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AMMERN. erkehrsuerein matttttteftt. eimatkundliche Publikation Nr. 17. d seine politische Entwicklung

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erkehrsuerein matttttteftt

eimatkundliche Publikation Nr. 17

AMMERN

d seine politische Entwicklung

Vor zehn Jahren wurde Mammern als eigenständige Politische Gemeinde kon­

stituiert. Daher feiern wir dieses Jahr nicht nur 200 Jahre Thurgau, sondern auch zehn Jahre Politische Gemeinde Mammern.

ln diesen" zehn Jahren wurde viel er­

reicht; eine effizi.ente und schlanke Ver;_

waltung wurde aufgebaut, der Steuer­

fuss konnte kontinuierlich gesenkt wer­

den, die Versorgungsinfrastruktur ist auf modernstem Stand. Mammern beweist im täglichen Leben immer wieder, dass auch heute kleine Einheiten nicht nur . überlebensfähig sind, sondern auch effi­

zient und bürgernah funktionieren kön­

nen. Die direkte Demokratie wird beson­

ders intensiv in kleinen Einheiten gelebt. ·

Darum ist es nicht weiter erstaunlich, dass Mammern am Jubiläumsfest «200 Jahre Thurgau» als eine der Hauptat­

traktionen einen politischen Stammtisch mit verschiedenen Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben veranstaltet.

Das Engagement und die Initiative, wel­

che hinter dem gesamten Auftritt von Mammern in Frauenfeld steckt, ist ein Zeichen für die Identifikation und Ver­

bundenheit mit Mammern. Allen Verei­

nen und Personen, die an diesem Auftritt mitwirken, sei hier ein herzliches Danke­

schön gesagt. Wir alle freuen uns auf zahlreiche interessante und spannende Begegnungen und Gespräche in der Mammerner Festwirtschaft «Aieböck>>.

Anita Däh/er-Enge/, Gemeindeammann

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Mammern am Kantonsjubiläum

Von Markus Germann

ln Mammern bestand von Anfang an eine sehr positive Grundstimmung zum grossen Jubiläumsfest Bei der Präsen­

tation in Frauenfeld konzentriert man sich auf Bereiche, welche typisch für unser Dorf sind. Rege Diskussionen an den Stammtischen in den überregional bekannten Gasthäusern waren und sind wichtig für das politische Leben im Dorf.

2

So liegt es nahe, auch in der Festbeiz i Frauenfeld politische Diskussionsfo zu veranstalten und dabei namhafte sönlichkeiten des öffentlichen Lebens Kanton in die Gespräche einzubeziehen Kantonsrat Hansjörg Lang ist an den Jubiläumstagen für die einstündigen kussionen verantwortlich und freut auf interessante Gesprächsrunden.

Stammtischgespräche pflegen

Zum Thema «Tourismus und Verkeh nehmen am Freitag von 17 bis 1 8 Regierungsrat Hanspeter Ruprecht u

Ex-Nationalrat Ernst Mühlemann PI am Stammtisch in der Mammerner wirtschaft «Aieböck» . Am Samstag gleichen Zeit stehen Ständerat Dr. Phi lipp Stähelin und Regierungsrat Dr.

par Schläpfer Rede und Antwort

«Wirtschaft und Soziales». Der « Wirtschaft» gewidmet ist die dritte sprächsrunde am Sonntag von 1 0 bis 1

Uhr. Bei Moderator Dr. Hansjörg werden die Bauernsekretärin Dr. Herm ne Hascher und Ständerat Dr. Hni'YY"I�n.­

Bürgi Platz nehmen. Die Gesp

den sollen aufzeigen, wie in Mammern Beispiel einer kleinen Gemeinde m

hohem politischem Selbstverständnis Föderalismus und Eigenständigkeit pflegt werden.

Singen und Schiessen

Singen hat in Mammern seit mehr einhundert Jahren bei den Männern dition. Die Jahresunterhaltungen in

Mehrzweckhalle ziehen im Januar weils ein grosses Publikum aus nah fern an. Die sangesfreudigen Frauen Mammern und Umgebung haben letzten Jahr einen Frauenchor gegründ und können bereits auf einige erfol ehe Auftritte zurückblicken.

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Deshalb wird die im Unterseedorf beste­

hende Gesangskultur an allen drei Fest­

tagen hochgehalten beim «Offenen Sin­

gen» mit Claudia Hugentobler. Sie leitet seit vielen Jahren erfolgreich den Män­

nerchor und seit der Gründung des . Frauenchors auch diesen. Das Singen findet am Freitag und Samstag von 1 9 bis 20 Uhr statt, am Sonntag von 1 3 bis

1 4 Uhr im Anschluss an den Frühschop­

pen, der um 1 1 .30 Uhr beginnt.

Im Frühling 2003 feierte die Feldschüt­

zengesellschaft Mammern ihr 1 25-Jahr­

Jubiläum, welches in der Heimatkundli­

chen Publikation Nummer 1 6 gewürdigt wurde. Auf spielerische Art bieten die erfolgreichen Schützen und Schützinnen mit dem Laserschiessen die Möglichkeit, den Schiesssport kennen zu lernen.

Bildhauerin Heidi Beerli aus Mammern und Matthias Schneider aus Berlingen stellen während drei Tagen ihr Hand­

werk vor. Zwei grosse Steinplatten wer­

den bearbeitet und nach dem Fest als Kunstwerke in den Gemeinden als Erin­

nerung an das Jahrhundertfest platziert.

Gut speisen im «Aieböck»

Kulinarisch kann man sich in der Fest­

Wirtschaft «Aieböck» verwöhnen lassen.

Diese ist am Freitag zwischen 1 0 Uhr und 2 Uhr, am Samstag zwischen 1 0 Uhr und 4 Uhr sowie am Sonntag von 1 0 Uhr bis zum Festschluss am Abend offen. Angeboten werden Fischknusperli mit Sauce Tartar, hausgemachter Kar­

toffelsalat, Hamburger, Grillspiessli so­

wie zum Dessert Apfelstrudel mit Vanille­

sauce. Die Bar ist jeweils ab 20 Uhr geöffnet.

Der Bezirk Steckborn präsentiert sich in Frauenfeld unter dem Motto

«SEE, RHY - NaTHUR PUR» im Dreieck hinter der Post, der Kanto­

nalbank und dem Swisscom-Ge­

bäude. Der Festplatz der Seege- . meinden Berlingen und Mammern befindet sich im . Hof der Liegen­

schaft «Kesselring» und ist über ei­

nen Hochwassersteg zu erreichen.

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Die «kleine Helvetik» - Ein paar Überlegungen zur Medi tionszeit im Thurgau 1803 bis 1813

;

Von Andre Sa!athe, Staatsarchivar

Am 1 9. Februar 1 803 unterzeichnete Na-' poleon I. in Paris die sogenannte Media­

tionsakte: 1 9 Kantonsverfassungen und eine Bundesverfassung für die «Schwei­

zerische Eidgenossenschaft».

Am 1 0. März hörte die 1 798 aufgerich­

tete «eine und unteilbare Helvetische Re­

publik», dieses in der Geschichte der Schweiz einzigartig dastehende «Labo­

ratorium der Moderne», zu existieren auf;

unser Land mutierte vom topmodern gedachten, aber wenig verankerten Ein­

heitsstaat zur Föderation von 1 9 souve­

ränen Kantonen; an die Stelle des Paria- ments trat wieder ein Gesandtenkon-\

gress, die Tagsatzung. Zwar setzte Na­

poleon 1 803 mit der Mediation auf den Föderalismus als dem für die Schweiz gleichsam von der Natur vorgegebenen System, die Reaktion billigte er aber nicht: Neben der Wiederherstellung der Landsgemeinde- und der Städtekanto­

ne garantierte er vielmehr die Existenz von sechs neuen Ka'ntonen, ·darunter fünf, die aus früheren Untertanengebie­

ten gebildet wurden: Aargau, St. Gallen, Thurgau, Tessin und Waadt. Sie verkör­

perten fortan die Erbschaft der Revoluti­

on, wirkten in einer wieder konservativ gewordenen Eidgenossenschaft als En­

klaven des helvetischen Fortschrittsgeis­

tes weiter - auch noch, als nach dem Sturz Napoleons 1 81 3 die Restaurati­

onszeit vollends anbrach und das Rad der Geschichte allenthalben in Europa zurückgedreht wurde. Dass es genau diese Kantone waren, die sich 1 830/31 dann schnell «regenerierten», das heisst, wieder an die Mediation und die Helvetik anknüpften und in der Folge zielstrebig auf einen schweizerischen Bundesstaat hinarbeiteten, ist kein Zufall. Die neuen

4

Kantone waren die Baumeister des Bu desstaates; für sie war die Mediation vori 1 803 nicht eine «kleine

(als Vorläuferin der «grossen Restaurati­

on» von 1 81 5), sondern viel eher

«kleine Helvetik» gewesen. I ,..,U,JVVI

re für den Thurgau: Er verdankte der H

vetik seine Existenz, der Mediation Unabhängigkeit.

