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Lyrik

Kurt Franz

Gattungen und Strukturen

D e r Begriff „Lyrik'4 bezeichnet neben E p i k und Dramatik einen T e i l der traditionellen Gattungs- trias und findet trotz aller Modifizierungsversuche nach wie vor Verwendung. Gerade die g r o ß e inhalt- liche Spannweite läßt es sinnvoll erscheinen, den Begriff trotz aller Bedenken (z. B . Borneman 1978) auch auf den Bereich der Kinder- und Jugendlitera- tur zu ü b e r t r a g e n . Bisher wurden für dieselben Inhalte recht unterschiedliche Oberbegriffe wie K i n d e r r e i m , Kindergedicht, Kinderlied benutzt.

K i n d e r l y r i k meint also „sämtliche in gebundener, nicht unbedingt gereimter Sprache und in einer bestimmten F o r m von K i n d e r n und von Erwachse- nen für K i n d e r vom Kleinkindalter bis etwa 10 Jahren verfaßten und von diesen rezipierten Sprech-, les- und zum T e i l auch singbaren Texte"

(Franz 1979,10f.; vgl. auch Doderer 1977,197). In ähnlich umfassender Weise, sogar noch erweitert um den Begriff „Jugendlyrik'4, definiert Manfred A l t n e r (1976, 16):

„Der Begriff ,Kinder- und Jugendlyrik1 erweist sich als vieldimensionate Größe. Er schließt die eigens für Kinder und Jugendliche geschriebenen Gedichte ebenso ein wie die, die infolge besonderer ästhetischer Qualitäten - Einfachheit, Volkstümlichkeit, Verständlichkeit - von Kindern bzw. Jugendlichen rezipiert werden. Ferner ge- hören auch Gedichte, die von Kindern und Jugendlichen geschaffen wurden, dazu."

Scheint dieser Textbereich innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur durch die formalgestalterische Komponente - ähnlich wie Bilderbuch und Comics - gut greifbar und leicht abgrenzbar, so erweist sich doch bei n ä h e r e r Betrachtung seine besondere K o m p l e x i t ä t : und zwar i m Hinblick auf die Entste- hung ( V o l k s - , Kunstlied), die Produzenten ( K i n - der, Erwachsene), die Ü b e r l i e f e r u n g (mündlich, schriftlich), die Zielgruppe (Kinder auf verschiede- nen Altersstufen; zum T e i l auch p r i m ä r Erwachse- ne), die sprachlich-formale, inhaltlich-thematische und funktional-pragmatische Seite.

Formen der Kinderlyrik Der Kinder reim

D e r Kinderreim kann als „einfache F o r m " , als lyrische V o r f o r m (Bodensohn 1965,93), als lyrische U r f o r m (Kliewer 1974,10), als „ a n o n y m e r folklori- stischer T y p der K i n d e r l y r i k " (Freitag 1977, 201) verstanden werden. E r wird bei allen möglichen Gelegenheiten von Kindern untereinander oder von Erwachsenen (Mutter, Erzieher) für Kinder des V o r - , aber auch noch des Grundschulalters verwendet. Kinderreime sind verhältnismäßig kurz, meist einstrophig und paarweise gereimt; die Verszeilen sind vorwiegend zwei-, drei- oder vier- hebig. Neben das Grundelement der regelmäßigen Wiederkehr von Betonung und Nichtbetonung, der rhythmischen Wiederholung, tritt die spielerische Verwendung der Sprache. U m das Bedürfnis des Kindes nach K o m i k und die Lust am Umgang mit Sprache zu befriedigen, wird vor allem mit Klängen experimentiert, was sich in den vielfältigen Varian- ten des Reims (Endreim, Stabreim, Assonanz u.a.), der veranschaulichenden Lautmalerei und den verschiedenartigsten Buchstaben-, Silben- und Wortspielereien zeigt. D e m noch b e s c h r ä n k t e n kindlichen Sprach- und D e n k v e r m ö g e n entspre- chend, ist die Aussage lakonisch, oft auch scheinbar sinnlos. Das Schwergewicht beim Kinderreim ist weniger i m Erzählerischen als vielmehr in seinem unmittelbaren Gebrauchswert zu sehen. So lassen sich sprachlich-formal und inhaltlich-intentional verschiedene A u s d r u c k s m ö g l i c h k e i t e n unterschei- den wie K i t z e l - , Krabbel-, Fingerreime und -spiele, Schaukel-, Heische-, Spott-, Neck-, U l k - , Scherz- reime u. a.

Das Kindergedicht

B e i m Kindergedicht handelt es sich um Texte, die von namentlich bekannten erwachsenen A u t o r e n für K i n d e r verfaßt sind und die in starkem M a ß e an die Elemente des Rhythmus, Klangs und Reims

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sowie die formale und sprachliche Einfachheit des Kinderreims a n k n ü p f e n . M i t zunehmendem A l t e r steigert sich der Schwierigkeitsgrad in bezug auf Umfang (Zeilen-, Strophenzahl), F o r m (kompli- ziertere V e r s m a ß e und Reimschemata), Sprache (Wortschatz, Syntax), Inhalt (breitere Thematik, Probleme) und besonders „Symbolgehalt". Wichti- ge Kennzeichen von Kindergedichten sind, d a ß sie

„auf G r u n d einer mehr oder weniger a u s g e p r ä g t e n inhaltlichen Planung verfaßt" (Gerstner-Hirzel 1973, 941), „in sich abgerundet sind und einen wirklichen Gestaltungskern haben" (Nentwig 1960, 173). H i e r sind natürlich gerade auch die zahlrei- chen E r z ä h l g e d i c h t e und Kinderballaden einzuord- nen. E i n e Abgrenzungsmöglichkeit zum „ E r w a c h - senengedicht" sieht Paul Nentwig (1960) in der b e s c h r ä n k t e n Z a h l der M o t i v e , wesentlich für ihn ist aber: „ D e r Dichter spricht immer sich selbst aus, sein Lebensgefühl, seine Weltschau; der Kinder- lieddichter dagegen spricht zum Kinde oder stell- vertretend für das K i n d " (S. 174).

Das Kinderlied

Das Kinderlied ist vom literarischen Standpunkt aus nicht als eigenständige Gattung zu betrachten, da es sich bei den Texten um Kinderreime bzw.

Kindergedichte handelt, die entweder im Hinblick auf eine Vertonung konzipiert oder später musika- lisch bearbeitet wurden. Allerdings ist der musikali- sche Aspekt für das Wesen eines G r o ß t e i l s der Kinderlyrik ohnehin bestimmend, denn Kinderrei- me werden meist rezitativ geleiert (Sprechgesang, Chorsprechen; besonders bei spielbegleitenden Texten), und viele Kindergedichte fordern von ihrer sprachlichen und formalen Gestaltung her (einfach, regelmäßig, Refrain) einen liedhaften Vortrag geradezu heraus. „ K i n d e r l i e d " hat beson- ders oft die Funktion eines umfassenden Oberbe- griffs erhalten. Dies beweisen die bis heute zur Unterscheidung der Entstehung innerhalb der K i n - derlyrik insgesamt verwendeten Hilfstermini „Kin- dervolkslied" und „ K i n d e r k u n s t l i e d " . Nicht zuletzt zeigt ein früher Definitionsversuch i m Grimmschen W ö r t e r b u c h (vgl. Heidrich 1925,10), d a ß die Suche nach einem allumfassenden Oberbegriff bestimmt nicht u n b e g r ü n d e t ist: „Lied wie es die Kinder singen oder wie es den Kindern gesungen oder für sie gedichtet w i r d . " Neben der Tradierung des alten Kinderliedes spielen heute besonders sozialkriti-

sche Texte, wie sie häufig in Kinder- und Jugend- t h e a t e r s t ü c k e eingestreut sind, eine spezifische Rolle (vgl. auch Schallplatte/Kassette: Kinderlied).

