MIT SOG. ENDSTELLUNG DER NEGATION (HINDI-URDU, TIBETISCH)
von Claus Oetke, Hamburg
Die Untersuchung betrifft Sätze mit einer Klasse von Ausdrücken, die semantisch
betrachtet auffällige Besonderheiten aufweisen und von einigen Linguisten als
(Satz-)Operatoren aufgefaßt worden sind, mitunter aber auch als ,4ogische Prädi¬
kate" analysiert werden'. Zu diesen Ausdrücken gehören neben der Negationspar¬
tikel nicht sog. „Quantoren" und emige Partikel, z.B. alle, viele, einige, wenige, im¬
mer, oft, selten, wieder, nur und auch. Zu den Besonderheiten, die im Zusammen¬
hang mit diesen Wörtern zu beobachten sind, gehören die Bedeutungsunterschiede, die auftreten, wenn die relative Reihenfolge mehrerer derartiger Ausdrücke im Satz vertauscht oder das Intonations- und Akzentmuster verändert wird. Beispiele:
(1) Nur Paul ist wieder gekommen
(2) Wieder ist nur Paul gekommen .
Der Satz
(3) Nicht alle KongreßteUnehmer haben geraucht,
ist synonym mit
(4) Es stimmt nicht, daß alle KongreßteUnehmer geraucht haben.
Ob aber
(5) Alle KongreßteUnehmer haben nicht geraucht.
wie (3) und (4) zu interpretieren ist, hängt von der Intonation und Akzentuiemng ab. Wird alle betont und nicht nicht betont und fäUt die Satzmelodie kontinuierlich zum Satzende hin ab, so ist (5) nicht mit (3), sondern mit
(6) Kein/Keiner der KongreßteUnehmer hat geraucht,
synonym.
1 Siehe dazu u.a. G. Lalcoff 1970, J'ronominalization, Negation and the Analysis of Adverbs'.
In: Jacobs/Rosenbaum (eds.). Readings in English Transformational Grammar. - B. Hall- Partee 1970, ,Negation, conjunction and quantiTiers: syntax vs. semantics'. Foundations of Language, 6, 153-65. - G. Lakoff 1970, ,Repartee, or a reply to negation, conjunction and quantifiers'. Foundations of Language, 6, 389-422. - G. Lakoff 1971, ,0n generathre semantics'. In: Steinberg and Jakobovits (eds.). Semantics 232-96. Cambridge University Press. - B. Eraser 1971, A" analysis of "even" in English'. In: Fillmore and Langendoen (eds.). Studies in Linguistic Semantics, 151-78. - S. R. Anderson 1972, ,How to get even'.
Language, 48, 893-906. - R. Bartsch 1972, Adverbialsemantik', Athenäum, Linguistische Forschungen 6 (besonders S. 38ff, S. 194fr.). - H. Altmann 1976, ,Die Gradpartikeln im Deutschen', Tübingen: Max Niemeyer Verlag (= Linguistische Arbeiten 33) (besonders S.
15ff.).
Ich möchte den Herren Dr. Ramesh Jain und Dr. A. Kandya aus Hamburg sowie Herrn Loden Dagyab von der Universität Bonn für ihre Mitarbeit und Auskünfte als muttersprachhche Infor¬
manten danken.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
Operatorhierarchien in Sprachen mit sog. Endstellung der Negation 335
Wenn all die obenerwähnten Ausdrücke als (Satz-)Operatoren aufgefaßt werden,
dann lassen sich die Bedeutungsunterschiede dadurch erklären, daß die „Hierarchie¬
beziehungen" zwischen den Operatoren in den jeweiligen Fällen unterschiedlich sind — z.B. in (3) und (4) ist die Negation der höchste Satzoperator, in (5) in der Interpretation, die mit der von (6) übereinstimmt, ist der Allquantor der höchste
Operator. Auf der Gmndlage von Beispielen wie (l)-(5) läßt sich ableiten, daß das
Deutsche mindestens drei Mittel besitzt, um die relative Rangordnung mehrerer
(Satz-)Operatoren kenntlich zu machen:
1. Einbettungen — Der höhere Operator erscheint im Matrixsatz
2. Wortstellung - Der höhere Operator steht vor dem niedrigeren (im selben Sub-
satze) 3. Intonation und Betonung.
Es stellt sich die Frage, wie in Sprachen, in denen die Positionen für bestimmte Ausdrücke, die Satzoperatoren repräsentieren, durch syntaktische Stellungsgesetze festgelegt sind, insbesondere aber in Sprachen mit sog. ,JEndsteIIung der Negation"
die semantisch relevanten Unterschiede in der Hierarchie mehrerer Satzoperatoren
repräsentiert werden. Im Hindi-Urdu und im Tibetischen stehen bestünmte Nega¬
tionspartücel vor einem Verb oder einer Kopula, und wegen der Satzendstellung die¬
ser Konstituenten befinden sich auch die Negationspartücel im hinteren Abschnitt des Satzes. Beide Sprachen besitzen zwar das erste und das dritte der obenerwähn¬
ten Mittel der Kenntlichmachung von Operatorhierarchien, können das zweite je¬
doch nicht uneingeschrärüct einsetzen.
