden diese Unterschiede an unterschiedlichen historischen Erfahrungen und divergierenden Überzeu- gungssystemen veranschaulicht, die beide zweifellos Grundlagen für die Ausgestaltung unterschiedlicher Denkweisen, sozialer Beziehungen, Hand- lungsorientierungen und Werthaltungen sind. Unter Einbeziehung einer kul- turpsychologischen Sichtweise zeigen sich die angesprochenen Zusammen- hänge in einer größeren Komplexität, die den Phänomenen, um die es hier geht, gerechter werden dürften als eine eingeengte ökonomische Perspekti- ve. Es bestehen Unterschiede zwischen Japan und Indien nicht nur in der unterschiedlichen Ausprägung von nationaler und kultureller Identität, di- vergierenden Formen weltzugewandter und weitabgewandter Orientierung, unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Westen und daraus resultierenden

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Selbstverständnissen. Die Modernisierung als Beginn von Industrialisierung und Technologisierung begann in bei den Ländern unter ungleichen Startbe- dingungen und verläuft bis heute in sehr unterschiedlichen Bahnen. Es wäre kurzsichtig, ökonomische und demographische Faktoren, vor allem im Zu- sammenhang mit unterschiedlichen Entwicklungen der Bevölkerungszahlen, nicht ernstzunehmen, doch wäre es andererseits auch kurzsichtig, sie nicht in ihrem Zusammenhang mit kulturellen und psychologischen Faktoren zu sehen. Wie eine solche Betrachtung unter Einbeziehung kulturpsychologi- scher Konzepte im Bezug auf Fertilitätsentscheidungen und Bevölkerungs- entwicklungen aussehen kann, soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.

4. Folgen der Modemisierung:

Bevölkerungsentwicklung und Intergenerationenbeziehungen unter kulturpsychologischer Perspektive

4.1 Bevölkerungsstruktur als Folge der Modernisierung

Die Beispiele Indien und Japan zeigen, dass kulturblinde Annahmen über das Funktionieren von Entwicklungsstrategien zu kurz greifen. Die Frage nach dem ,,Erfolg" der Modernisierung soll hier ergänzt werden durch die Frage nach den Folgen der Modernisierung.

In den zahlreichen Untersuchungen zu postmodernen Gesellschaften wird von universellen Entwicklungstendenzen mit universellen Folgen ausgegan- gen, wobei vor allem Individualisierungs- und Säkularisierungstendenzen verbunden mit hedonistischen Werthaltungen und gesellschaftlichen Desin- tegrationsphänomenen hervorgehoben werden. Auch die Analysen zum Wertewandel in nachindustriellen Gesellschaften gehen von universellen Mustern aus (Bell, 1973; Inglehart, 1998; Klages, 1993; Klages/ FranzI Herbert 1987). Unklar bleibt dabei allerdings, auf welcher Abstraktionsebe- ne ein Wertwandel erfasst wird und ob z. B. in so unterschiedlichen Ländern wie Japan und Indien trotz bereichsspezifischer Individualisierungstrends traditionelle kulturspezifische Werthaltungen auf der individuellen Hand- lungsebene weiterhin wirksam bleiben. Modernisierungsfolgen können auf der Makro-, Meso- und Mikroebene durchaus in jeweils unterschiedlichem Tempo auftreten und unterschiedlich ausgeprägt sein.

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Bedenkt man, dass Modernisierung schon lange nicht mehr ein aus- schließlich nationales Problem ist, sondern allein schon angesichts demo- graphischer und ökologischer Probleme, d. h. insbesondere der wachsenden Weltbevölkerung und begrenzter Ressourcen, eine brisante globale Dimen- sion hat, erscheint es sinnvoll, den Blick der Untersuchung im Folgenden exemplarisch auf diejenigen Modernisierungsfolgen zu richten, die Aspekte der gegenwärtigen und zukünftigen Bevölkerungsentwicklung betreffen.

Wir beobachten, dass in Armutsgesellschaften wie Indien das Bevölke- rungswachstum explodiert, in Wohlstandsgesellschaften wie Japan und Deutschland dagegen eine Bevölkerungsimplosion stattfindet. Aus den län- derspezifisch unterschiedlichen Geburten- und Sterberaten entwickelt sich die demographische Struktur der jeweiligen Gesellschaft mit mehr oder we- niger ausgeglichener Bevölkerungsbilanz und daraus resultierenden unter- schiedlichen Problemen.