Das Kinderspiel

M i t „ K i n d e r s p i e l " bezeichnete man früher häufig auch die spielbegleitenden Texte als einen Bestand- teil des Spiels. Dies ist vom Grundwort her irrefüh- rend, so d a ß man besser von Spiellied, -vers, spiel- begleitendem L i e d , Gedicht o. a . sprechen sollte.

Diese Gruppe, die den Gebrauchswert der Kinder- lyrik am unmittelbarsten erweist, ist besonders umfangreich. Wenn Kinder ihrem Spieltrieb nach- gehen, benutzen sie häufig vorhandene Texte ( „ F ü r c h t e t ihr den schwarzen M a n n ? " ) oder produ- zieren neue, z . B . beim G u m m i h ü p f e n .

D i e W i r k u n g vieler Kinderreime, -gediente und -lieder beruht auf sprachlichen Wiederholungen, Verdrehungen, Umstellungen, Vertauschungen, Umkehrungen usw.; man denke an alte A b z ä h l v e r - se wie „ E e n e meene m u h " oder an Ernst Jandls

„Ottos mops". Dasselbe gilt für die Formen der Konkreten Poesie und für den Nonsense, der als Gestaltungselement i m neueren Kindergedicht eine R o l l e spielt.

Das Kindergebet mit seinem p r i m ä r religiösen A n - liegen ist zwar nur partiell der Kinderlyrik zuzu- rechnen, doch handelt es sich hierbei um eine sehr originäre Gattung. Das Gros der Gedichte bzw.

Liedtexte, die vom 15. bis ins 18. Jahrhundert von bekannten A u t o r e n für Kinder verfaßt wurden, verfolgt ein entsprechendes Anliegen. Eine konti- nuierliche Entwicklung läßt sich bis in die Gegen- wart verfolgen.

Jugendlyrik

D e m Oberbegriff „Kinderlyrik" ist neuerdings ein weiterer an die Seite zu stellen: Jugendlyrik. Der Unterschied liegt hier in der Intendierung einer bestimmten h ö h e r e n Altersstufe. Zuneigungen wie

„ G e d i c h t e für die Jugend", „ F ü r die reifere Ju- gend" u. ä. tauchen auch schon i m Titel von Ausga- ben des 18. und 19. Jahrhunderts auf, doch war damit kaum eine spezifische Jugendlyrik gemeint, wie sie erst in der Gegenwart im Entstehen ist. Dies hängt damit zusammen, d a ß bis in unsere Zeit bei Lyrikausgaben, Anthologien und vor allem Lese-

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b ü c h e r n , bei etwa Z e h n j ä h r i g e n eine starre, ent- wicklungspsychologisch nicht b e g r ü n d b a r e Grenze gezogen wird. Kindern und Jugendlichen von 10 bis etwa 16 Jahren wurde und wird praktisch ü b e r - gangslos allein noch „ E r w a c h s e n e n l i t e r a t u r " ange- boten (vgl. die literarische Diskrepanz zwischen den meisten G r u n d s c h u l l e s e b ü c h e r n und den an- s c h l i e ß e n d e n Hauptschul- bzw. Gymnasiallesebü- chern auch noch nach 1945). D e r Begriff „Jugendly- r i k " kann sinnvollerweise nur altersspezifisch pro- duzierte und gezielte Texte für Rezipienten von 10/

12 bis etwa 16 und auch mehr Jahren meinen, nicht sämtliche angebotenen und konsumierten, da man ansonsten wieder den gesamten Bereich der „ E r - wachsenenlyrik" einbeziehen m ü ß t e . A b e r auch hier sind die Grenzen natürlich fließend, denn warum sollten Texte von Jo Pestum oder Joachim Fuhrmann nicht ebenso für ältere Leser geeignet sein; andererseits tauchen auch bekannte „ E r w a c h - senenautoren" wie Peter H ä r t u n g , H a n s - J ü r g e n Heise, L u d w i g Fels, Arnfried A s t e l in Jugendlyrik- sammlungen auf. Gemeinsame Kennzeichen dieses modernen literarischen Typus scheinen vor allem Hinwendung zu alltäglichen und aktuellen Proble- men, Aufforderung zum Nachdenken, zur K r i t i k , zum Handeln in bezug auf soziale Probleme ver- schiedenster A r t und ein häufig aggressiver und pessimistischer T o n zu sein. Lyrische Stimmungen und Ausflüge ins Reich der Phantasie treten demge- g e n ü b e r stark zurück.

D i e Jugendlyrik der D D R , in der man die Kluft zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur ohne- hin gezielt zu ü b e r w i n d e n versucht, ist im sozialisti- schen Sinn eher positiv-konstruktiv ausgerichtet.

D e r Begriff, der hier eine bestimmte A r t von Literatur klarer u m r e i ß t , findet seit längerem V e r - wendung, besonders in der Doppelformel „Kinder- und Jugendlyrik" (vgl. u . a . A l t n e r 1976).

Ein weiteres Einteilungsverfahren

Im Bereich Kinderlyrik kann auch nach Ursprung und Entstehung eine Einteilung vorgenommen wer- den. Nach R u t h L o r b e (1974, 181) kann der an- onym-volkstümliche Textbereich (Reime, volks- tümliche Kindergedichte, Kindervolkslieder) fol- gende Wurzeln haben:

a) Aus der Erwachsenenwelt übernommen:

Erwachsenenkunstlied —> Erwachsenenvolkslied —*•

Kinderlied

Erwachsenenkunstlied -> Kinderlied Erwachsenenvolkslied —» Kinderlied.

b) In der Kinderschicht entstanden: Kinderlied.

Damit ist nur der eine T e i l des Komplexes erfaßt, denn das Gros der im allgemeinen Bewußtsein verankerten Kinderlyrik machen Gedichte aus, die von Erwachsenen eigens für Kinder verfaßt wur- den, wofür meist noch - allerdings etwas irrefüh- rend - der Begriff „ K i n d e r k u n s t l i e d " verwendet wird. A u f diese A r t von Kinderlyrik soll später ohnehin das Hauptaugenmerk gerichtet sein. H i n z u kommen ursprüngliche „ E r w a c h s e n e n g e d i c h t e " , bei denen die Autorenintention in bezug auf die Rezipientenschicht zunächst eine andere war und die allmählich zu „ K i n d e r g e d i c h t e n " geworden sind. Teilweise hat man versucht ( z . B . J . K r ü s s ) , dafür den unterscheidenden Terminus „ G e d i c h t e für K i n d e r " einzuführen ( z . B . Goethes „ G e - funden").

Schließlich sind auch Kinder selbst zu den nament- lich bekannten Urhebern zu z ä h l e n . In diesem Fall geht es nicht um das gänzlich freie, fast intuitive und oft „ v e r b o t e n e " Themen erfassende Spiel mit Spra- che, sondern um Texte, bei denen bestimmte V o r - aussetzungen wie Anregung und Hilfe durch E r - wachsene, meist Lehrer, schriftliche Fixierung und invariable F o r m gegeben sind. O b w o h l literarische Produktion dieser A r t einen ganz beträchtlichen R a u m einnimmt, gewinnt nur weniges ü b e r den vorgegebenen sozialen Rahmen hinaus, meist die Schule, eine gewisse Bedeutung und gelangt als autorisierte Literatur ins öffentliche B e w u ß t s e i n . Immerhin werden ab und zu derartige Gedicht- sammlungen veröffentlicht, z . B . von Theamaria L e n z ( „ K i n d e r dichten", 1958; „ Z a u b e r der K i n d - heit", 1960) oder Klaus Doderer („Die R e i m - schmiede", 1966).