HINDI-URDU
Im Hindi-Urdu erscheinen Sätze, in denen die Negation und ein anderer Satz¬
operator zusammen ün selben Subsatze vorkommen, oft mehrdeutig zumindest auf
der Gmndlage üirer schriftlichen Fixiemng. So können z.B.
(7) sab larke parhnä nahir? cähte
(8) mahmüd phir nahir? äyä
bedeuten
(7a) Nicht alle Jungen mögen lernen.
(7b) Alle Jungen mögen nicht lernen = Kein Junge mag lernen.
(8a) Mahmud ist nicht wieder gekommen.
(8b) Mahmud ist wieder nicht gekommen.
In der gesprochenen Sprache ist es aber möglich, die Bedeutungsunterschiede
durch intonatorische und betonungsmäßige Mittel kenntlich zu machen. Bemer¬
kenswert ist dabei, daß es Anhaltspunkte für Übereinstünmungen zwischen den
Intonations- und Akzentmustern ün Deutschen und ün Hindi-Urdu gibt. Bei Beto¬
nung von sab bzw. phir und Nichtbetonung von nahIr) sind (7) und (8) im Sinne
von (7b) und (8b) zu interpretieren.
Besonderheiten: rm sirf/keval ... (hi) ... (, balki/varan ... bhü.) ist ein Ausdmcks-
schema, das bedeutungsmäßig dem deutschen nicht nur ... (, sondem auch ...) ent¬
spricht. Diese Konstmktion läßt ausschließlich die Interpretation zu, derzufolge die Negation den höchsten Satzoperator darstellt. Deshalb erfolgt auch keine „Auflie¬
bung doppelter Negation" in Phrasen wie (9) na sirf mäli ne (hi) ball nahit? dekhä ...
(9a) Nicht nur der Gärtner hat den Ochsen nicht gesehen ...
Man beachte , daß in dieser Konstruktion der Oberflächenrepräsentant der Negation
- na - vor sirf steht, so daß diese Ausdrucksform auch der für das Deutsche auf¬
stellbaren Bedingung genügt, daß Negationsausdrücke den höheren Satzoperator
repräsentieren, wenn sie unmittelbar vor einem anderen Satzoperator stehen.
mahaz und mätra unterscheiden sich von s/r/und keval darin, daß sie nicht als
Satzoperatoren desjenigen Subsatzes interpretiert werden müssen, innerhalb dessen
sie in der Oberflächenstmktur vorkommen. Der Satz
(10) s'rl subbäräv ek sädhäran SUcsak mätra nahiT? the, na hi ve ek hedmästar ki
bhärjti äcaran karte the (Dharmyug, 14-20 August 1977, S. 10)
bedeutet
(10a) Sri Subbarav war nicht nur/bloß ein einfacher Lehrer, und er benahm sich
nicht wie ein Schuldirektor.
(10) impliziert, daß Sri Subbarav nicht ein einfacher Lehrer war. Im Deutschen ist zu unterscheiden zwischen Sätzen des Schemas
(11) A ist nicht nur (ein) P.
mit Akzent auf dem Prädikatausdmck, die miplizieren (12) A ist (ein) F.
und Sätzen des Schemas (13) A ist nicht nur (ein) F.
mit Betonung auf nicht, die ünplizieren (14) A ist nicht (ein) F.
Zu der letzteren Kategorie gehört (10a). (Dieser Unterschied scheint bislang in
Grammatücen und in Arbeiten über diese PartUcel nicht beachtet worden zu sein.)
TIBETISCH
Ebenso wie im Hindi-Urdu sind auch im Tibetischen Sätze mit (Satz-)Operatoren
und nachfolgender Negation mehrdeutig, wenn Betonung und Intonation nicht in
die Betrachtung einbezogen werden;z.B. kann
(15) khyehu kun slob par mi hdod do
bedeuten
(15a) = (7a) Nicht alle Jungen mögen lernen.
(15b) = (7b) Alle Jungen mögen nicht lernen.
Tibetische Muttersprachler behaupten, daß die verschiedenen Interpretationen in
gesprochener Sprache durch Unterschiede in der Betonung auseinander gehalten
werden. Welche betonungsmäßigen und intonatorischen Differenzen mit den seman¬
tischen Unterschieden bei Sätzen mit mehreren (Satz-)Operatoren verknüpft sind,
wäre einer eingehenderen Untersuchung wert, die schon wegen der Frage der Über¬
lagemng von Tönen mit Satzintonation und Satzakzent un modernen gesprochenen
Tibetischen interessant sein dürfte.