Aufgrund der stetig fallenden Geburtenrate wird die Bevölkerung Japans beispielsweise von heute über 120 Millionen in etwa 100 Jahren bei pessi- mistischen Berechnungen auf 50 Millionen sinken. Gegenwärtig beträgt der Anteil der Bevölkerung von über 65 Jahren in Japan etwa 16% und wird bis zum Jahre 2025 auf über 27% steigen (in Deutschland auf ca. 23%). Ganz anders dagegen die Situation in Indien, wo die Bevölkerungszahl bei einer durchschnittlichen Kinderzahl von 4,3 pro Frau unlängst die Milliarden- grenze überschritten hat und damit fast 18% der Weltbevölkerung ausmacht.

Der Anteil von über 65jährigen beträgt nur ca. 5%, wogegen 37% der Be- völkerung jünger als 15 Jahre sind.

In Mitteleuropa, wo die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau lediglich 1,3 beträgt (bei steigenden Überlebenschancen in allen Altersjahrgängen), fuhren konstante Geburtendefizite zu einer Alterung der Gesamtgesellschaft Der Nachwuchs bleibt hinter den kontinuierlich wachsenden Altenjahrgän- gen anteilsmäßig zurück. In Deutschland ist seit Anfang der 70er Jahre die Zahl der Geburten so tief gesunken, dass erstmals mehr Sterbefalle als Ge- burten registriert werden. Die Zahl der über 60jährigen wächst laufend und dabei wächst am schnellsten die Gruppe der 80- bis 100jährigen. In 25 Jah- ren werden diese geburtenschwachen Kohorten zu einer zahlenmäßig signi- fikant verringerten Elterngeneration heranwachsen, die wiederum weniger Kinder haben wird.

Auch in anderen Gesellschaften werden sich vollständig veränderte Be- völkerungsbilanzen als ungewollte Folgen der Modernisierung einstellen

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und vielfaltige Probleme (u. a. der Versorgung der jungen und der alten Ge- neration) mit sich bringen. Besonders problematisch ist u. a., dass Menschen im erwerbsfahigen Alter in Wohlstandsgesellschaften zwei Belastungsfakto- ren als Folgen der Modernisierung zu tragen haben: Zum einen sind sie ver- antwortlich für die Versorgung der abhängigen Kohorten der Kinder und Jugendlichen und zum anderen fur die Versorgung der Kohorten im Renten- alter. Während 1990 in Deutschland auf 100 erwerbsfahige Erwachsene zwischen 25 und 65 Jahren insgesamt 80 in diesem Sinne "Abhängige" ent- fallen, werden es in funfzig Jahren schon 102 "Abhängige" sein, wobei sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen verringert und der Anteil der Älte- ren verdoppelt haben wird. In Japan wird dieses Verhältnis noch krasser aussehen, während umgekehrt in Indien überwiegend Kinder und Jugendli- che die Gruppe der "Abhängigen" ausmachen.

Damit sind nicht nur gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Probleme der gerechten Verteilung von Ressourcen verbunden, sondern vielmehr auch psychologische Fragen: Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen den Ge- nerationen? Wer übernimmt die Versorgung der Kinder und alten EItern?

Wie viele Kinder werden überhaupt noch gewünscht und was ist man bereit, in sie zu investieren? Inwieweit sind Frauen noch bereit, solche Versor- gungsaufgaben lebenslang zu übernehmen, wenn ihnen in sich wandelnden kulturellen Kontexten, die Individualisierung und Autonomie zusehends mehr prämieren als Dienstleistungen fur die Familie, Alternativen berufli- cher Qualifizierung zur Verfügung stehen?

4.2 Ein kulturpsychologischer Ansatz

zur Untersuchung von Generationenbeziehungen 4.2. / "Value-oj-children" (VOC)

Der "Value-of-children"-Ansatz von Hoffman und Hoffman (1973) war ein Versuch, Defizite der soziologischen und ökonomischen Theorien zur Er- klärung von generativem Verhalten, die sich als unzureichend fur die Erklä- rung von Fertilitätsunterschieden in verschiedenen Gesellschaften erwiesen haben, zu beheben. Erstmals wurden hier explizit kulturelle Unterschiede in den Bedingungen von Fertilitätsentscheidungen miterfasst. Die kulturver- gleichenden Analysen bezogen zudem psychologische Fragestellungen mit

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ein, um über die eingeengte Betrachtung ausschließlich ökonomischer und normativer Bedingungsfaktoren hinauszukommen. Während die ,,Neue Haushaltsökonomie" (vgl. Beckerl Pies, 1996) den Geburtenrückgang er- klärt, wird die Entscheidung rur Kinder in Wohlstandsgesellschaften, wo der instrumentelle Wert von Kindern die Kosten von Kindern nicht aufwiegt, eher unberücksichtigt gelassen.