Tradiertes Literaturgut in der Gegenwart:

Geschichte ist lebendig

K i n d e r gehen bei den verschiedensten Gelegenhei- ten spielerisch mit Sprache um. Abgesehen von dieser immensen täglichen Reimproduktion, die jeweils situationsbezogen ist und immer wieder neue, aktuelle, sehr stark auch „ v e r b o t e n e " The- men aufgreift, erstaunt, wieviel altes Volksgut sich gerade in diesem Bereich erhalten hat. Teilweise ist dies auf b e w u ß t e Pflege innerhalb des Erziehungs-

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prozesses (Elternhaus, Kindergarten, Schule) zu- rückzuführen, teilweise hängt dies mit den immer besseren schriftlichen Fixierungs- und Tradierungs- möglichkeiten zusammen, wobei selbst heute die Komponente mündlicher Weitergabe in Betracht gezogen werden m u ß . Trotzdem ist festzuhalten, d a ß bisher in keiner anderen Zeit nostalgisch-rück- gewandten Interessen so reichliche Z u g a n g s m ö g - lichkeiten in die Vergangenheit eröffnet wurden wie heute. So stehen bekannte ältere Sammlungen wie A r n i m s und Brentanos „ D e s Knaben Wunder- horn" (1808) mit den Kinderliedern im A n h a n g des 3. Bandes, Georg Scherers „ A l t e und neue Kinder- lieder" (1849) oder Hans Fraungrubers „ D e u t s c h e Wiegenlieder" (1909) in bibliophilen (Faksimile-) Ausgaben oder als wohlfeile T a s c h e n b ü c h e r zur Verfügung. H i e r sind besonders Reihen und A u s - gaben zu nennen wie die von Hubert G ö b e l s betreu- ten „Bibliophilen T a s c h e n b ü c h e r " bei Harenberg,

„ D a s besondere Kinderbuch" bei Heyne, die (Ta- s c h e n b ü c h e r des Insel-Verlags, Nachdrucke des Jugend und V o l k - bzw. des Parkland-Verlags. H i n - zu kommen umfangreiche, relativ billige Ausgaben des G o n d r o m - und Borowsky-Verlags.

Auffällig sind die zahlreichen Bearbeitungen und Neuzusammenstellungen älterer Kinderlyrik. Hans Magnus Enzensbergers „ A l l e r l e i r a u h " (1961) wirk- te in dieser Richtung vorbildlich. Mehrere Ausga- ben stammen von Bruno Horst B u l l ( z . B . „ A B C , die Katze lief in Schnee", 1964; „Alle meine Ent- chen", 1975). Wenngleich sich nur ein T e i l der genannten Reihen und Einzeltitel direkt an das K i n d als Rezipienten wendet, so ist damit doch ein wichtiger literarischer Trend unserer Zeit bezeich- net, denn Hauptvermittler von Literatur für Kinder bleibt schließlich der Erwachsene. Nicht vergessen sollte man die Flut billiger Kaufhausmal- und -bil- d e r b ü c h e r , die in verschiedensten Varianten an- onyme „ a l t e " Reime und Gedichte an das K i n d bringen.

Entscheidend für den Bekanntheitsgrad dürften aber immer noch die in dieser Beziehung gegenwär- tig allerdings etwas reduzierten G r u n d s c h u l l e s e b ü - cher sowie die Musik- und G e s a n g b ü c h e r sein. E s verwundert nicht, wenn auch heute der „ B u t z e - mann", das „Bucklichte M ä n n l e i n " , der „ S p a n n e n - lange Hansel", die „ A m m e n u h r " , „Schlaf, K i n d - chen, schlaf", die „Vogelhochzeit", der „ J o c k e l " , die „ H e x e n m a h l z e i t " u . v . a . m . kindliches Litera- turgut sind.

Ü b e r b l i c k t man den bis in die unmittelbare Gegen-

wart bewahrten Textfundus, den bekannte Autoren im Laufe der Zeit b e w u ß t oder u n b e w u ß t für K i n - der geliefert haben, läßt sich feststellen, d a ß ver- schiedene Epochen und einzelne Dichter nur sehr sporadischen A n t e i l daran haben. Etwas stärker vertreten ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, unter den Einzelgestalten ragt anteilmäßig Hoff- mann von Fallersleben mit den am meisten verbrei- teten L i e d e r n heraus. Jedes K i n d kennt „Winter, ade!", „ S u m m , summ, summ", „Alle Vögel sind schon da", „ K u c k u c k , Kuckuck, ruft's aus dem W a l d " , „ E i n Männlein steht im W a l d e " u. a. Kinder selbst k ü m m e r n sich allerdings um Entstehung, Herkunft oder Urheberschaft eines Textes wenig.

D e r feste Bestand in verbreiteten Anthologien und G r u n d s c h u l l e s e b ü c h e r n - sieht man von der not- wendigerweise besonders stark r ü c k g e w a n d t e n Zeit nach 1945 und den 50er Jahren einmal ab - ist heute nicht mehr allzu umfassend, so d a ß die wirk- lich zutreffenden Textbeispiele schnell versammelt sind (vgl. auch das Nachwort von Krüss 1959, 282ff.; Bamberger o . J . , 237f.). V o n den frühen, rein religiös ausgerichteten Texten (Kirchenlieder, Kindergebete) ist wenig geblieben; aus der stark moralisierenden Epoche der A u f k l ä r u n g im 18.

Jahrhundert mit dem erfolgreichen Christian Felix W e i ß e i m Mittelpunkt sind es einige gereimte Fa- beln (Pfeffel, Lichtwer). D i e Liedfassungen von Höltys „ Ü b ' immer Treu und Redlichkeit" und Overbecks „ K o m m , lieber M a i , und mache" sowie das Herbstgedicht „Bunt sind schon die W ä l d e r "

des Gaudenz von Salis-Seewis waren der vorigen Generation bestimmt noch bekannter als der jetzi- gen. Usteris „ F r e u t euch des Lebens" ist eher noch in parodistischer Fassung anzutreffen. Der

„ W a n d s b e c k e r B o t e " Matthias Claudius hält sich mit einigen gemüthaften Gedichten in kindgemä- ßen Sammlungen und L e s e b ü c h e r n , w ä h r e n d die Klassik sich eher als kinderfeindlich erwiesen und nichts Nennenswertes zur Kinderliteratur beige- steuert hat. Ä l t e r e n K i n d e r n und Jugendlichen wurde und wird natürlich gerade klassische Litera- tur i m L e r n p r o z e ß verordnet. Verständlicherweise sind es neben den weiterhin als Blumengedichten gehandelten volkstümlichen Texten „Sah ein Knab ein Röslein Stenn" und „Ich ging im Walde so für mich h i n " vor allem scheinbar leichtere Nebenpro- dukte Goethes, die man immer wieder Kindern anzubieten versucht. Das Schützenlied aus Schillers

„Wilhelm T e i l " („Mit dem Pfeil, dem Bogen") ist

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kindliches Volksgut geworden. A u s der Romantik hat sich für K i n d e r selbst sehr wenig erhalten, auch wenn Brentanos „Wiegenlied" heute fast überall als Sprach- und Formexempel miteingefügt ist, doch waren im A n s c h l u ß an die Ideen des Sturm und D r a n g (Herder, Goethe) die theoretischen und praktischen B e m ü h u n g e n (Sammlungen wie „ D e s Knaben Wunderhorn") für die weitere Entwick- lung der Kinderlyrik besonders fruchtbar. V o n Dichtern i m U m k r e i s und in der Nachfolge der Romantik hat eher einiges ü b e r l e b t : D i e Ballade