Chronologie der Ereignisse 1 802-1

Auch auf dem Boden der 2. H sehen Verfassung gelang es der Ze regierung nicht, stabile Verhältnisse der Schweiz herzustellen. Als Fran im Sommer 1 802, nicht ohne Hinterg danken, seine Truppen aus der

abzog, schritten die gegenrevol nären föderalistischen Kräfte zum stand. Binnen kürzester Zeit wurde offensichtlich, dass die Schweiz u den gegebenen Umständen nicht war, sich selber zu regieren.

Der 1 . Konsul der Französischen Re blik, Napoleon Bonaparte, wartete d halb nicht lange zu: Bereits am 30.

tember erliess er eine Proklamation, der er unter Drohung erneuten mi sehen Eingreifens seine Vermittlung diation) ankündigte und eine netenversammlung (Konsulta) zu nach Paris beschied, um mit ihr zu men die künftige verfassu

Grundlage der Schweiz zu Obgleich mehr Unitarier als Föderal dieser Konsulta angehörten, d Napoleon eine föderalistische sung.

Bildlegende zu Seite 5: ln der Mediationsakte 19. Februar 1803 befinden sich die von Napoleon naparte diktierten 19 Kantonsverfassungen sowie Bundesverfassung. Die Druckschrift wurde durch Unterschrift des Landammanns der Schweiz bigt. Ein Exemplar befindet sich im Staatsarchiv Kantons Thurgau in Frauenfeld

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Der Seerücken zwischen Frauenfeld und Mammern mit der noch ungebändigten Thur auf der Dufourkarte von 1850

Die am · "19. Februar i 803 verabschiede­

te sogenannte Mediationsakte gliedert sich in fünf Teile:

"1 . Präambel (von Napoleon im Pluralis majestatis abgefasst)

2. Kapitel "1 bis "19: Kantonsverfassun­

gen Appenzell- Zürich, wobei zwi­

schen Landsgemeindekantonen, Städ­

tekantonen und neuen Kantonen un­

terschieden wird; Graubünden muss als Spezialfall angesehen werden.

3. Kapitel 20: Bundesverfassung

4. Übergangsbestimmungen 1: Ernen- nung des Landammanns der Schweiz und der kantonalen Regierungskom­

missionen (Übergangsregierungen) 5. Übergangsbestimmungen 11: Tilgung

der National-Schulden der Helvetik

Der Kanton Thurgau - einer der Erben der Helvetik

Die Mediationsakte wird von der heute massgeblichen gesamtschweizerischen Geschichtsforschung eher zurückhal-

6

tend beurteilt. Allgemein wird herausge­

strichen, dass es sich dabei um ein Dik­

tat Napoleons gehandelt habe; die Ver­

fassung sei von der betroffenen Bevöl­

kerung - entgegen dem von Frankreich Jahre zuvor verkündeten Selbstbestim­

mungsrecht der Völker- nicht abgeseg­

net gewesen. Andererseits wird konze­

diert, die Mediationsakte habe der Schweiz eine zehnjährige Phase relativ ruhiger Entwicklung beschert. Der Zür:.

eher Verfassungsgeschichtler Alfred Kölz etwa beurteilt die Mediationsakte zwar als politisch geschickten, verfassungs­

rechtlich aber doch sehr unvollkomme­

nen Kompromiss in bewegter Zeit, doch bestehe kein Grund, «der Mediationsak­

te als Verfassungswerk verklärend einen Leitbildcharakter für spätere geschicht­

liche Perioden zuzusprechen; solche Urteile» hätten «sich vor allem in der rückblickenden Sicht durch die Brille noch unbefriedigenderen Bundesvertra­

ges von "18"15 gebildet».

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Misst man die Mediationsverfassung aus gesamtschweizerischer Sicht an den staatstheoretischen Leistungen der Hel­

vetik und an den Bundesverfassungen von 1848 und 187 4, kann dem zwar durchaus beigepflichtet werden - der Geschichte der fünf neuen Kantone, ins­

besondere deren Rolle, die sie im 19.Jahrhundert in Bezug auf die Moder­

nisierung des Bundes spielen sollten, wird Kölz' Urteil aber nicht gerecht. ln Bezug auf sie würde man von der Media­

tion besser von einer «kleinen Helvetik»

sprechen. Denn «die untergegangene Helvetische Republik lebte», wie Ulrich Im Hof richtig festgestellt hat, «Weiter in den fünf neuen Kantonen von 1803».

Dass in diesen Kantonen an eine Rück­

kehr zu den vorrevolutionären Verhält­

nissen überhaupt nicht mehr zu denken war, als die Mediations-Bundesverfas­

sung mit Artikel 3 jedes Untertanenver­

hältnis unter den Kantonen au?schloss, liegt auf der Hand. So wurden in diesen Kantonen zentralistische Repräsentativ­

Demokratien etabliert, die in einem aus der Rückschau schier unglaublichen Tempo darangingen, moderne Staats­

wesen aufzubauen.

Wer die zehn zwischen 1803 und 1812 erschienenen Bändchen des «Tagblatts der Beschlüsse, Dekrete und Verord­

nungen, welche zufolge der Mediations­

Akte von dem Grossen und dem Kleinen Rath des Kantons Thurgau ausgegan­

gen» durchblättert, kommt aus dem Staunen über die stürmische, innovative, auf die Ideen der Helvetik munter zu­

rückgreifende kantonale Gesetzgebung nicht mehr heraus.

Was hier - und in den anderen Mediati­

onskantonen - passiert, ist nichts ande­

res als der gelungene Beginn der Ver­

wirklichung des gescheiterten helveti­

schen Programms.

Zunächst wird eine Behörden- und Ver­

waltungsorganisation auf die Beine ge­

stellt, die in ihren Grundzügen bis heute besteht:

Legislative (Grosser Rat),

Exekutive (Kleiner Rat, heute Regie­

rungsrat),

Judikative (Appellationsgericht, heute Obergericht; Verwaltungsgericht).

Die Gewaltentrennung ist zwar nicht konsequent durchgeführt, indem bei­

spielsweise die Regierungsmitglieder zugleich dem Parlament angehören, im Vergleich zu den Landsgemeindekanto­

nen und den Städtekantonen, die weit­

gehend zu ihren Oligarchien, Patriziaten und Zunftregimenten zurückkehren, weist der Thurgau aber eine moderne Behördenorganisation auf. Die relative Modernität des Kantons zeigt sich viel­

leicht am besten daran, dass er jetzt über ein Verwaltungsgericht verfügt- ein Zustand, der, nachdem das Gericht mit der Restauration 1815 abgeschafft wur­

de, erst 1984 wieder erreicht werden sollte.

Am weitaus meisten zum Erfolg der neuen Staatsverwaltung trägt aber mit Sicherheit bei, dass der Kanton Thurgau die Bezirks- und Kreisbehörden aus der Helvetik übernimmt. Den Distriktsstatt­

haltern und Distriktsgerichten sowie den Friedensrichtern und Friedensgerichten kommt bei der Durchsetzung des mo­

dernen verwaltungsmässigen Zugriffs auf die Bevölkerung ausschlaggebende Bedeutung zu.