Mit dem "Value-of-children"-Ansatz wurde die Funktion des Wertes von Kindern (u. a. familiäre Bindung, Erfullung sozialer Normen, ökonomischer Nutzen) rur die Bedürfniserfiillungen der Eltern und ihre Fertilitätsentschei- dung untersucht. Dabei wurden neben dem Wert, den Kinder rur ihre Eltern und die Gesellschaft haben, weitere Einflussfaktoren berücksichtigt: alterna- tive Bereiche fur den Wert von Kindern (z. B. gesetzliche Alterssicherung), Kosten von Kindern (z. B. finanzielle und zeitliche Belastung) sowie Barrie- ren und Anreize (vorhandene Unterstützungssysteme). In den länderverglei- chenden Studien der 70er Jahre (vgl. Arnold et al., 1975) sind so in einem interdisziplinären Ansatz Zusammenhänge zwischen Kultur (westliche, ost- und südostasiatische Kulturen), sozioökonomischem Kontext (städtische und ländliche Regionen; Familien aus unterschiedlichen sozialen Schich- ten), individuellen Werten und generativem Verhalten untersucht worden.

Dabei wurden Werte von Kindern als Moderatorvariable verstanden, also zum einen als Einflussgrößen auf Fertilitätsentscheidungen und zum ande- ren als "abhängige Variablen", die durch kontextuelle Bedingungen beein- flusst werden.

4.2.2 Defizite des bisherigen VOC-Ansatzes

Trotz der Verdienste der "Value-of-children"-Studien um eine differenzier- tere Untersuchungsperspektive weisen auch sie theoretische Defizite auf:

1. Zum einen ist bislang keine befriedigende theoretische Klärung der As- pekte von Werthaltungen und deren jeweiliger Funktion im Gesamtmo- dell erfolgt. So belegen Untersuchungen von Kagitt;:ibasi (1982, 1996), dass je nach ökonomischem Status der Eltern der Wert von Kindern eher mit ökonomischem Nutzen (z. B. Versorgung der Eltern), mit emotiona- lem (emotionale Bindungen) oder mit sozialem (Fortfuhrung des Famili- ennamens) Nutzen verbunden sein kann. Damit lag nahe, auf ökonomi- sche Nutzen-Modelle der Fertilität zurückzugreifen, indem zwischen ex-

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trinsischen, instrumentellen und intrinsischen immanenten Nutzen unter- schieden wurde (vgl. Nauckl Kohlmann, 1999). Es wird angenommen, dass es bei hohem ökonomisch utilitaristischem Wert von Kindern ratio- nal wäre, viele Kinder zu haben. Bei hohem psychologisch-emotionalen Wert von Kindern wäre hingegen eine niedrige Kinderzahl rational. Auch diese theoretische Weiterentwicklung von "value-of-children" nimmt ei- nige Probleme fur die Prufbarkeit des Modells in Kauf, wie die Annahme - einer primär kognitiven Orientierung von Werthaltungen,

- der Stabilität von WerthaItungen und

- "rationaler" Entscheidung und Verhalten in Übereinstimmung mit die- sen Werthaltungen.

Aus motivationstheoretischer Sicht entstehen Werthaltungen allerdings nicht nur aufgrund kognitiver Strukturen und Präferenzen; vielmehr ent- wickeln sich Werthaltungen durch soziale Interaktion auf der Grundlage eines kognitiv-emotional verankerten Motivsystems mit hoher Selbst- Relevanz. Insofern stellen Werthaltungen motivierte und emotional be- deutsame Orientierungs- und Bewertungssysteme dar, die Handeln struk- turieren. Des Weiteren können sich Werthaltungen im Entwicklungsver- lauf ändern, wobei das zugrundeliegende Motivsystem durchaus stabil bleiben kann, aber aufgrund veränderter (kontextueller oder intrapersona- ler) Bedingungen Wertänderungen erfordert. Der Wert des Kindes kann z. B. im jungen Erwachsenenalter zunächst eher auf emotionale Aspekte gerichtet sein, die je nach Bindungserfahrungen in einer Partnerschaft im mittleren Erwachsenenalter an Bedeutung verlieren, was dann die Fertili- tätsentscheidung negativ beeinflussen kann. Allerdings gehen in Fertili- tätsentscheidungen außer expliziten Erwartungen und Werten auch im- plizite Vorstellungen ein, die vom gegebenen Kulturkontext wesentlich mit geprägt sind und nur begrenzte Rationalität ("bounded rationality") im Handeln erlauben.