„ D a s Riesenspielzeug" von Adelbert von Chamisso - auch durch die Bilderbuchbearbeitung von Fried- rich Hechelmann b e k a n n t - , L u d w i g Unlands „Ein- kehr" („Bei einem Wirte wundermild") oder H e i n - rich Heines L i e d „Leise zieht durch mein G e m ü t " . E i n e Sonderstellung nimmt Friedrich R ü c k e r t mit den in ihrer Lehrhaftigkeit weniger aufdringlichen

„ M ä r l e i n " ein; einige werden noch eifrig abge- druckt (z. B . „ V o m B ü b l e i n , das überall hat mitge- nommen sein wollen", „ V o m B ä u m l e i n , das andere B l ä t t e r hat gewollt"). Neben Hoffmann von F a l - lersleben sind aus dem 19. Jahrhundert vor allem Friedrich Güll mit seiner „ K i n d e r h e i m a t " (daraus besonders „ D a s K l e t t e r b ü b l e i n " , das „Lied vom feinen M ä d c h e n " , „ V o m Büblein auf dem E i s " , der Kettenreim „ W e n n das K i n d nicht schlafen w i l l " ) , Heinrich Seidel mit „ D a s H u h n und der Karpfen"

und „Bei G o l d h ä h n c h e n s " , Rudolf Baumbachs

„ D i e G ä s t e der Buche", Gustav Falkes L ü g e n g e - dicht „ E i n e K u h , die saß im Schwalbennest", R o - bert Reinicks „ V o m schlafenden A p f e l " und mit E i n s c h r ä n k u n g Franz Poccis Nonsensegedicht „ D a s K r o k o d i l " zu nennen. Wilhelm Heys gereimte F a - beln mit den Illustrationen von Otto Speckter wur- den auch heute noch, allerdings eher in bibliophilen Ausgaben, mehrfach aufgelegt. Vereinzelt werden Gedichte von Friedrich H e b b e l , Gottfried K e l l e r , Conrad Ferdinand Meyer ( z . B . noch sein „Finger- h ü t c h e n " ) für j ü n g e r e Leser herangezogen. Beson- dere Ausnahmen bilden einige zu festlichen A n l ä s - sen entstandene Gedichte Theodor Storms ( z . B .

„ K n e c h t Ruprecht"), Luise Hensels „ N a c h t g e b e t "

( „ M ü d e bin ich, geh' zur Ruh") sowie „ D i e Heinzel- m ä n n c h e n zu K ö l n " des August Kopisch und Theo- dor Fontanes Ballade „ H e r r von R i b b e c k " , die beide fester Grundschullesebuchbestandteil sind und, auch in jüngster Zeit, als Bilderbuch gestaltet wurden. K i n d g e m ä ß e Ausnahmen bei L u l u von S t r a u ß und Torney sind „ L ö w e n z a h n " und

„ S c h n e e z a u b e r " , bei Börries von M ü n c h h a u s e n

„ D a s alizarinblaue Zwergenkind", dagegen wird einiges von Paula Dehmel ( „ R u m p u m p e l " u.a.) immer wieder auch i m ganzen aufgelegt. D e r U n - fuggeist „ N i e m a n d " der Frida Schanz ist durch die schulische A d a p t i o n immer noch kindliches Allge- meingut, ähnliches gilt von verschiedenen humor- vollen Texten Wilhelm Büschs, später dann auch Christian Morgensterns. V o n den literarischen S t r ö m u n g e n vor, um und nach 1900 (Naturalismus, Neoromantik, Impressionismus, Expressionismus) hat sich wenig erhalten, doch bildet gerade hier die extreme sprachexperimentelle Richtung des D a - daismus eine Ausnahme. Hugo Balls „ K a r a w a n e "

und „Seepferdchen und Tintenfische" oder C h r i - stian Morgensterns „ D a s g r o ß e L a l u l a " sind fester Bestandteil heutiger Kinderlyrik. In diesen Zusam- menhang ist auch Joachim Ringelnatz zu stellen;

von ihm ü b e r l e b e n a u ß e r d e m aggressive, aber ebenso recht hintersinnige Gedichte wie „Kinder- sand". A u c h bekannte Naturlyriker haben einiges beigesteuert, wie z . B . Georg Britting ( „ G o l d e n e W e l t " , „ D i e Sonnenblume"); ein Sonderbeispiel ist die „ L ö w e n z a h n w i e s e " des „Simplicissimus"-Au- tors Hans E r i c h Blaich ( D r . Owlglass). E i n e n jetzt schon länger andauernden H ö h e p u n k t der Rezep- tion erleben die nicht unumstrittenen Kinderlieder Bert Brechts ( „ D e r Pflaumenbaum", „ D e r Schnei- der von U l m " , „ D i e Vögel warten im Winter vor dem Fenster", „ W a s ein K i n d gesagt bekommt"

u. a.).

Ü b e r b l i c k t man den tradierten Textfundus, dann läßt sich leicht feststellen, d a ß sich wohl „lehrhaf- te", auch kritische und hintergründige Texte, aber keine penetrant moralisierenden erhalten haben.

Auffallend vertreten sind M o t i v e der Natur- und Festtagslyrik, vor allem aber Elemente des zeitlos- spielerischen Umgangs mit Sprache.

Tendenzen in der literarischen Produktion seit 1945

D i e A n z a h l der Verfasser von Kinderlyrik - auf den Sonderfall „Jugendlyrik" wurde schon hingewiesen - ist in den vergangenen 35 Jahren i m deutschen Sprachraum sehr g r o ß . A u c h wenn man zunächst die D D R ausklammert, habe ich an noch lebenden A u t o r e n und solchen, deren Hauptschaffenszeit nach 1945 liegt, die in wissenschaftlicher S e k u n d ä r - literatur benannt sind oder die öfter in A n t h o l o - g i e n / L e s e b ü c h e r n auftauchen, rund 300 registriert.

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D a z u gesellt sich, gerade in diesem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, ein H e e r von Gele- genheitsdichtern. N u r wenige sind p r i m ä r als K i n - derlyriker zu bezeichnen oder allein in diesem Metier bekannt geworden, z . B . neben der g r o ß e n Ausnahme Josef Guggenmos James Krüss oder V e r a F e r r a - M i k u r a , was natürlich existentielle und marktwirtschaftliche G r ü n d e hat (vgl. Dahrendorf 1980, 68). A n d e r e , gerade „ E r w a c h s e n e n a u t o r e n " , sind besonders durch einen Kinderlyrikband ins öffentliche B e w u ß t s e i n gelangt, z . B . Christine B u - sta mit ihrer „ S t e r n e n m ü h l e " (1959) und Peter Hacks mit seinem „ F l o h m a r k t " (1973). Deshalb kann man bei einem kurzen Überblick nur einige Tendenzen, wie sie die Kinderliteratur nach 1945 allgemein zeigt, sichtbar machen. E i n weiteres Pro- blem tut sich bei einem Kategorisierungsversuch insofern auf, als i h m einmal mehr sprachliche (z. B . Mundartgedichte), ein andermal mehr sprachlich- formale ( z . B . Sprachspiele) oder offensichtlich in- tentionale Kriterien ( z . B . Kindergebete) zugrunde liegen.