Vom direktdemokratischen System von 1869 ist man allerdings noch weit ent­

fernt. Die Rechte des Grossen Rates sind verhältnismässig eingeschränkt; die Stellung des Kleinen Rates ist sehr domi­

nant. Überdies gelangt in die verschie­

denen Behörden nur, wer über je vorge­

schriebene Vermögenswerte verfügt - ein Staat der Eigentümer ohne vollstän-

(8)

dig durchgeführte Rechtsgleichheit also;

allerdings einer, der zwischen 1803 und 1813 ein gewaltiges Modernisierungs­

pensum bewältigt.

Der Mediationskanton Thurgau

initiiert und führt eine eigene Aussen­

politik,

baut einen eigenen Finanzhaushalt mit indirekten und direkten Ste.uern auf, während die Zehnten und 'Grundzin­

sen langsam abgelöst werden'

baut (gegen Widerstände) eine eigene Miliz auf,

gründet die Kantonspolizei (1803),

gründet die Gebäudeversicherung (1806),

gründet die Zucht- und Arbeitsanstalt Tobel (1809/11),

organisiert die Gemeinden (1803 bis 1816),

legt zielstrebig ein Netz von Kunst­

strassen an (1803 bis 1813),

fördert gezielt die Landwirtschaft,

professionalisiert das Gesundheitswe­

sen (Sanitätsrat),

hebt das Erziehungswesen markant (Erziehungsrat).

Kurz: Der Kanton Thurgau gehört mit den Kantonen Aargau, St. Gallen, Tessin und Waadt zusammen schon bald ein­

mal zu den am modernsten organisier­

ten Kantonen der Schweiz. 181 5, als nach dem Sturz Napoleons die soge­

nannte «grosse Restauration» kommt, wird es zwar auch in diesen Kantonen ein gutes Stück konservativer, landesvä­

terlicher, miefiger; an den zwischen 1803 und 1813 geschaffenen staatli­

chen Strukturen kann aber nicht mehr gerüttelt werden.

Der Thurgau als Geburtshelfer der modernen Schweiz

1830/31 gehören die neuen Kantone zu den ersten, die sich regenerieren (Tessin schon 1829). Mit der Bornhauser-Bewe-

8

gung geht der Thurgau zeitlich sogar voran. Und setzt mit Artikel 216 ein Pro7 gramm in seine neue Verfassung, das verfassungsges�hichtlich ein Unikum ist, die Gründung des Bundesstaats vor­

denkt:

«Der Kanton erklärt sich gegen die schweizerischen Mitstände geneigt:

a) für gemeinschaftliche Aufstellung ei'­

nes obersten Gerichtshofes;

b) für Errichtung gemeinschaftlicher Kor,.

rektions- und Arbeitshäuser;

c) für Zentralisierung alles politischen Verkehrs mit dem Auslande;

d) der Posten;

e) der Münzen, des Gewichtes und des Masses;

� des Militärwesens;

g) der Zölle und Weggelder.»

So geht es denn mit diesen helvetischen Postulaten munter auf den Bundesstaat zu. Der Thurgau hat, als einer der Haupt­

nutzniesser der Helvetischen Revolution von 1798, an vorderster Front für den Bundesstaat von 1848 gekämpft und damit an der Erfolgsgeschichte dieses Bundesstaates - zusammen mit deh anderen Mediationskantonen - einen grossen Anteil gehabt.

Das erkennt man etwa daran, dass die beiden Redaktoren der Bundesverfas­

sung aus der Waadt (Henri Druey) und dem Thurgau (Johann Konrad Kern) stammten. Oder dass im ersten Bun­

desrat neben dem Zürcher Jonas Furrer, dem Berner Ulrich Ochsenbein und detml Solothurner Josef Munzinger der Aar­

gauer Friedrich Frey-Herose, der Tessi­

ner Stefano Franscini, der St. Galler Mat:­

thias Naeff und der Waadtländer D sassen. Kern wäre, möglicherweise ,an"' stelle Munzigers, ebenfalls gewählt wor:­

den, hätte er es nicht vorgezogen, Präsident des - noch nicht ständigen - Bundesgerichts zu werden.

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Auch später sind die Mediationskantone prominent in der Landesregierung ver­

treten; der Thurgau von 1875 bis 1880 mit Fridolin Anderwert, von 1883 bis 1912 mit Adolf Deucher und von 1920 bis 1934 mit Heinrich Häberlin.

DassAnderwert und Deucher in die Lan­

desregierung Einzug hielten, hängt mit der sogenannten Demokratischen Be­

wegung der 1860er- und 1870er-Jahre zusammen, als der Thurgau wieder an vorderster Front mit dabei war, direktde­

mokratische Elemente zuerst in seine

eigene Verfassung von 1869, dann auch in die revidierte Bundesverfassung von 187 4 einzuführen.

So kann man denn durchaus sagen, dass der Kanton Thurgau bis ins dritte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein einer der modernsten Kantone der Schweiz war.' Erst mit der zweiten Industrialisie­

rungswelle am Ende des 19. Jahrhun­

derts geriet er dann zunehmend ins Hin­

tertreffen, wandelte er sich zu einem eher beschaulichen, wenn auch nie rückständigen Kanton.

Ausschnitt aus der Karte der Herrschaft Mammern von 1 755: Das Original wird im Staatsarchiv des Kantons Zürich aufbewahrt, eine Fotografie im Massstab 1:1 hängt im Keller des Schulhauses Mammern.

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Politik im Kanton Thurgau

Von Dr. Hansjörg Lang, Kantonsrat

Der Kqnton Thurgau ist ein souveräner Staat der Schweizerischen Eidgenos­

senschaft. Grundlage sind die Demokra­

tie und die Gewaltentrennung. Die ge­

setzgebende Behörde oder Legislative ist der Grosse Rat. Die ausführende Be­

hörde oder Exekutive ist der fünfköpfige Regierungsrat. Die richterliche Behörde oder Judikative ist das Obergericht res­

pektive das Verwaltungsgericht

Der Regierungsrat

Er wird vom Volk im Majorzsystem ge­

wählt, das heisst, die fünf Männer und Frauen mit den meisten Stimmen im Kanton sind gewählt. Jeder Regierungs­

rat steht einem Departement vor: Inne­

res und Volkswirtschaft, Erziehung und Kultur, Justiz und Sicherheit, Bau und Umwelt, Finanzen und · Soziales. Die Staatskanzlei und damit die Infrastruktur für die kantonalen Behörden führt der Staatsschreiber,. der «sechste Regie­

rungsrat». Er nimmt ohne Stimmrecht an de·n Regierungsratssitzungen teil. Der Regierungsrat ist, eine Kollegialbehörde, das heisst, wenn ein Beschluss mit Mehrheit gefasst ist, ,spricht in der Öf­

fentlichkeit keiner dagegen.

Die Schweizerische Volkspartei SVP stellt zur Zeit zwei Regierungsräte, die Christlichdemokratische Volkspartei CVP einen, die Freisinnig-Demokrati­

sche Partei FDP einen und den Staats­

schreiber sowie die Sozialdemokrati­

sche Partei SP einen Regierungsrat. ,..

Der Grosse Rat

Er besteht aus 130 Kantonsrätinnen und Kantonsräten, die auf vier Jahre gewählt werden. Sitzungsort ist im Winterhalb­

jahr Weinfelden, im Sommerhalbjahr

' 10

Frauenfeld. Sitzungslokal ist jeweils das Rathaus dieser Gemeinden. Die Wahl­

kreise sind die acht Bezirke, denen je gernäss ihrer Zahl der Stimmberechtig.:

ten Sitze zustehen. Gewählt wird im Pro­

porzsystem, das heisst, die politischen Parteien gewinnen Sitze proportional zu den für die Partei abgegebenen Stim­

men.

Parteienstärke: Im Kanton stehen der SVP zurzeit 43 Sitze, der CVP 27, der FDP 24, der SP 22, der Grünen Partei GP 8, der Evangelischen Volkspartei EVP 5 und der Eidgenössisch Demokra­

tischen Union EDU 1 Sitz zur Verfügung.

