Fachbereich Veterinärmedizin Klinik für Klauentiere
Leistung und Krankheit bei der Milchkuh – wie hängt das zusammen?
Kerstin E. Müller
Klinik für Klauentiere, FB Veterinärmedizin Freie Universität Berlin
Übersicht
• Ausgangspunkt und Auftrag
• Geschichte der Nutztierzucht in der Nussschale
• Fakten – Milchkuhhaltung in Zahlen
• Weshalb werden Milchkühe nicht alt?
• Die gläserne Kuh – Faustzahlen zur Kuh
• Gesund – krank. Wie kommt es zum Umschlag?
• Die Kalbung – ein großes Risiko!
• Schlussfolgerungen
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Tierschutzgesetz §11b
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz http//www.gesetze-im-internet.de/tierschg/_11b.html
(1) Es ist verboten, Wirbeltiere zu züchten oder durch biotechnische Maßnahmen zu verändern, soweit im Falle der Züchtung züchterische Erkenntnisse oder im Falle der Veränderung Erkenntnisse,…erwarten lassen, dass als Folge der Zucht oder Veränderung…
(2) Bei den Nachkommen a) …
b) …
c) Die Haltung nur unter Schmerzen oder vermeidbaren Leiden möglich ist oder zu Schäden führt
Seite 4
Die „Fünf Freiheiten“ – Grundlage der EU-Politik 1. Freisein von Hunger und Durst – Versorgung mit frischem Wasser und Futtermitteln, damit die Tiere gesund und kräftig bleiben;
2. Freisein von Unbehagen – eine artgerechte Umgebung mit Unterstand und bequemen Ruhestätten;
3. Freisein von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten Prävention oder rasche Behandlung;
4. Freisein zum Ausleben normaler Verhaltensweisen ausreichender Platz, Haltung mit Artgenossen;
5. Freisein von Angst und Leiden – Bedingungen und Behandlung, die Leiden vermeiden.
Thüringer Tierärztetag 7./8.09. 2018 Seite 4
Geschichte der Nutztierzucht in der Nussschale
• Mit der Domestikation unterliegt die Kuh der Zuchtauswahl durch den Menschen
• Zunächst waren Charakter und Umgänglichkeit bedeutsam
• Im 20. Jahrhundert konzentriert sich die Züchtung auf die Verbesserung der Leistung, der Qualität und der Wirtschaftlichkeit
• Welcher Preis wurde dafür gezahlt?
• Die Leistungssteigerung ging mit Fruchtbarkeitsstörungen, erhöhter Krankheitsanfälligkeit und kurzer Lebenserwartung einher
• Im 21. Jahrhundert wünscht sich der Konsument, dass der Tierschutz gewährleistet ist, der Landwirt zusätzlich eine Kuh, die nicht krank wird
• Tiergesundheit wird in der Züchtung mehr berücksichtigt Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Milchleistung je Kuh in Deutschland in den Jahren 1900 bis 2017 (in Kilogramm)
Milchleistung je Kuh in Deutschland bis 2017
Hinweis(e): Deutschland
Weitere Angaben zu dieser Statistik, sowie Erläuterungen zu Fußnoten, sind auf Seite 8zu finden.
Quelle(n): BLE; ZMB; BMEL; ID 153061 2
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Die Kuh im Wandel der Zeit
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Im Laufe der Zeit sind die Kühe wesentlich größer geworden. Ein großer „Rahmen“
verlangt eine entsprechende Haltungsumwelt.
Weshalb werden Milchkühe nicht alt?
(nach ADR 2016, S.55)
Jahr % Alter Leistung Sterilität Euter Klauen Stoffwechsel
1970 30,9 8,2% 17,0% 31,0% 4,7% 2,3% 2,0%
2000 39,9 3,6% 8,5% 19,6% 15,2% 9,4% -
2015 37,7 3,3% 6,3% 19,9% 13,3% 10,0% 3,3%
Merzungen nach Laktationen (nach Römer 2017) bei 43245 gemerzten Kühen aus MV 1. Laktation 29%
2. Laktation 24%
3. Laktation 20% (ab hier verdient die Kuh erst Geld) 4. Laktation 13%
5. Laktation und> 13%
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Es sind vor allem Jungkühe mit einer hohen Einsatzleistung, die die folgende Laktation nicht erleben!
Was versteht man unter dem Begriff Produktionskrankheit?
Mulligan, F.J., Doherty, M.L. (2008). The Vet. J. 176:3-9
Definition:
• „Produktionskrankheiten sind ein Ausdruck des Unvermögens einer Kuh, mit den metabolischen Ansprüchen der Hochleistung zurecht zu kommen…“
• „Sie … beruhen auf einem Missverhältnis zwischen Input (Aufnahme) und Output (Produkte) von Nährstoffen, die für die Milchproduktion benötigt werden…“
Welche Erkrankungen fallen unter den Begriff „Produktionskrankheit“?