Obwohl i n den letzten 20 bis 30 Jahren mehr literarische Versuche unternommen wurden als je zuvor, ist das G r o s der Kinderlyrik immer noch eher traditionell ausgerichtet, so d a ß Richard B a m - berger (1980, 242) r e s ü m i e r e n kann: „ D i e Kinder- lyrik der Gegenwart hat in vielen Beispielen die Eigenarten der bleibenden Kinderlyrik der Vergan- genheit bewahrt . . . " . Natürlich ist sie gerade im Unterschied zur experimentellen „Erwachsenenly- rik" viel weniger innovativ, was sich besonders auf sprachliche und formale Gegebenheiten bezieht, w ä h r e n d sie thematisch doch die meisten modernen Lebensbereiche (wie Technik, A r b e i t , Umwelt) und bisherige Tabuzonen (wie Sexualität) erschlos- sen hat. D i e G r ü n d e dafür liegen offensichtlich innerhalb der Ontogenese, in entwicklungspsycho- logischen Bedingungen, im menschlichen Spracher- w e r b s p r o z e ß . Gerade im Werk von Kinderlyrikern wie Guggenmos, Krüss, F e r r a - M i k u r a , Baumann, B u l l , Halbey scheinen, trotz der jeweiligen dichteri- schen Individualität, alle diese Komponenten glei- c h e r m a ß e n günstig zum Tragen zu kommen, so d a ß sich hier auch entsprechende Rezeptions-, nicht nur Verkaufserfolge nachweisen lassen. D e r G e - schmack der K i n d e r ist getroffen, wenn Josef G u g - genmos alle möglichen Tiere charakterisiert, wie z . B . den Elefanten in seiner bekanntesten G e - dichtsammlung „Was denkt die Maus am Donners- tag?" ( M ü n c h e n 1971, 62; zuerst 1967):

Der Elefant, grau wie ein Stein, hat Z ä h n e , ganz aus Elfenbein.

Wie ein Gebirg geht er herum.

Zehn Männer werfen ihn nicht um.

Guggenmos bildet auch insofern eine Ausnahme, da er einer der wenigen ist, die für Kindergedichte einen bedeutenden Preis erhielten. Für seinen sou- v e r ä n e n Umgang mit Sprache, seine poesievolle Weltdarstellung und seine ungezwungene Kindlich- keit in den Texten des genannten Bandes wurde ihm 1968 der Sonderpreis des Deutschen Jugend- buchpreises zugesprochen. Erst 1981 wurde in die- ser Richtung wiederum ein Zeichen gesetzt: Jürgen Spohns bibliophil gestaltetes G e d i c h t b ä n d c h e n

„ D r u n t e r & D r ü b e r " ( M ü n c h e n 1980) wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 1981, Sparte Kinderbuch, p r ä m i e r t . Spohns Gedichte sind knapp, fast lakonisch, auch hintergründig-kritisch, und doch witzig und k i n d g e m ä ß ; auf jeden Fall ist das Kindergedicht mit Elementen des anonymen

„ S t r a ß e n r e i m s " deftiger geworden, wie das Beispiel

„Sowohl als auch" (S. 60) zeigt:

Es tummelt sich ein Sonnenfleck im Blumenbeet im Schweinedreck und summt bei sich das kleine Lied:

Ich mache

keinen Unterschied.

Unter dem riesigen Angebot traditioneller Kinder- lyrik finden sich natürlich auch heute noch viele lehrhafte oder stark moralisierende Texte. Das ist häufig bei religiösen Gedichten und Kindergebeten der F a l l . Allerdings versucht man auch hier neue Wege zu gehen ( M a x Bolliger, Ilse Kleberger, Kurt H o c k u. a.).

Der Drang nach Bewahrung von Ü b e r k o m m e n e m zeigt sich weiterhin in der Pflege der Mundart.

A u c h im Kindergedicht ist sie wieder im V o r d r i n - gen, obwohl die Bedeutung n a t u r g e m ä ß regional b e s c h r ä n k t bleiben m u ß . E s werden nicht nur alte volkstümliche Mundartverse gesammelt und ediert, sondern nach den g r o ß e n Vorbildern des 19. Jahr- hunderts, wie z . B . Klaus G r o t h , auch neue ge- schrieben (für den bairisch-münchnerischen R a u m u. a. Helmut Zöpfl, G ü n t e r Goepfert, für den öster- reichisch-wienerischen u . a . Christine Nöstlinger).

V o n ähnlicher E i n s c h r ä n k u n g sind Kindergedichte fremder Sprachen betroffen, selbst wenn sie in

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Übersetzungen unserer bekanntesten A u t o r e n wie Guggenmos, Krüss oder Baumann vorliegen.

Sprachspiele und Elemente des Nonsense, von de- nen K i n d e r l y r i k schon immer zehrt, erleben in der Gegenwart, angeregt vor allem durch angelsächsi- sche V o r b i l d e r , einen H ö h e p u n k t . Im W e r k fast aller A u t o r e n sind sie mehr oder weniger stark nachzuweisen. Dabei werden Raster alter L ü g e n - , Verkehrte-Welt-, Rätsel- und Versprechgedichte zugrunde gelegt und erneuert. Visuelle Texte, B i l d - gedichte, konkrete Poesie u. a . , wie sie besonders Ernst Jandl und Eugen Gomringer publik gemacht haben, finden sich heute in jeder Anthologie und in jeder Lesebuchreihe. Häufig wird metasprachlich mit Funktionen der Sprache selbst gespielt, z. B . in E v a Rechlins vierstrophigem Text „ D a s selbstge- machte L i e d " (in H . - J . Gelberg: „ D i e Stadt der K i n d e r " , M ü n c h e n 1972,193; vgl. auch Franz 1979, 66):

Dem Sänger ist Erfolg beschert, der singend fremde Sprachen lehrt, womöglich gleich im Chor.

Ich hab mir auch was ausgedacht und eine Sprache selbst gemacht.

Ich trag sie euch mal vor:

Die treepenfrietzen mockenback diehah mekuh sedauh.

Johofen plusen labenjack verluse lose lauh . . .

Thematisch und intentional kam es in den 60er und besonders 70er Jahren i m A n s c h l u ß an A k t i v i t ä t e n der a u ß e r p a r l a m e n t a r i s c h e n Opposition, der K i n - derladenbewegung u.a. zu zeitspezifischen literari- schen A u s p r ä g u n g e n . Antiautoritäre Texte, für die schon Joachim Ringeinatz und Bertolt Brecht Pate standen und die, zunächst meist destruktiv, alte Wertvorstellungen und A u t o r i t ä t e n (Eltern, L e h - rer, Polizei usw.) in Frage stellten und zur Befrei- ung von Z w ä n g e n und U n t e r d r ü c k u n g aufriefen, erlebten trotz starker Gegenreaktion v o r ü b e r g e - hend einen Aufschwung. M a n denke an Susanne Kilians „Kindsein ist s ü ß ? " , an G e r d Hoffmanns

„ B l ö d " oder an M i c h a i l Krausnicks „Ballade vom Stau", in der die ungehinderte öffentliche Befriedi- gung allgemeinmenschlicher Bedürfnisse propa- giert wird. A u f historischem Hintergrund werden in Peter H a c k s ' „ F l o h m a r k t " alte Respektspersonen vom Sockel geholt. Das negativierende Reizwort der Bewegung hat sich schnell ü b e r l e b t , doch m u ß man festhalten, d a ß die heute selbstverständliche

Fülle problemorientierter, sozialkritischer, emanzi- patorischer Kindergedichte ohne diese Vorausset- zungen kaum denkbar w ä r e . Allerdings m u ß man auch hier eine weite Spanne sehen von Texten agitatorischer A r t bis zu solchen, die in k i n d g e m ä ß darstellender, appellierender und motivierender Weise Umweltkonflikte (Eltern, A u ß e n s e i t e r , A r - beit) und weltumspannende Probleme (Hunger, Rassen, Krieg) aufgreifen; das folgende Gedicht Josef Redings trägt den Titel „ A r b e i t s l o s " (in J . Fuhrmann [Hrsg.]: „ P o e s i e k i s t e " , Reinbek 1981, 81):

Ri-ra-rutsch,

die Arbeit, die ist futsch der Vater sitzt zu Hause trinkt Flaschenbier mit Brause, schaut Mutter in die Töpfe und zählt die Streichholzköpfe.