Die Kantonsräte der gleichen Partei bil­

den eine sogenannte Fraktion, wenn sie über fünf oder mehr Sitze verfügen. Der Bezirk Steckborn hält zehn Sitze, vier werden besetzt durch die SVP, je zwei durch die CVP und FDP, je einen durch die SP und die GP. Die nächsten Wahlen finden im Jahre 2004 statt.

Verfassung, Gesetze, Verordn ungen

Grundlage unseres politischen Systems ist die Verfassung. Sie enthält alle Rech­

te und Pflichten des Volkes und ihrer Behörden. Dabei beschränkt sie sich auf die Grundsätze und das Fundamentale.

Jede kleinste Änderung der Verfassung muss vom Volk in einer Abstimmung genehmigt werden.·

Die Grundsätze, die in der Verfassung verankert sind, werden durch den Gros­

sen Rat in Gesetze gekleidet. Darin wer�

den Ziel, Details der Durchführung und rechtliche Konsequenzen bei Übertre­

tungen festgehalten. Die Gesetze wer­

den durch den Regierungsrat aufgestellt und den Kantonsräten mit einer er­

klärenden Botschaft übermittelt. Eine meist 13-köpfige, nach Fraktionsstärke zusammengesetzte vorberatende Kom'"

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mission befasst sich intensiv mit der Vorlage, nimmt Änderungen vor und ver­

tritt die beschlossene Fassung an der Grossratssitzung. Wie schon in der Kommission wird im Parlament jedes Gesetz zweimal beraten, die sogenann­

te 1. und 2. Lesung.

Nach einer nur noch formalen Überar­

beitung durch eine Redaktionskommis­

sion wird in einer Schlussabstimmung das ganze Gesetz angenommen oder verworfen. Angenommene Gesetze wer­

den rechtskräftig, wenn nicht ein Refe­

rendum ergriffen wird. Die Stimmen von 30 Kantonsräten und Kantonsrätinnen oder die Unterschriften von 2000 Stimm­

bürgerinnen und Stimmbürgern sind nötig, damit ein Gesetz dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird.

Die technischen Details zur Anwendung eines Gesetzes bestimmt der Regie­

rungsrat in einer Verordnung. Dabei wacht der Grosse Rat sehr streng darü-

ber, dass der Regierungsrat nicht eigen­

mächtig neue Aspekte ins Spiel bringt.

Auch darf er eine Verordnung nur erlas­

sen, wenn ihn das Gesetz ausdrücklich dazu ermächtigt.

Politische Möglichkeiten der Kantonsrätinnen und Kantonsräte (Der Einfachheit halber wird im folgenden Abschnitt nur die männliche Form ver­

wendet.) Jeder Kantor)srat darf sich zu jedem Geschäft äussern. Er gibt bei Abstimmungen durch Erheben vom Sitz seine Zustimmung bekannt, ist er ande­

rer Meinung, bleibt er sitzen. Er kann Ein­

sitz nehmen in einer Kommission, wenn seiner Fraktion ein Sitz .zusteht und er von der Fraktion gewählt wird. Es gibt sogenannte Spezialkommissionen, die nur für eine bestimmte Vorlage einge­

setzt und dann wieder aufgelöst werden.

Für die Bewältigung grösserer Brocken und von Geschäften, die jährlich wieder-

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kehren oder kontinuierlich zur Debatte stehen, werden ständige Kommissionen auf vier Jahre gewählt: Kontrolle der Ver­

waltung und der· Finanzen, Raumpla­

nung oder Gemeindeorganisation.

Mit persönlichen Vorstössen kann ein Kantonsrat ein politisches Thema in den Grossen Rat einbringen, das ihm am Herzen liegt oder ihn besonders interes­

siert. Mit einer Einfachen Anfrage ver­

langt er vom Regierungsrat Auskunft. Er reicht sie schriftlich ein und erhält eine schriftliche Antwort. Eine Diskussion im Rat findet nicht statt; im Gegensatz zur Interpellation. Diese wird ebenfalls schriftlich eingerei"cht, vom Regierungs­

rat schriftlich beantwortet und auf Wunsch des Interpellanten mündlich dis­

kutiert, wenn eine Mehrheit des Grossen Rates einer Diskussion zustimmt.

Anschliessend ist das Thema erledigt, Beschlüsse werden nicht gefasst.

Die stärkste Form des persönlichen Vor­

stosses ist die Motion. Auch sie wird schriftlich formuliert und begründet und vom Regierungsrat schriftlich beantwor­

tet. Eine Diskussion im Rat ist obligato­

risch. Am Schluss der Debatte findet eine Abstimmung darüber statt, ob die Motion erheblich sei oder nicht. Stimmt eine Ratsmehrheit der Motion zu, muss der Regierungsrat innert zwei Jahren das Anliegen in eine Gesetzesvorlage kleiden und dem Rat vorlegen.

Persönliche Vorstösse werden oft und vor allem in Wahlzeiten zu Wahlzwecken missbraucht. Man will sich in die Presse bringen und greift dazu ein aktuelles Problem auf, auch wenn der Grosse Rat zum Thema nichts zu sagen und nichts zu entscheiden hat. Dies führt zu un:.

fruchtbaren und eigentlich unnötigen stundenlangen Debatten. Fallen sie in die Nachmittagsstunden, ist die Lange-

Der Grosse Rat des Kantons Thurgau tagt im Winter in Weintelden (oben), im Sommer in Frauenfeld (Seite 11).

12

(13)

weile total. Zurzeit erleben wir eine Infla­

tion von Vorstössen, die auf die Grass­

ratswahlen 2004 zielen.

Zeitliche Belastung

Ausserhalb der Ferienzeit findet alle zwei Wochen eine Grassratssitzung statt. Sie dauert in der Regel von 9.30 Uhr bis 12.30 Uhr. Bei grosser Belastung wer­

den Ganztagessitzungen abgehalten und die Debatte um 14 Uhr bis etwa um 17 Uhr nochmals aufgenommen. Aller­

dings sind Nachmittagssitzungen wenig beliebt und auch nicht sehr ergiebig, da nach dem Mittagessen die Konzentrati­

onsfähigkeit stark nachlässt.

Vor der Grassratssitzung - bei den Frei­

sinnigen von 7.15 Uhr bis 9.20 Uhr- fin­

det eine Fraktionssitzung statt, in wel­

cher die Ratsgeschäfte aus Sicht der Partei durchleuchtet und Abänderungs­

anträge formuliert und diskutiert werden.

Durch diese Vorbereitung verlaufen die Ratssitzungen wesentlich speditiver.

Die Vorbereitung einer Grassratssitzung nimmt mehrere Stunden in Anspruch.

Die Interpellationen, Motionen und Bot­

schaften des Regierungsrates müssen

· studiert werden und man muss sich eine Meinung bilden. Besonders aufwendig wird es, wenn man eine Vorlage in der Fraktion und im Rat vertreten muss. Es wollen Manuskripte verfasst werden, denn die wenigsten Kantonsräte beherr­

sehen die Kunst der freien Rede.

Wer mehr Zeit aufwenden kann und will, meldet sich in eine Kommission. Beson­

ders aufwendig ist die Geschäftsprü­

fungs- und Finanzkommission. Sie be­

sucht die Verwaltung und diskutiert mit den Regierungsräten und den Chefbe­

amten auftretende Probleme. Sie nimmt das Budget auseinander und diskutiert es, ebenfalls die Staatsrechnung. Wer in einer solchen Kommission sitzt, wendet dafür gut und gern einen zusätzlichen Tag in der Woche auf.

Bund und Kanton Thurgau

Die Verfassung und die Gesetze in den Kantonen müssen eidgenössisches Recht einhalten und dürfen ihm nicht widersprechen. Leider wird je länger je intensiver das Bundesrecht ausgedehnt und der Spielraum der Kantone enger.