2. Ein zweites Defizit ist darin zu sehen, dass in dem "VaIue-of-children"- Ansatz wesentliche kultur- und entwicklungspsychologische Erkenntnis- se unzureichend thematisiert wurden. Dies gilt zumindest fur folgende Aspekte: die Vernachlässigung der kulturspezifischen Bedeutung von In- dividual- und Sozialorientierong mit den damit verbundenen Werten der Unabhängigkeit! Autonomie und Verbundenheit (Trommsdorff, 1999) sowie die Vernachlässigung der Bedeutung von Eltern-Kind-Beziehun- gen als einer generationeniibergreifend wirksamen Einflussvariable.

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4.2.3 Kulturpsychologische Konzepte

Individual- und Sozialorientierung. In vorwiegend individualistisch orien- tierten Kulturen werden eher individuelle Ziele als Gruppenziele präferiert und entsprechend Selbständigkeit und Selbstverwirklichung über gesell- schaftliche Konformität und Normenübernahme gestellt. In vorwiegend kol- lektivistisch orientierten Kulturen verhält sich dies umgekehrt (vgl. Trian- dis, 1995). Dieser Unterscheidung entspricht die Gegenüberstellung zweier kulturabhängig variierender Selbstkonzepte (MarkuslKitayama, 1991): des independenten Selbst, das primär nach Unabhängigkeit und der Realisierung eigener Interessen strebt, und des interdependenten Selbst, das Gruppeninte- ressen über eigene Interessen stellt und stärker nach sozialer Einbindung strebt. In Anlehnung an diese Konzepte wird insbesondere angenommen, dass Werte der Independenz und Interdependenz zur Erklärung der Versor- gungsbereitschaft der Eltern beitragen. So kann davon ausgegangen werden, dass bei interdependenten Werthaltungen in einem sozialorientierten Kul- turkontext solche Versorgungsleistungen als selbstverständliche Verpflich- tung übernommen werden, ohne dies als Verzicht zu verstehen und ohne Reziprozität einzuklagen. Bei einer individualistischen und hedonistischen Orientierung ist das weniger zu erwarten. Es ist darüber hinaus zu erwarten, dass diese Konzepte eine genauere Untersuchung der hier angesprochenen Zusammenhänge ermöglichen, indem sie kulturspezifische Auffassungen von "Selbst" und "Selbstentfaltung" identifizieren (Kagit~ibasi, 1996).

EJtern-Kind-Beziehung. Ein wichtiger und im "Value-of-children"-An- satz bislang ebenfalls vernachlässigter Faktor in Intergenerationenbeziehun- gen ist die Beziehungsqualität von Eltern und Kindern, die u. a. als erinnerte Beziehungsqualität der Kinder Einfluss auf die Beziehung zu ihren Eltern, aber auch zu ihren eigenen Kindern nehmen kann. Für die genauere Unter- suchung dieser Zusammenhänge können Ergebnisse der Bindungsforschung fruchtbar gemacht werden (vgl. Ainsworth, 1989; Bowlby, 1982), die von einem universellen Bedürfnis nach Bindung ausgehen. Anzunehmen ist, dass die Bindungsqualität im Hinblick auf Eltern-Kind-Beziehungen eine wichtige Einflussvariable ist und die Gestaltung der Beziehungen generatio- nenübergreifend beeinflusst, z. B. die individuelle Bereitschaft erhöht oder verringert, Versorgungsaufgaben zu übernehmen (vgl. Cicirelli, 1998;

Trommsdorff, in Druck). Unter der Annahme, dass die Bindungsbeziehung weitreichende Bedeutung rur die soziale und emotionale Entwicklung über

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die Lebensspanne hat, stellt sich die Frage, inwieweit sie Einfluss auf die Bereitschaft hat, nicht nur in die junge, sondern auch in die alte Generation zu investieren.