Wer hat Schuld an diesem Mist, daß Vater ohne Arbeit ist?

D i e Jugendlyrik ist thematisch größtenteils den beiden letztgenannten Bereichen zuzuordnen, auch wenn lyrische Stimmungen nicht ganz ausgeschlos- sen sind. Provokation, Aggression, verneinende und pessimistische Weltsicht sind signifikante M e r k m a l e , w ä h r e n d das schwerelose Spiel mit Sprache für das h ö h e r e Lesealter weniger genutzt wird. Dafür, nicht für die Charakterisierung des Autors selbst, mag das Beispiel „ G o t t vertrauen?"

von Jo Pestum stehen (in „Leg deine H a n d auf mein Gesicht", W ü r z b u r g 1977, 32):

A n die Stelle meiner Unbefangenheit ist Angst getreten.

Ich traue dem Grün des Grases nicht mehr.

Der Tagesschau glaube ich kein Wort.

Ich spiele nicht mehr im Lotto.

Meinen Mut bin ich los.

Ich sehe die Zukunft als beendet an.

Ich rechne stündlich mit einem bösen Erwachen.

Innerhalb der Kinder- und Jugendlyrik der DDR, in der man ohne weiteres mehr als 100 A u t o r e n nam- haft machen kann, klingt motivlich manches an die zuletzt genannten S t r ö m u n g e n an, besonders wenn es um die B e k ä m p f u n g der Feinde von innen und

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a u ß e n geht. Allerdings ist die D D R - L y r i k von Anfang an konsequent einen eigenen W e g gegan- gen, denn man begreift sie „als wesentliches Organ der Welterkenntnis durch das Subjekt, als M i t t e l weltanschaulicher Formung und erlebnismäßiger Bereicherung des Individuums" (Altner 1976, 12);

sie „ n i m m t am politischen K a m p f der Arbeiterklas- se und damit auch am Aufbau einer demokrati- schen und sozialistischen Gesellschaft in allen Pha- sen aktiv teil" (S. 70). N a t u r g e m ä ß wurde bei der Proklamierung des neuen Menschen die Grundhal- tung im D D R - K i n d e r g e d i c h t immer positiver und konstruktiver. V o n der inneren politischen Ent- wicklung her lassen sich verschiedene Phasen unter- scheiden (vgl. A l t n e r 1976): D i e Phase der antifa- schistisch-demokratischen U m w ä l z u n g (1945- 1949) mit einer starken R ü c k b e s i n n u n g auf proleta- risch-revolutionäre L y r i k ; die Z e i t des Ü b e r g a n g s von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zum Aufbau der Grundlagen des Sozialismus (1949-1961) mit Gewinnung neuer G e g e n s t ä n d e und weltanschaulicher Vertiefung; die Zeit des sich entfaltenden Sozialismus (1961-1971) mit einem Aufschwung des Gedichts für j ü n g e r e K i n d e r , einer g r ö ß e r e n thematischen Vielfalt und weltanschauli- cher Vertiefung i m Jugendgedicht; die Entwicklung nach dem V I I I . Parteitag der S E D (1971-1975) mit Betonung der schöpferischen Potenz, der poeti- schen Substanz und des Erlebnisgehalts. Innerhalb eines bestimmten intentionalen Rahmens ist die Palette der Kinder- und Jugendlyrik in der D D R thematisch und formal heute breit gefächert; doch m u ß man sich d a r ü b e r im klaren sein, d a ß selbstkri- tischen Stimmen i m Innern wenig Spielraum belas- sen wird, wie bekannte Beispiele beweisen (Reiner K u n z e , W o l f Biermann, G ü n t e r Kunert). U n d na- türlich stehen z ü n d e n d e Gedicht- und Liedtexte auch sehr v o r d e r g r ü n d i g im Dienste ideologischer A u f r ü s t u n g , wenn z . B . j ü n g e r e Kinder schon sin- gen: „Me in Bruder ist Soldat im g r o ß e n Panzerwa- gen und stolz darf ich es sagen: M e i n Bruder schützt den Staat!" (vgl. dazu Stern 40/1981, 206/208). Z u m A b s c h l u ß noch zwei Textbeispiele, die freilich eine differenziertere Einsichtnahme in den Gesamtbe- reich nicht ersetzen k ö n n e n : „ D i e K r a n f ü h r e r i n "

von E r n a Fritzke (aus „ M e n s c h e n , liebe M e n - schen", Berlin 1969, 21; auch A l t n e r 1976, 54) und

„ F r e c h e V ö g e l " von Dieter M u c k e (aus „ F r e c h e V ö g e l " , B e r l i n 1975, 11; auch A l t n e r 1976, 65).

Die Kranführerin

In unserer Straße, sag ich euch, Da wird ein Haus gebaut.

Ihr glaubt es nicht, wie schnell das geht Ich habe zugeschaut!

Ein großer Kran schwenkt seine Last.

Befördert Block für Block.

Jetzt bringt er schon die nächste Wand Hinauf zum fünften Stock.

Und wißt ihr, wer den Kran dort fährt?

Das ist ja eine Frau!

Sie hat ein rotes Kopftuch um, Ich seh es ganz genau!

Freche Vögel

Während einer faden Stunde Spielte eine Zaubergeige Und da blühten in dem Schulhof A n dem Apfelbaum die Zweige.

Und die Sonne baute heimlich In des Apfelbaums Geäst Für die Vögel aus der Gegend Ein ganz großes goldnes Nest.

Und die kamen und benahmen Sich, als wären sie zu Haus Pfiffen einfach einen Lehrer Und die triste Stunde aus.

Formen der Edition und Vermittlung

Wie jede A r t von Literatur, so wird auch Kinderly- rik heute in den verschiedensten medialen A u s p r ä - gungen, d . h . mündlich, schriftlich oder mit Hilfe von technischen M e d i e n , also T o n - und Bildträgern (Schallplatte, Tonband, Kassette, H ö r f u n k , Fern- sehen, F i l m etc.), angeboten (zu den folgenden A u s f ü h r u n g e n vgl. vor allem Franz 1979, 128ff.)•

O b w o h l das Mündliche g e g e n ü b e r früher, als es die einzig mögliche F o r m der Weitergabe mit allen Begleiterscheinungen des „ Z e r s i n g e n s " war, in neuerer Zeit immer s t ä r k e r zurückgegangen ist, wird Kinderlyrik, ähnlich wie der W i t z , doch noch relativ häufig mündlich tradiert. Dabei m u ß man besonders an den permanenten genetischen P r o z e ß des Kinderreims beim täglichen V e r k e h r von K i n - dern miteinander, aber auch an die b e w u ß t e litera- rische Pflege in der Kinderstube, in V o r - und Grundschule durch den Lehrer bis hin zur Lesung durch den A u t o r denken. Ü b u n g des m ü n d l i c h e n Sprachgebrauchs wie Vorlesen, Sprechen, V o r t r a -

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gen. gerade auch mit Hilfe rhythmisch a d ä q u a t e r und eingängiger L y r i k , wird heute wieder s t ä r k e r gefordert.