Statt die Probleme auf der unteren Stufe zu lösen und die Flexibilität der kleinen Einheiten auszunützen, wird das Ein­

heitsgesetz angestrebt, das im ganzen Land Gleichheit schafft. Genannt seien Krankenversicherung, Schulen und Spi­

täler, Sozialgesetze und Steuerrecht. Ist . es sinnvoll, im Kanton Appenzell und im

· Kanton Genf dieselben Kinder- und Familienzulagen auszubezahlen?

Ein aktuelles Beispiel von übertriebener Einmischung des Bundes in die Domäne der Kantone und Gemeinden ist die neue Verordnung über die Zivilstandsämter.

Nicht nur Professionalität und Anwen­

dung der EDV wird gefordert, sondern gleichzeitig wird bestimmt, jeder Zivil­

standsbeamte müsse zu mindestens 40 \

Prozent als solcher angestellt sein. Dies führt dazu, dass kleinere Gemeinden das Zivilstandsamt nicht mehr selber führen dürfen, ein Unsinn sondergleichen und ein absolut unerlaubter Eingriff in Struk­

turen, deren Organisation dem Kanton zusteht. Der Grosse Rat des Kantons Thurgau hat sich zu Recht gewehrt und beschlossen, diese Verordnung nicht auszuführen. Man darf gespannt sein auf das Resultat unseres berechtigten Wi­

derstandes gegen diesen Übergriff der Eidgenossenschaft.

Politische Kultur pflegen

Im kantonalen Parlament wird zur Sache gesprochen. Nur wenige Kantonsrätin­

nen und Kantonsräte zielen mit ihren Voten gegen ihre Kollegen oder gegen andere Parteien. Dies führt zu einem sehr angenehmen Klima und Freund­

schaften über die Parteien hinweg.

(14)

Politisch aktiv auf kantonaler und eidgenössischer Ebene

Von Markus Germann

Aus Mammern nehmen derzeit Frau Gemeindeammann Anita Dähler-Engel (CVP) seit i 999 und Landarzt Dr. Hans­

jörg Lang (FDP) seit i 984 Einsitz im

Für seine grossen Verdienste als Dorfschullehrer und Kantonalpolitiker erhielt Heinrich Lang mit seiner Frau Fridel Lang-Meier das Ehrenbürgerrecht der Gemein­

de. Eine Würdigung seiner Tätigkeit folgt in der Publi­

kation Nummer 19 (Mammern und seine Schule).

Grossen Rat des Kantons Thurgau. Bis vor kurzem war mit Zahnärztin Dr. Mar­

tha Kuster (FDP) gar eine weitere Ein­

wohnerin als Grassrätin im Einsatz. Die­

se Häufung findet man in der Vergan­

genheit nicht. Bei der Durchsicht der Karteikarten seit i 803 im Staatsarchiv des Kantons Thurgau finden sich viele Politiker- bis vor wenige Jahrzehnte wa­

ren es ja nur, Mär:mer- aus den Gemein­

den Eschenz, Steckborn, Berlingen und

nur wenige aus Mammern. Die Mam­

merner Politiker machten dafür teilweise auch auf eidgenössischer Ebene Karrie­

re, nämlich Dr. med. Oscar Ullmann als Nationalrat (siehe Seiten i 5 bis i 7) Erich Ullmann als Ständerat (siehe Seiten i 8 bis i 9). Weitere Grassratsmitglieder aus Mammern waren gemäss Kar­

teifunden Waldemar Ullmann (i 94 i bis i 944) sowie Landwirt und Ortsvorsteher 'Walter Sigwart, der Vater des späteren Ortsvorstehers gleichen Namens (i 944 bis zum Tod im Dezember i 945).

Lehrer und Grossrat

Heinrich Lang, charismatischer

schullehrer von i 944 bis zur Pensionie'"

rung im Frühling i 986, setzte sich als FDP-Politiker stark für die Belange der Untersee-Region ein und ebnete mit zahlreichen Vorstössen den Weg Mam­

merns zur Selbständigkeit. ln seiner als Grassrat von i 965 bis i 984 nahm er Einsitz in vielen Kommissionen, welch er teilweise auch präsidierte, beispiels­

weise die Begnadigungskomm

Viele Jahre gehörte er dem Büro als Sekretär und Stimmenzähler an.

freundschaftliche Atmosphäre über d . Parteien hinweg in diesem «Vorstan

des Grossen Rates war wie auf sei gemütliches Wesen zugeschnitten.

Heinrich Lang ist am i 5. Juni i 993 ver starben. Mit grosser Freude konnte am i . Janwar i 993 noch die Gebu . ·

"14

stunde der Politischen Gemeinde mern miterleben sowie die Wahl von nem Sohn Hansjörg Lang zum

präsidenten im Mai desselben Jahres Als wertvolles Andenken schenkte Mammerner Ehrenbürger der Gemein das grossformatige Ölgemälde von Meier, welches heute das Sitzungszirn mer im Gemeindepavillon schmückt.

(15)

Dr. med. Oscar Ullmann (Nationalrat von 1911 bis 1935)

Von Dr. A. 0. Fleisch

Mein Grossvater, Oscar Ullmann, wurde als ältestes von vier Kindern am i 9. Mai 1862 in Mammern geboren. Sein Vater, Sebastian Ullmann, war Dorfschullehrer in Mammern, und sein kärgliches Gehalt genügte nicht, um eine sechsköpfige Fa­

milie durchzubringen.

Deshalb suchte er einen Nebenver­

dienst: Sebastian Ullmann und seine Frau fabrizierten selbst Schulhefte und Tinte, die er nebst anderen Schulmate­

rialien in den Ferien an di� umliegenden Gemeinden verkaufte. Später eröffnete seine Frau einen Dorfladen, der vom Ehepaar Ullmann gebaut wurde und noch bis zum Herbst 2003 besteht.

Oscar Ullmann war ein sehr intelligenter, aufgeweckter Knabe, und als er in der Sekundarschule war, insistierte Pfarrer Hanhart bei seinen Eitern, dass man ihn in die Kantonsschule schicke und nicht wie vorgesehen ins Seminar. Er durchlief die Kantonsschule ohne irgendwelche Schwierigkeiten, war aktives Mitglied des Turnvereins Konkordia, dem er sein Leben lang treu blieb. Er wohnte im Kon­

vikt bei eher armseliger Verköstigung, so dass Oscar um jeden zusätzlichen Teil er Suppe dankbar war.

Nach der Matura ging er nach Zürich, um Medizin zu studieren, wobei ihm ein Onkel mit einem Darlehen das Studium ermöglichte. Er musste später das Dar­

lehen mit Zins und Zinseszinsen zurück­

zahlen. ln Zürich war er ein sehr aktiver Student, wurde Mitglied des Studenten­

gesangvereins, Präsident des Vereins und später auch Präsident der ganzen Studentenkorporation. Auf einem Mai­

bummel traf er seine spätere Frau Bert­

ha Saager, die eine Ausbildung zur Kon­

zertsängerin unterbrach, um im Jahre

1888 ihren schönen Oscar zu heiraten.

Sofort nach dem Studium ging Oscar Ullmann nach Mammern und wurde Assistent bei Dr. Maienfisch, dem Eigen­

tümer und Arzt der damaligen Wasser­

heilanstalt. Die Wasserheilanstalt war immer nur einige Monate im Sommer offen, und Oscar Ullmann benützte den

Winter zur Fortbildung an verschiedenen Universitäten. Er war bei Bernheim in Nancy und bei Charcot in Paris, den berühmtesten Neurologen dieser Zeit, und Dr. Ullmann galt fortan als ausge­

zeichneter Kenner der neurologischen Krankheiten. Diese Zeit benützte Bertha Ullmann, um im Hotel Baur au Lac in Zürich ein Praktikum als zukünftige Ho­

teliere zu absolvieren.