• Hypokalzämie (Kalziummangel)
• Leberverfettung
• Ketose
• Metritis
• Mastitis
• Labmagenverlagerung
• Klauenerkrankungen
• Fruchtbarkeitsstörungen
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Fettleber bei einer Milchkuh
Lahmheit bei einer Milchkuh
Anteil lahmer Milchkühe in Betrieben Großbritanniens vor und nach intensiver Begleitung
CATTLE MOBILITY: Changing behaviour to improve health and welfare and dairy farm businesses - Final Report – December 2013
Lahmheitsgrad % ggr. % mgr.-hgr. %gesamt
Mittel aller Betriebe 23,8 8,2 32,0
Kontrollbetriebe (Ende) 21,7 10,3 32,0
Versuchsbetriebe (Ende)20,7 4,7 25,4
Spitze 25% 13,4 3,5 16,9
Schwächste 25% 27,1 13,7 40,8
Quelle:http://www.reaseheath.ac.uk/wpcontent/uploads/2014/02/Cattle-Mobility-Final-report-December-2013.pdf Thüringer Tierärztetag 7./8.09. 2018 Seite 11
„Magere Kühe werden lahm (meist 60-90 Tage nach der Kalbung), lahme Kühe werden mager!
Die gläserne Kuh – ein paar Faustzahlen
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Eine Hochleistungsmilchkuh…
• Kostet bis sie im Alter von 2 Jahren erstmalig Milch gibt etwa 1600 €
• Bekommt das erste Kalb im Alter von ca. 2 Jahren
• Bekommt etwa ein Kalb pro Jahr
• Gibt 305 Tage im Jahr Milch
• Steht etwa 60 Tage/Jahr trocken (gibt keine Milch)
• Wird durchschnittlich nicht älter als 5,4 Jahre (könnte über 20 Jahre alt werden)
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Tagesablauf einer Milchkuh
Jede Störung stellt ein Gesundheitsrisiko dar!
8 bis 14 Stunden Liegezeit
20-30 min. Tiefschlaf Schlafen
10 - 15 Stunden Liegebedarf
4 bis 10 Stunden (75% liegend) Wiederkauzeit
4 bis 9 Stunden Fresszeit
30-45 Min.
Dauer der Mahlzeit
2,2 kg TS Menge pro Mahlzeit
8-12 (Färsen 16) Anzahl Mahlzeiten
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
So sehen heutzutage Melkstände aus
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Speiseplan
http://www.milchwirtschaft.de/downloadcenter/Milchcharts_Teil6.pdf
15 kg Grassilage
18 kg Maissilage
1 kg Heu
bis zu 150 l Wasser 6 kg Kraftfutter
6 kg Biertreber
2 kg Sojaschrot 150 g Mineralstoffmischung
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Milch – das weiße Gold
Milchleistung pro Jahr ø 9000 l (in BB)
Heute gibt es Hochleistungskühe, die 40 kg Milch/Tag und mehr geben, worin enthalten sind:
• ca.1,4 kg Eiweiß
• ca.1,9 kg Fett
• ca.1,6 kg Zucker
• Pro Liter Milch fließen 500 Liter Blut durch das Euter
• Das entspricht einer Menge von 20000 Liter Blut
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Wie entsteht der Wechsel von
gesund nach krank und welchen Einfluss hat die Leistung?
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Der Organismus ist ein System!