Die Frage der Intergenerationenbeziehungen betrifft auch Fragen kultu- reller Transmission und sozialen Wandels. Von Interesse ist hier beispiels- weise, welche Rolle die Großelterngeneration in verschiedenen Kulturen spielt, welches Mitspracherecht sie etwa bei Fragen der Familienplanung und welchen Anteil sie an der Kindererziehung hat. Dies betrifft ihre Rolle sowohl bei der Transmission kultureller Werte an die Kinder als auch an die Enkel-Generation. Besonderes Interesse kommt dabei der Frage zu, welche Zusammenhänge zwischen den kulturspezifisch variierenden Erwartungen in Bezug auf Intergenerationenbeziehungen, den individuellen Eltem-Kind- Beziehungen und der Bindungsqualität bestehen.

Unter Berücksichtigung der hier angesprochenen Konzepte wird in eige- nen kulturvergleichenden Untersuchungen (NauckfTrommsdorff, 1998) ge- genwärtig versucht, zum einen der Frage nach Veränderungen von VOC als Ergebnis von sozioökonomischem Wandel und zum anderen den kulturpsy- chologischen Bedingungen und Funktionen von VOC nachzugehen. Damit wird ein erweiterter Ansatz von "Value-of-children" erprobt, um Bindung, Selbstkonzept und Werthaltungen als moderierende Variable in ihrem Ein- fluss auf Intergenerationenbeziehungen in verschiedenen Kulturen zu unter- suchen (Trommsdorff, in Druck). Ziel dieses erweiterten Ansatzes ist es, präzisere Aussagen über die Bedingungen rur Fertilitätsentscheidungen in verschiedenen Kulturen treffen zu können. Ziel ist auch, auf der Grundlage von kulturspezifischen und entwicklungspsychologischen Analysen ein Mo- dell zu entwickeln, das die Veränderungen in Intergenerationenbeziehungen als Modemisierungsfolgen problematisieren und erklären kann, woraus sich Ableitungen rur kulturangemessene Entwicklungsstrategien ergeben könn- ten.

5. Zusammenfassung und Ausblick

Die klassischen westlichen Modernisierungstheorien haben sich bei der Er- klärung sozialen Wandels bzw. des Erfolgs und Misserfolgs westlicher Entwicklungsstrategien in außereuropäischen Ländern (z. B. Japan und In- dien) oftmals als kurzsichtig und unbefriedigend erwiesen und haben offen-

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bar eine kulturell nur begrenzte Reichweite. Dies ist umso problematischer, wenn zudem psychologische Faktoren im Modernisierungsprozess vernach- lässigt werden. Beispiele filr "erfolgreich" und "nicht erfolgreich" verlaufe- ne Modernisierungsbemühungen zeigen, dass kulturelle Faktoren und damit verbundene psychologische Prozesse den Modernisierungsverlauf fördern oder hemmen können. Eine präzise Kenntnis über funktionale Zusammen- hänge von Modernisierungsbedingungen und -folgen ist grundsätzlich nötig, wenn es darum geht, Entwicklungsstrategien erfolgreich einzufilhren, die auch als Rehabilitationsmaßnahmen wirksam sein können, z. B. um Fehl- entwicklung in bestimmten Bereichen zu beenden oder zu kompensieren (Trommsdorff, 2000).

Der Verlauf und die Folgen von Modernisierung werden durch kulturelle Faktoren und psychologische Prozesse mitbestimmt. Diese Faktoren sind auf verschiedenen Ebenen wirksam, wie den historisch gewachsenen Struk- turen, tradierten und geteilten Überzeugungssystemen, individuellen Sozia- lisationserfahrungen und Handlungsorientierungen.

Ob und inwieweit die unerwünschten Folgen von Modernisierung, wie sie durch die Bevölkerungsexplosion in Armutsländern und Implosion in Wohlstandsgesellschaften gegenwärtig weltweit zu tiefgreifenden Verände- rungen und Problemen filhren, bewältigt werden können, ist eine offene Frage. Es ist jedoch anzunehmen, dass kulturpsychologische Analysen, die sowohl kulturelle Faktoren als auch die individuelle Handlungsebene be- rücksichtigen, eine differenziertere Analyse dieser Probleme erlauben.

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