Als Assistent von Dr. Maienfisch hatte Oscar Ullmann grossen Erfolg bei seinen Patienten. Eine reiche Dame ermunterte ihn, die schlecht gehende Wasserheilan-

(16)

Von der einstigen Wasserheilanstalt zur modernen Klinik von Weltruf (im Bild die Westseite des neuen Seeflügels)

stalt zu kaufen und selbst zu führen. Im Herbst 1889 kaufte Oscar Ullmann die serbelnde Wasserheilanstalt zu einem horrenden Preis von 350 000 Franken, wobei ihn diese Patientin mit einer gros­

sen ·Hypothek unterstützte. Unter der Leitung von Dr. Oscar und Bertha Ull­

mann entwickelte sich die Wasserheilan­

stalt sehr schnell. Oscar Ullmann war ein begnadeter Arzt, hatte ein grosses Cha­

risma und eine liebenswürdige, char­

mante, positiv suggestive Persönlichkeit.

Bald stellte sich ein riesiger Erfolg ein, und sein Ruf ging bis nach St. Peters­

burg.

Durchschlagende Erfolge

Er wandte die damals noch recht be­

scheidene Pharmakopoe sehr geschickt an. Er milderte die klassische Hydrothe­

rapie von Kneipp zu einer sanften Mam­

merner Hydrotherapie um. Den grössten Erfolg aber hatte er bei den sogenannten

16

«Nervenkrankheiten». Es handelte sich um leicht hysterioforme, psychosomati­

sche Erkrankungen, bei denen er durch seine optimistische, fröhlich suggestive Art durchschlagende Erfolge erzielte. Es gelang ihm einmal, sogar eine hysteri­

sche Bjindheit zu kurieren. Doch nach­

her kamen richtige Blinde zu Oscar Ull­

mann, bei denen er machtlos war.

Die ökonomische Seite des Betriebes wurde von seiner Frau Bertha glänzen<:!

geführt. Sie war eine klar denkende, vor­

ausschauende und sparsame Hausfrau, die den Betrieb genau übersah und kon­

trollierte. Oscar war sehr freigiebig und splendid, gab jedem Bettler etwas und wäre nach seinen Worten verlumpt, wenn er nicht seine sparsame Frau zur Seite gehabt hätte. Er selbst gab zu: «En Güdie mues en Sparer ha.» Einmal kam ein Bankkassier und bat Oscar um 5000 Franken. Kurz nachher kam der Kassier wegen Unterschlagung ins Gefängnis,

(17)

und Nationalrat Dr. 0. Ullmann wurde nach Frauenfeld aufgeboten wegen Bei­

hilfe zur Unterschlagung. Als er den Ge­

richtssaal in Frauenfeld betrat, brach schallendes Gelächter aus, der Weibel fragte, ob er die Luxuszelle herrichten soll. Dann stand der Angeklagte auf und erklärte, jedermann kenne die Güte und Freigiebigkeit von Dr. Ullmann, und er finde es ungerecht, ihn als Angeklagten nun vor Gericht zu sehen.

Idealistisch, grasszügig und tolerant

Politisch war mein Grassvater schon früh sehr engagiert. Als Erstes wurde er Sekretär der Brunnenkorporation Mam­

mern. Später war er über 30 Jahre in der Ortskommission und über 30 Jahre im Kantonsrat, den er auch präsidierte.

1911 wurde er als Freisinniger in den Nationalrat gewählt, ein Amt, das er bis 1935 inne hatte. Er war ein Ffeisinniger von altem Schrot und Korn; idealistisch, grasszügig und tolerant gegenüber allen anderen Richtungen. Er hatte sehr viele Freunde in allen Parteien, selbst der sozialistischen, was dazumal verpönt war. Er wurde berühmt durch seine Kompromissfreudigkeit in allen Proble­

men und war der «Kompromisslima­

cher» der Freisinnigen.

Doch war er ganz besonders mit dem Königsmacher, dem konservativen Na­

tionalrat Walther, befreundet. Walther war auch jedes Jahr sein Gast in Mam­

mern wie auch andere Parlamentarier und die Bundesräte Schulthess, Motta und andere. Dessen ungeachtet war er auch Freimaurer, Mitglied der Freimau­

rerloge Akazia in Winterthur. Die Frei­

maurerei wurde erst bei seiner Beerdi­

gung offenkundig, als ein Mitglied den Bruder Oscar in den ewigen Osten ein­

gehen liess und drei Nelken auf seinen Sarg legte. Daraufhin musste der- katho­

lische Pfarrer das Grab segnen, und der Sarg ging geschmückt mit den Nelken

der Freimaurerei und gesegnet mit dem Weihwasser der katholischen Kirche ins Grab hinunter - der letzte Kompromiss des so kompromissfreudigen Dr. Oscar Ullmann.

Mein Grassvater hatte schon als Kind einen grossen Einfluss auf mich gehabt, und ich hatte ihn grenzenlos bewundert.

Er war klein von Statur, ging immer sehr aufrecht, trug lange einen Cutaway, dunkle Anzüge, Vatermörder-Krawatten, Röllchen-Manschetten, eine Perle in der Krawatte und immer eine Blume im Knopfloch, auf dem Kopf eine Melone, über den Schultern ein grosser Über­

hang. Für mich und - so glaube ich - auch für viele andere war er der. König von Mammern. Er war im Dorf extrem populär, besuchte regelmässig im Tur­

nus die verschiedenen Wirtschaften, bestellte einen Zweier, von dem er einen Schluck trank und den Rest stehen liess, um das nächste Restaurant mit seiner Anwesenheit zu beehren. Er wurde Ehrenbürger von Mammern und als Krö­

nung seiner Laufbahn Ehrenmitglied der Eschenzer Blasmusik!

Um drei Tage getäuscht

Oscar Ullmann starb 1949 im 87. Alters­

jahr. Geistig klar bis zum letzten Augen­

blick, verabschiedete er sich von seiner Familie und dankte allen; als er am nächsten Morgen noch aufwachte, be­

merkte er nur: «Ich habe mich ge­

täuscht.»- doch nur um drei Tage!

Mein Grassvater hat mich geprägt und mein ganzes Leben beeinflusst. Als ich etwa fünf Jahre alt war, nahm er mich und stellte mich in die Mitte des Hofes der Kuranstalt und sagte: «Die wichtigste Persönlichkeit in Mammern bist du!»

Damit hatte er mich verpflichtet. Ich bin seinem Ruf gefolgt. Es freut mich auch für ihri, dass die Leitung nun in den Hän­

den der vierten Generation liegt und die fünfte im Anmarsch ist.

(18)

�rich Ullmann (Ständerat von 1939 �is 1963)

Von Dr. A. 0. Fleisch

Erich Ullmann war ein intelligentes, be­

gabtes, originelles und oft eigenwilliges Kind. Schon sehr früh zeigte sich seine Liebe zur Natur und zu den Tieren. So fühlte sich Erich in jedem Mammerner Stall zu Hause, kannte jede Kuh und konnte schon als Dreikäsehoch den Bauern Ratschläge über Tierhaltung er­

teilen. Als er zehn Jahre alt war, schenk­

ten ihm seine Eltern eine Kuh, die er sei-

ber besorgte. Seiner Schwester erklärte er, der Kuhschwanz sei das beste Hand­

tuch, und wischte sich die Hände am Kuhschwanz ab. Er hängte im Park Nist­

kästchen für die Vögel auf und wusste, wie man deren Feinde, die Krähen, ver­

giftete, ohne den übrigen Lebewesen zu schaden. Später war ihm als Jäger der Abschuss einer Krähe jedesmal ein be­

sonderer Triumph.

Die Primarschule in Mammern und das kantonale Gymnasium in Frauenfeld ab�

solvierte er ohne Schwierigkeiten und ohne Begeisterung. Doch war er ein be­

geisterter Konkordianer und blieb dem Kantonsschulverein bis ins Alter. treu.

Dem Wunsche seines Vaters entspre­

chend immatrikulierte er sich, wie sein Bruder Waldemar, an der medizinischen Fakultät Genf, doch sattelte er rasch auf sein Lieblingsgebiet, die Landwirtschaft, um. Er studierte die ersten Semester am Polytechnikum in Zürich und beendete sein Studium an der Universität Leipzig.