•Große Anzahl Variablen und/oder
•Hoher Grad der Vernetzung von Komponenten
•Rückkopplungsmechanismen (+&-)
•Hierarchie
•Nach Auslenkung treten Effekte mit einer gewissen zeitlichen
Verzögerung auf
Marten Scheffer (2009)
Critical Transitions in Nature and Society, Princeton University Press
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Resilienz (Federkraft) - Definitionen
Resilienz=die Fähigkeit Störungen zu verkraften, ohne in einen anderen Zustand überzugehen
Helling, 1973
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/94/Ingamozgas.jpg
„The capacity of the animal to be minimal affected by a disturbance or to rapidly return to physiological, behavioural, cognitive, health, affective and production states that pertained before exposure to a disturbance.“
Colditz, J.G. and Hine, B.C. (2016). Resilience in farm animals:biology, management, breeding implications for animal welfare. Animal Production Science http://dx.doi.org/10.1071/AN15297
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Anticipating Critical Transitions
Scheffer, M. (2012):Science 338:344-338;
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Hohes Maß an Resilienz
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Anticipating Critical Transitions
Scheffer, M. (2012):Science 338:344-338;
Geringes Maß an Resilienz
Der Übergang von gesund nach krank ist eine „critical transition“
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Resilienz in der Milchkuhhaltung
Balance zwischen Veranlagung und UmgebungVeranlagung zu hoher Milchleistung
Wesen Exterieurmerkmale
Management Fütterung Resilienz=
Kraft, die das System nach Auslenkung im Gleichgewicht hält
Züchtung
PRODUKTION
Haltungsbedingungen Tierhalter
Mögliche Auslenkung
Die Kalbung birgt das größte Risiko für die Gesundheit
• Schwergeburten
• Stoffwechselstörungen (Milchfiebererkrankung)
• Körpermasseverlust pro Zeiteinheit
• Gebärmutterentzündungen
• Euterentzündungen
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Frühwarnsignale um die Kalbung
Dixhoorn et al. (2016) Eindrapportage Veerkracht van Melkvee Veranderingen van dynamiek, voorspellende kracht. Lelystad, Wageningen UR, Livestock Research Rapport
doi-nr.:http://dx.doi.org/10174/386110 Fragestellung:Lässt sich Resilienz messen?
Material und Methoden: Milchkuhhaltung 20 HF Kühe, Beobachtung 2 Wochen vor, bis sechs Wochen nach der Kalbung Umgebungsanalyse:Koekompas
Statuserhebung: gesund/krank; tägliche klinische Untersuchung Sensordaten:Wiederkauaktivität, Temperatur, Schrittzahl, Abliegen,
Aufstehen, Liegedauer
Blut : alle zwei Tage: Ca, P, Alb, NEFA, Haptoglobin, Glukose Ergebnis: Verschiedene Indikatoren (Aktivität, Ca, NEFA, Haptoglobin)
zeigen bereits vor der Kalbung an, dass Kühe nach der Kalbung erkranken werden.
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Zusammenhang zwischen der Anzahl „Kranktage“ nach dem Kalben und Sensordaten vor dem Kalben
(Dixhoorn et al. (2018) J.Dairy Sci.101:10271-10282)
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Table 1: Significant correlations between days of diminished health (DDH) after calving and quantitative values of continuously recorded sensor variables recorded from 15 days before calving to the last day before calving (inclusive)
Sensor measurement Value Correlation with log(1+DDH) P-value Inactive time average 0.67 <0.05
Eating time average -0.76 <0.05 Ear temperature variance 0.67 <0.05 Number of steps variance -0.51 <0.05 Eating time nonperiodicity 0.78 <0.05 Lying time nonperiodicity 0.79 <0.001 number of steps nonperiodicity 0.63 <0.01
motion index nonperiodicity 0.62 <0.01
Hinweise, dass sich Produktionskrankheiten schon längere Zeit vor der Kalbung und mit der Kalbung ankündigen und Unterschiede zwischen Individuen bestehen.
Schlussfolgerungen
• Produktionskrankheiten beruhen auf einem Missverhältnis zwischen Input (Aufnahme von Nährstoffen) und Output (Fetus, Milchleistung)
• Ausschließlich der hohen Leistung die Schuld zu geben, ist zu kurz gedacht
• Ein zu hoher „Output“ kann (züchtungsbedingt) durch eine zu hohe „Einstiegs- leistung“ nach der Kalbung bedingt und mit erhöhter Krankheitsanfälligkeit verbunden sein – aber nicht alle Gesundheitsprobleme sind züchtungsbedingt
• Relevanter aus Sicht der Tiergesundheit ist aber das Defizit an „Input“, das maßgeblich durch Fütterung, Stallumgebung und Umgang mit dem Tier bestimmt wird; es wäre wünschenswert, wenn erst einmal einfachste Grundregeln der tiergerechten Haltung eingefordert würden: ein bequemes Bett für jede Kuh, ein Teller (Fressplatz) für jede Kuh, genug Wasser (Breite der Tränke) und ein guter Umgang („tender, loving, care“)
• Der Übergang von gesund nach krank ist fließend; er kündigt sich offenbar bereits lange vor der Kalbung und vor Einsetzen der Laktation an; die Ursachen sind z. Zt noch unbekannt.
• Resilienz wird zukünftig messbar sein; sie ist jedoch nicht geeignet um ungünstige Haltungsbedingungen oder ein defizitäres Management zu kompensieren
• Der Grundsatz ein Kalb pro Kuh und Jahr ist nicht mehr zutreffend Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
100000 Liter Kühe einer Agrargenossenschaft
Die Milchkuh-Hochleistung am Limit?
Fachbereich Veterinärmedizin Standort Düppel Klinik für Klauentiere