Andererseits leben wir in einer Zeit der schriftli- chen Fixierung, so d a ß aus verschiedenen G r ü n d e n selbst umgangssprachliche Reimereien von K i n - dern ( z . B . die bekannten Sammlungen „ v e r b o t e - ner" Reime von Borneman und R ü h m k o r f ) und um so mehr natürlich Kindergedichte zeitgenössischer Produktion abgedruckt werden. A n d e r e Medien treten d e m g e g e n ü b e r zurück. D o c h gibt es heute zahlreiche Sprechplatten und Kassetten mit K i n - dergedichten oder spielbegleitenden Reimtexten, häufig in Anlehnung an vorausgegangene Buchver- öffentlichungen entstanden, sowie sporadisch K i n - dersendungen i n H ö r f u n k und Fernsehen. Das K i n - derlied spielt dabei n a t u r g e m ä ß die g r ö ß t e R o l l e . A u c h eine A r t Medienverbund zeichnet sich ab; so ist zu vielen K i n d e r l i e d e r b ü c h e r n , z . B . zum „Lie- d e r g ä r t l i " von Alfred und K l a r a Stern (1976), die entsprechende Schallplatte erhältlich. A l l e i n von James Krüss gibt es eine ganze Reihe von Schall- platten mit vertonten Kindergedichten, zum T e i l von U d o J ü r g e n s gesungen.

A u f die zahlreichen Neuauflagen und Bearbeitun- gen älterer Sammlungen wurde schon hingewiesen.

Insgesamt spielen auch hier der musikalische Aspekt ( z . B . „ D i e schönsten deutschen Kinderlie- der" von G . Pössiger, 1977; „ D e r singende G u m m i - baum" von P. Kaster/I. L a t z / G . Meussling, 1981) oder der spezielle Gebrauchswert der Texte eine bedeutende Rolle ( z . B . „ R a v e n s b u r g e r Lieder- spielbuch" von D . Kreusch-Jacob, 1978). Neben bibliophilen Ausgaben ( „ D e r Garten der L i e d e r "

von A . A l b u s , 1974) bestimmen heute vor allem Taschenbuchausgaben den M a r k t , wobei diese h ä u - fig in der Nachfolge von Hardcover-Ausgaben ste- hen ( z . B . H . - J . Gelbergs „ D i e Stadt der K i n d e r "

1969, dann als Taschenbuch 1972). Gereimte Texte in unzähligen B i l d e r b ü c h e r n sind in unserem F a l l als Ü b e r g a n g s e r s c h e i n u n g zu betrachten, beson- ders hervorzuheben sind aber die B i l d e r b ü c h e r , die zum T e i l nach einzelnen Gedichten gestaltet sind, z . B . oft i n verschiedenen Bearbeitungen wie „ D e r H e r r , der schickt den Jockel aus" oder „ D i e H e i n - z e l m ä n n c h e n " von K o p i s c h . E i n e spezifische A r t von K i n d e r l y r i k , meist Nonsense, bieten die belieb- ten K l a p p b i l d e r b ü c h e r , in denen man in willkürli- cher Weise Textteile miteinander kombinieren kann ( z . B . „ K r e u z u n d q u e r u n d Weristwer" von W . Blecher und A . Schweiggert, 1976).

B e i der Buchgestaltung läßt sich in bezug auf For- mat, Einbandgestaltung und Textanordnung V i e l - falt feststellen. B e i Auswahl und A n o r d n u n g von Texten ist immer ein Anordnungsmodus, ein antho- logisches Prinzip erkennbar. F ü r die p r i m ä r e Z i e l - gruppe der kindlichen Leser fallen Forderungen historisch-kritischer Edition natürlich weg. So fin- den sich hier neben Gedichtquerschnitten durch das W e r k eines Dichters ebenso Sammlungen aus dem Besten der Kinderlyrik insgesamt, wobei fast im- mer Texte bekannter A u t o r e n mit anonymem Volksgut vermischt werden. D i e A n o r d n u n g kann durch Themenkreise oder vom Gebrauchswert der Texte her bestimmt werden, z . B . bei Spielliedern, bei Gedichten zu bestimmten Festen und i m Jahres- lauf , also durch eine chronologische Festlegung, die in derartigen Anthologien, aber vor allem auch in G r u n d s c h u l l e s e b ü c h e r n anzutreffen ist. E i n e Chro- nologie besonderer A r t ist die nach der Entwick- lung des Kindes und dem jeweils entsprechenden Gebrauchswert der Texte, d . h . eine von einfach- sten Kinderstubenreimen und -spielen ü b e r Rätsel und Scherzgedichte bis hin zu umfangreicheren und anspruchsvolleren E r z ä h l g e d i c h t e n ansteigende Ordnung, wie sie z . B . H . M . Enzensberger in seiner Sammlung „ A l l e r l e i r a u h " (1961) nach alten V o r b i l d e r n verwirklicht hat. Das Lesebuch ist in diesem Zusammenhang als spezifisch schulgerechte Anthologie zu sehen. E s hat, auch heute noch, bei der Vermittlung von L y r i k an Kinder eine gar nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung. Was ü b e r die Textanordnung gesagt wurde, gilt zum T e i l ebenso da, doch versucht man schon in der G r u n d - schule eine möglichst breite Palette literarischer Gattungen sichtbar zu machen. Natürlich werden A u s w a h l und A n o r d n u n g letztlich von entwick- lungspsychologischen und pädagogischen Entschei- dungen wie J a h r g a n g s a d ä q u a t h e i t , Motivation, Lernzielorientierung a b h ä n g e n . D i e Kinderlyrik konnte, i m Unterschied zu anderen Gattungen, ihren A n t e i l in den G r u n d s c h u l l e s e b ü c h e r n relativ gut behaupten, allerdings treten bestimmte Genres wie Sprachspiele und Nonsensegedichte g e g e n ü b e r früher s t ä r k e r i n den Vordergrund.

B e i k i n d g e m ä ß e n Anthologien ist neben dem For- mat, das sehr unterschiedlich sein kann, der E i n - bandgestaltung, den Illustrationen und dem Preis des Buches der Titel mitentscheidend für den E r - folg. Aussagen ü b e r die literarische Gattung finden sich darin eigentlich immer, doch häufig erst i m Untertitel, da der Haupttitel einen Kauf- und Lese-

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anreiz besonderer A r t darstellen soll. Entspre- chend finden sich recht abnorme Formulierungen, die oft noch E n d - , Binnen- oder Stabreime aufwei- sen, z . B . „ D e r Hase, der H a h n und die K u h i m K a h n " (J. Guggenmos, 1977), „Schnick Schnack Schabernack" ( V . Christen, 1973), „ I m Flieder- busch das K r o k o d i l singt wundervolle Weisen" ( H . D o m e n e g o / H . Leiter, 1977).

Neben der Buchveröffentlichung von Kinderlyrik gib es verschiedene Möglichkeiten schriftlicher Ein- zelveröffentlichung, deren W i r k u n g nicht unter- schätzt werden sollte. A u ß e r L e s e b ü c h e r sind hier vor allem Sammlungen vermischten Inhalts zu nen- nen, wie z . B . H . - J . Gelbergs J a h r b ü c h e r der K i n - derliteratur (seit 1971); meist sind Gedichte zwi- schen Geschichten, Witze, Spielvorschläge u . a . eingestreut. Lustige R e i m e , humorvolle Gedichte, spielbegleitende Texte oder Lieder werden heute wieder v e r s t ä r k t auf Kalendern, Postern, in Schü- lerzeitungen, auf Kinderseiten in Zeitungen und Zeitschriften ( z . B . Stern, Gong) und vor allem in Kinderzeitschriften selbst abgedruckt. D a b e i spielt der kreative A s p e k t - Aufforderung zum Weiter- bzw. Selbstdichten - eine g r o ß e R o l l e .