Sofort nach Abschluss des Studiums übernahm Erich Ullmann den Gutsbe­

trieb Neuburg bei Mammern. Seine Schwester llse führte ihm bis zu ihrer Verheiratung den Haushalt. Bald darauf verheiratete er sich mit Johanna Bridler.

Erich Ullmann war ein begeisterter Land­

wirt und interessierte sich für alle Neue­

rungen auf dem Gebiet der Tierhaltung.

Schriftliche Arbeiten und Buchhaltungs­

arbeiten lagen ihm nicht, und er lehnte sie - oft zum Nachteil seines Betriebes - mit der ihm eigenen Vehemenz ab. Erich

· Ullmann, ein äusserst gütiger, offener und gerader Mensch, sprach die Spra:­

che des Volkes und liebte die urchigen, starken Ausdrücke seiner Umgebung.

Dabei blieb er freundlich und kamerad­

schaftlich zu allen. So war er zu einer politischen Laufbahn prädestiniert, die in der Gemeinde begann und ihn über den Kantonsrat in den Ständerat führte, wo er während 24 Jahren seinen Kanton vertrat.

18

Befürworter des Frauenstimmrechts

Als fortschrittlicher Landwirt kam er in den leitenden Ausschuss des Thurgaui­

schen Milchverbandes, wurde dessen Präsident und als solcher Vorstandsmit..,

(19)

glied des Zentralverbandes schweizerischer Milchprodu­

zenten. Wo Milch floss, war Erich Ullmann ein führendes Mitglied der Organisation, so war er Mitglied des Verwal­

tungsrates der Schweizeri­

schen Käseunion und der Aktiengesellschaft schweize­

rischer Milchproduzenten.

Seine öffentlichen Reden for­

mulierte er klar, prägnant, ge­

wandt und mit Geist und Hu­

mor. Er war dafür bekannt und geschätzt, auch nicht populäre Meinungen und Forderungen zu vertreten. So sprach er bei der ersten schweizerischen Abstimmung über die Ein­

führung des Frauenstimm­

rechtes im Jahre 1959 entge­

gen der Parole seiner Partei als

. Befürworter. Er erntete don- Erich Ullmann, Waldemar Ul/mann, I/se Ullmann

nernden Applaus und schloss

seine Rede mit dem Schlusssatz: «Ich Fehrbelliner Reitermarsch über das affe- kenne euch; jetzt gebt ihr mir recht, aber ne Grab schmettern zu lassen.

morgen stimmt ihr Nein.» Seine letzte Rede im Ständerat soll ein Kleinod gewesen sein. Als Kommissionsreferent für das neue Jagdgesetz vertrat er die­

ses mit so viel Kenntnis, Witz, Feuer und Geist, dass die Ständekammer mit zuhörenden Nationalräten überfüllt war­

ein glänzender Abgang vom. Bun­

deshaus!

Als Landwirt wurde Erich Ullmann der Kavallerie zugeteilt und war als Kom­

mandant der Guidenschwadron 7 ge­

schätzt und beliebt. Seine Qualitäten als Truppenführer und sein Organisationsta­

lent Iiessen ihn zum Obersten im Gene­

ralstab avancieren.

Seine Treue zu der Kavallerie äusserte sich in seinem letzten Wunsch, den

Geehrt und geliebt

Seine mit viel Widerspruchsgeist gewürz­

te Diskussionsfreudigkeit belebte die Familientreffen, die aber oft ein gewitter­

haftes Ende nahmen, indem er mit dem Ruf «Ebe grad nid» das Zimmer verliess.

Die manchmal rauhe Schale konnte nie seine tiefe menschliche Güte und Wär- me verdecken. So wurde er mit seinen Fehlern und Tugenden als wertvoller Mensch von allen, die ihn kannten, ge­

ehrt und geliebt. Als er starb, zeigte es sich, dass diese Wertschätzung und Zu­

neigung weit über seinen Familien- und Freundeskreis hinausging und dass der ganze Kanton um Erich Ullmann trauer­

te.

(20)

Rede des Bundespräsidenten Adolf Deucher anlässlich der 1 00-Jahr-Feier des Kantons Thurgau

Von Marianne Germann-Leu

Die ersten einhundert Jahre des Kantons Thurgau hatte man 1903 würdig gefei­

ert. Beim Kantonalfest in Frauenfeld hielt der damalige Bundespräsident Dr .. Adolf Deucher die Festrede, welche nachfol­

gend aus dem «Boten vom Untersee»

vom 26. September 1903 wiedergege- ben wird.

Manche Passagen mögen· heute zum Schmunzeln anregen - oder vielleicht Anlass zum Ärgern sein. Allein schon die Begrüssungsworte lassen vermutlich vielen einen kalten Schauer über den Rücken fliessen. ln der ganzen Rede kommt die starke Veränderung gesell­

schaftlicher Werte und Ansichten zum Ausdruck. So scheint es auch, dass die Frauen bei diesem Jubiläumsanlass gar nicht dabeigewesen waren - höchstens wahrscheinlich als Blumen tragende De­

koration des Bundesrates. Und wer hät­

te heute schon Freude daran, als brav und bieder bezeichnet zu werden? Die bundesrätlichen Worte sind jedoch Spie­

gelbild des Zeitgeistes und werden un­

gekürzt in der damaligen Schreibweise zitiert.

Im Jubiläumsjahr 2003 hält Bundesrat Moritz Leuenberger die Festrede in Frau­

enfeld. Es dürfte interessant werden, eine sicherlich pointiert verfasste An­

sprache zu hören und sie mit derjenigen von Bundesrat Dr. Adolf Deucher zu ver­

gleichen.

Auf den Seiten 24 und 25 dieser Publikation wird der aus Steckborn stammende Adolf Deucher durch Andre Salathe, Staatsarchivar des Kantons Thurgau, vorgestellt.

Rede des Herrn Bundespräsidenten Dr. Deucher an der thurg. Zentenar­

feier.

Eidgenossen! Thurgauerl

Im Namen des Bundesrates und des gesamten Schweizervolkes entbiete ich Volk und Behörden des Kantons Thur­

gau freundeidgenössischen Gruss und herzliche Glückwünsche zur heutigen Festfeier.

Sei mir gegrüsst, du Thurgau, vom blau­

,en See und grünen Rheinstrom bis zum waldbekränzten Hörnli, mit dem reichen Kranz deiner blühenden Ortschaften, deinen flussdurchlauschten Tälern, dei­

nem fruchtbaren Hügelland, herrlichen Rebgelände und prächtigen Obstwald, mit a/1 deinen heute im reichen Schmuck einer gesegneten Herbstlandschaft prangenden Gefilden! Und du, Frauen­

feld im Festgewande, reichgeschmückt zum Empfang und zur Ehre der Eidge:..

nassen!

20

Sei mir gegrüsst, du Volk von echtem Schrot und Korn, brav und bieder, intel­

ligent, arbeitsam und ausdauernd und dabei empfänglich für alles wahrhafte Gute und Schöne, gegrüsst am heutigen Ehrentage, diesem bedeutungsvollen Markstein im Werdegang deiner Ge­

schichte, wo eine hundertjährige, nicht ruhmlose Entwicklungsperiode einen schönen Abschluss findet!

Allerdings hatte schon im Jahre 1 798, als der Sturm der grossen Revolution das ganze feudale Europa mit elementa­

rer Gewalt erschütterte, die alte Eidge­

nossenschaft ruhmlos zusammengebro­

chen war und eine neue Zeit der Freiheit und Gleichheit anzubrechen schien, das bisherige Untertanenland die Ketten ge., brachen und sich frei erklärt; aber erst 1803, nach dem Sturm und Drang, den

(21)

Hoffnungen und Enttäuschungen und den unsäglichen Wirren der Helvetik wurde auch der Thurgau durch die Mediationsverfassung den XIII alten Or­

ten in gleichen Rechten und Pflichten angegliedert und zu gemeinsamer Eid­

genossenschaft verbunden.