Pädagogische Bedeutung

Neuere Umfragen zeigen, d a ß L y r i k neben philoso- phischen Texten und klassischer Literatur in der Lesegunst der Erwachsenen heute mit an allerletz- ter Stellte steht. Eine B e g r ü n d u n g dafür gibt Peter R ü h m k o r f , wenn er meint, d a ß die Krise der L y r i k auch damit z u s a m m e n h ä n g e , weil diese A r t von Literatur nicht verfilmt werden k ö n n e . B e i Kindern scheint die Situation etwas anders zu sein, denn vom Kleinkindalter bis etwa 10 Jahren wurden und werden R e i m e und Gedichte gerne g e h ö r t , spiele- risch v e r ä n d e r t , gesprochen und zum T e i l auch gelesen. D i e Kluft zwischen dem Rezeptionsverhal- ten von K i n d e r n und Erwachsenen, die von der Schule nur mit wenig Erfolg ü b e r b r ü c k t werden kann, ist heute tiefer als je zuvor. Das hängt mit einem riesigen, immer mehr „ s c h u l a b w e i c h e n d e n "

literarischen Freizeitangebot zusammen, aber auch mit der besonders krassen Auseinanderentwick- lung von Kinder- und Erwachsenenlyrik i n der Gegenwart. D e r sehr viel s t ä r k e r traditionellen Verhaftung der Kinderlyrik steht, i m Unterschied zum 19. Jahrhundert, der betont experimentelle Charakter zeitgenössischer L y r i k g e g e n ü b e r . H i n z u

kommt, d a ß gerade für die Übergangsstufen von etwa 10 bis 16 Jahren im Literaturangebot trotz einzelner genannter Versuche i m Bereich der „Ju- gendlyrik" eine entscheidende L ü c k e klafft. D i e G r ü n d e sind also vielfältiger A r t . Trotzdem kann Bernhard Philippi (1977, 14) nicht ganz zu Unrecht feststellen, d a ß es die P ä d a g o g e n heute „offensicht- lich v e r s ä u m e n . . . , die Kinder in einem A l t e r , in dem diese noch selber Verse im M u n d führen, so zur L y r i k hinzuführen, d a ß sie an die Stelle der Kinderverse treten k ö n n t e " .

Kinderreime und Kindergedichte, deren A d a p t i o n für die meisten Menschen ganz offensichtlich das einzige wirklich bleibende „Lyrikerlebnis" dar- stellt, haben jedenfalls nach wie vor für die Soziali- sation und Personalisation des Heranwachsenden im V o r - und Grundschulalter wesentliche Bedeu- tung; dabei sollte jeder Ü b e r l e g u n g noch viel mehr als bisher die Altersfrage zugrunde gelegt werden (für die Kinderspruchforschung vgl. die Forderung Bornemans 1978, 202ff.). Schon bei Kleinkindern und K i n d e r n i m Vorschulalter wird durch den U m - gang mit einfachen R e i m e n und spielbegleitenden Texten der Spieltrieb u n t e r s t ü t z t , das Gefühl für Rhythmus gesteigert und ein erstes ästhetisches Empfinden für Sprache sensibilisiert. Kinder wer- den motiviert, selbst aktiv am Umgang mit Sprache teilzunehmen, indem sie sich mit Schnellsprechver- sen, Zungenbrechern, L ü c k e n g e d i c h t e n u. a . be- schäftigen. Dadurch werden Sprech-, später auch Lesebereitschaft und A r t i k u l a t i o n s v e r m ö g e n ent- scheidend gefördert. G a n z wesentlich ist hierbei der kreative Aspekt. D i e Textrezeption bei K i n - dern ist besonders stark selektiv ausgerichtet, d . h . sie konzentrieren sich auf Teile von Texten und adaptieren diese. Andererseits gehen sie spielerisch mit ihnen u m , sie k ü r z e n , e r g ä n z e n , v e r ä n d e r n („zersingen") Texte. A u ß e r d e m erfinden sie selbst auf jeder Altersstufe, meist nach bestimmten Leit- motiven und Rastern, sprachlich und inhaltlich entwicklungsbedingte eigene Texte. D e n P r o z e ß der Kreativität versucht man heute verstärkt für den Unterricht fruchtbar zu machen. Dies kann auf vielfältige und methodisch wenig aufdringliche Weise geschehen, und zwar nicht nur in den einzel- nen Teilbereichen des Deutschunterrichts, sondern gerade in interdisziplinärer Verbindung mit ande- ren F ä c h e r n wie vor allem Musik und Kunsterzie- hung (vgl. Franz 1979, 139ff.; Franz/Meier 1980, 74 ff.). In solch spielerischer Form k ö n n e n von den Schülern dann auch sprachliche Prinzipien semanti-

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scher und syntaktischer A r t erkannt, poetische Grundelemente wie epische, dramatische und lyri- sche Z ü g e in Gedichten erfaßt und einzelne Struk- tur- und Stilelemente wie Rhythmus, K l a n g , R e i m , Strophe, B i l d , Personifizierung, Wiederholung un- terschieden werden. Dafür geeignete Texte stehen heute i n g r o ß e r Auswahl zur Verfügung (Antholo- gien, L e s e b ü c h e r ) . E i n e weitere sehr wichtige K o m p o n e n t e , sowohl für den vor- und außerschuli- schen als auch für den schulischen Bereich, ist der a u s g e p r ä g t e soziale Kontext, der „Gemeinschafts- charakter" von Kinderlyrik. D a m i t werden weite Teile e r f a ß t ; man denke an Spieltexte wie A b z ä h l - verse, Reigen-, Lauf-, Kampflieder usw., die alle ein Gegen- bzw. Miteinander implizieren, an R ä t - sel, an G l ü c k w u n s c h - und Heischetexte, an Spott- und Scherzreime, die alle ein G e g e n ü b e r anspre- chen oder zum Z i e l haben. Gerade mit solchen sozialintegrativen und handlungsorientierten Tex- ten k ö n n e n Formen menschlicher Kommunikation und M ö g l i c h k e i t e n von Konfliktlösungen erkannt und g e ü b t werden. Dadurch werden schon die K i n d e r zu einem ausgeprägten Gemeinschaftsbe- wußtsein erzogen und zu einem sinnvollen mensch- lichen Miteinander befähigt. H i e r und in anderen Fällen treten natürlich immer stärker Inhalte und Intentionen von Kindergedichten i n den V o r d e r - grund. Wurde Kinderlyrik schon i m 18. und 19.

Jahrhundert als günstiges a l t e r s a d ä q u a t e s Trans- portmittel klassisch-bürgerlicher Tugenden und ei- ner patriotischen, nationalistischen und selbst mili- tanten Gesinnung b e n ü t z t , so ist ihr die Funktion an sich, jedoch mit einem viel komplexeren ideologi- schen Hintergrund erhalten geblieben. Moderne Diskussions- und Problemtexte mit unterschied- lichsten Themenbereichen provozieren die K i n d e r und regen zum Nachdenken an. Sie haben nicht nur im Deutschunterricht (vgl. Franz 1981), sondern auch i n anderen F ä c h e r n , wie vor allem Religion, ihren festen Platz.

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Dahrendorf, ML: Kinder- und Jugendliteratur im bürgerlichen Zeitalter. Beiträge zu ihrer Geschichte, Kritik und Didaktik.

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Referenzen

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