Diese der Schweiz vom ersten Konsul gegebene Verfassung wurde namentlich in den neuen Kantonen mit Freuden be­

grüsst; sie bildete ein föderatives Band, stark genug, um gemeinsame Arbeit möglich zu machen, lose genug, um die freudige Tätigkeit und die selbständige Entwicklung der einzelnen Bundesglie­

der nicht zu hemmen.

Jahrhundertelang als gemeinsame Herr­

schaft durch Landvögte regiert, deren Hauptsorge in ihrer eigenen Bereiche­

rung bestanden, trat der Thurgau arm und ohne nennenswerte Hilfsmittel in die Reihe der übrigen Kantone. Um ihnen ebenbürtig zu werden, musste alles, ja alles im Staate erst geschaffen werden.

- Und es wurde geschaffen! Im Be­

wusstsein erneuter Jugend rang sich der Kanton zu kräftigem Leben empor. Ste­

tig, wenn auch langsam ging es vor­

wärts, und selbst in den trübsten Zeiten europäischer Reaktion fanden die ander­

wärts verpönten freiheitlichen Ideen und Bestrebungen hier eine Zufluchtsstätte.

Und dann, als mit Beginn der dreissiger Jahre ein frischer Freiheitsodem Europa durchwehte, war es Thurgau, der den Reigen kantonaler Umgestaltungen er­

öffnete. Der Ruf Thomas Bornhausers:

«Der Hahn hat gekräht, die Morgenröte bricht an, Thurgauer wachet auf!» zün­

dete weit über die Grenzen des Kantons hinaus. ln diesem selbst fand er mächti­

gen Widerhall, und so entstand zum erstenmal aus freiem innerem Triebe des Volkes, aus einer Bewegung von unten herauf, ein neues Grundgesetz, dessen Schöpfungen grundlegend blieben bis

allmählich der reine demokratische Staatsgedanke entwickelte, der in der Verfassung vom Jahre 1869 seinen voll­

gültigen praktischen Ausdruck fand.

So schritt der Thurgau schon im ersten Jahrhundert seiner Selbständigkeit kräf­

tig und zieh/bewusst den Weg hinan und hat sich zu einem wohlgeordneten, blü­

henden Staatswesen entwickelt.

ln dem früher nur Landwirtschaft trei­

benden Kanton, welch letztere, mit den Anforderungen der Zeit stets Schritt hal­

tend, heute in der nationalen Ausstellung den vollgültigen Beweis ihrer Leistungs­

fähigkeit abgelegt hat, gelangte im Laufe der Jahre eine vielseitige gewerbliche Tätigkeit und eine reich entwickelte In­

dustrie zur Geltung.

Neben einer tadellosen Rechtspflege er­

möglichte eine solide, musterhafte Ver­

waltung dem jungen Kanton ohne zu starke Steuerbelastung der Bürger, den Anforderungen eines modernen Staates auf allen materiellen und ideellen Gebie­

ten gerecht zu werden und so nament­

lieh auch auf demjenigen der Erziehung und Volksbildung, der Grundlage des demokratischen Freistaates, jene Opfer zu bringen, die nötig sind, um ein allsei­

tig tüchtiges, charaktervolles junges Ge­

schlecht heranzubilden.

Aber nicht nur im engen Rahmen kanto­

nalen Lebens, auch auf dem weitern und wichtigen Gebiete der Pflege und Ent­

wiekJung des Gesamtvaterlandes trat der Thurgau von Anfang an in den Vor�

dergrund nationalen Strebens. Wesent­

lieh betätigt an der Schöpfung und Aus­

gestaltung des neuen Bundes, unent­

wegt einstehend für jeden gesunden Fortschritt, immer bereit, die Macht und die Kraft und die Ehre des Bundes zu wahren, bekundete das Thurgauer Volk stets ein warmes Herz und treue Liebe zum gemeinsamen Vaterland.

Eine Tat dieses eidgenössischen Sinnes

(22)

'

" f

zerischen landwirtschaftlichen Ausstel­

lung durch den thurgauischen Landwirt­

schaftliehen Verein. Es war das keine kleine Aufgabe, und es brauchte Mut, dieselbe zu übernehmen. Aber einmal gewagt, trat nicht nur die thurgauische Bauernsame, sondern die gesamte Be­

völkerung, Kanton und Gemeinde, dafür ein, das grosse Werk mit Ehren durchzu­

führen und dem schweizerischen Bau­

ernvolk und den Erzeugnissen seiner Arbeit und seines Fleisses eine würdige Stätte zu bereiten. Das Werk ist gelun­

gen, und ich freue mich, meinem Hei­

matkanton auch hiefür einen besonde­

ren Ehrenkranz winden zu dürfen.

Wenn sonach der Kanton mit Befriedi­

gung, ja mit gerechtem Stolz, auf die ver­

gangenen hundert Jahre zurückblicken kann, so verdankt er dies dem Charak­

ter, der Tüchtigkeit, dem praktischen Sinn und der Freiheitsliebe seines Vol­

kes, der Arbeit und der Gewissenhaftig­

keit seiner Behörden und dem Umstan­

de, dass es ihm nie an geistig hochste­

henden Männern fehlte, die in der He­

bung des Volkswohles und der Volksver­

edelung die wahre Befriedigung ihres Lebens fanden.

Nach diesem Rückblick in die Vergan­

genheit dürfen wir als Thurgauer und als Eidgenossen des Ausblickes in die Zu­

kunft nicht vergessen; gilt doch für uns alle, mehr als je, das Wort der Stauff­

acherin: «Sieh vorwärts, Wemer, und nicht hinter dich!» Es ist hier nicht der Ort, aller Aufgaben zu gedenken, die ihrer Lösung harren; aber einigen Ge­

danken die sich dem Patrioten aufdrän­

gen, möchte ich heute Ausdruck geben:

Die neue Zeit tritt mit ungeheuer erhöh­

ten Ansprüchen an alle Staaten, seien sie gross oder klein, heran, und wer wohl bestehen will in dem gewaltigen Wettlauf der Nation, der muss seine Lenden gür­

ten und bereit sein zu jeglicher Leistung vaterländischer Tatkraft.

Die Schweiz, als demokratischer Frei­

staat, soll ein kräftig organisiertes, nach aussen handlungsfähiges Land sein; sie soil auch im lnnem befähigt sein, ihre politische und kulturelle Mission zu erfül­

len und die nationalen Bedürfnisse jeder zu befriedigen. Die Wehrkraft der Nation ist zu erhalten und zu vervollkommnen, sie bildet mit eine Grundlage unserer Freiheit und Selbständigkeit. Zu Tage getretene Mängel sind mit unerschütter­

licher Energie und ohne persönliche Rücksichten zu beseitigen.

Wir sollen danach streben, dass im Kampf der Interessen und der Meinun­

gen, wie sie sich notwendigerweise er­

geben aus der Verschiedenheit unseres Volkes nach seiner historischen Entwick­

lung, nach Sprache, Sitte und Religion, nicht eigensüchtige Regungen und klei­

ne Leidenschaften über die reine Liebe zum Ganzen die Oberhand gewinnen.

Das stolze Wort: «Die Schweiz den Schweizern» soll nicht die Losung bilden zum Kampfe einzelner Volksklassen gegeneinander, der Städte gegen die Länder, sondern das hehre, heilige Sym­

bol der Zusammengehörigkeit aller, die berufen sind, wenn auch in verschiede­

nen Lebensstellungen, doch jeder an seinem Orte und nach seiner Kraft am Wohle des Landes zu arbeiten.

Zu diesen Berufenen gehörst auch du, mein Thurgauer Volk, mit deiner Liebe deiner Hingebung und Anhänglichkeit an das eine, grosse, freie, unentwegt vor­

wärtsstrebende Vaterland! Dir aber, Thurgovia, bringt Helvetia heute, an dei­

nem Ehrentage sich selbst und ihre besten Wünsche entgegen, auf dass du blühest, wachsest und gedeihest auf immerdarf "

22

Des zum Zeichen erhebe ich den Becher -und trinke auf das Wohl des Kantons

Thurgau und seines braven Volkes.

Bote vom Untersee, Steckborn Nr. 77, Samstag, 26. September 1903

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