Besonderheiten: Es gibt eine Konstmktion aus ma zad mit dem Terminativ, die
semantisch dem Deutschen nicht nur entspricht. Ebenso wie bei na sirf im Hindi-
Urdu bestehen hier keine Mehrdeutigkeiten.
Operatorhierarchien in Sprachen mit sog. Endstellung der Negation 337
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Betonung und Intonation dienen zur semantisclien Differenzierung; ihre Funk¬
tion erschöpft sich weder im Deutschen noch in anderen Sprachen darin, das Rele¬
vante in einer Mitteilung hervorzuheben oder subjektive Einstellungen und Gefiihle des Sprechers auszudrücken. Es fragt sich daher, ob es nicht angemessen ist, einen
theoretischen Satzbegriff einzuführen, der von dem gewöhnlichen abweicht, da¬
durch daß Intonations- und Akzentmuster in die Identitätskriterien für Sätze hinzu¬
genommen werden. Zwei Ausdrücke sind nicht schon dann Vorkommen ein- und
desselben Satzes, wenn sie dieselbe Wort- oder Buchstabenfilge exemplifizieren,
sondern erst dann, wenn sie auch hinsichtlich bestunmter intonatorischer und be¬
tonungsmäßiger Merkmale übereinstimmen — so daß z.B. zwei Sätze mit verschie¬
dener Intonation und Satzbetonung die Wortfolge von (5) exemplifizieren würden.
Wenn man aber von der schriftlichen Fixiemng von Sätzen wie (5), (7), (8) oder
(15) ausgeht, so sind zusätzhche Interpretationsregeln zur Determiniemng der Be¬
deutung erforderlich. Ihre Explikation wäre aber zugleich eine Explikation dessen,
was in der philologischen Forschung zugmndegelegt wird.
HUNIYAM Santiya, ein singhalesisches tanzritual'
von Hans Ruelius, Göttingen
Das Hüniyam Säntiya — oder auch kurz Hüniyama genannt - ist eines der be¬
liebtesten und auch aufwendigsten Tanzrituale (tovU) der singhalesischen Volks¬
religion. In diesem Ritual soll ein Patient, d.h. derjenige, zu dessen Gunsten das Ritual durchgeführt wird, von dem Übel befreit werden, das durch den bösen Blick,
üble Rede oder üble Gedanken anderer entstanden ist, oder aber durch einen Scha¬
denszauber. Einer dieser Schadenszauber trägt ebenfalls den Namen Hüniyama.
WUhelm Geiger hat die Etymologie des Wortes hüniyam untersucht^. Danach ist
hü = skt. sütra mit einer Zwischenstufe *süta entgegen p. sutta; niyam = p. niyäma,
,Art und Weise'. Er übersetzt deshalb hüniyam mit ,Schnurverfahren'. Es handelt
sich hier vermutlich um eine Bezeichnung alter Rituale, in denen eine Schnur ver¬
wendet wurde. Es gibt noch heute eine ReUie von Ritualen in der singhalesischen
Volksreligion, in denen mit HUfe einer Schnur Übel von einer Person oder einer
Sache abgeleitet oder die Kraft der Rezitation von Mantras auf sie übergeleitet werden soll. Diese Praxis haben die buddhistischen Mönche in der Paritta-Zeremo-
nie übernommen. Im Hüniyama spielt die Schnur heute keine Rolle mehr.
Sowohl im Schadenszauber Hüniyama als auch im Gegenzauber Hüniyam
käpima, dem Zerschneiden des Zaubers, wird ein Yaksa angemfen, der den ge¬
wünschten Schaden bei anderen anrichtet oder aber, wenn man ihm dafür opfert,
dies bei einem selbst unterläßt. Sein Name ist Hüniyam yakä, d.h. der Yaksa des
Schnurverfahrens bzw. der im Schnurverfahren angemfene Yaksa^. Relativ spät,
d.h. etwa ün 15. Jh., ist er zum Gott geworden. Der Gegenzauber hat sich damit in
einen Götterkult verwandelt; aus üim ist ein Säntücarma, das Hüniyam Säntiya
geworden. Der Gott Hüniyam deviyö ist der Gott der Hexerei schlechthin. Und
Hexerei, das ist heute bei den Singhalesen die Ursache mannigfaltiger Schwierig¬
keiten und Probleme und auch einiger Krankheiten. Die Probleme reichen von der
Angst vor Neidern über gesellschaftliche Isoliemng und bemfliche oder famUiäre
Schwierigkeiten bis hin zu Depressionen und schließlich zur Todesangst im Falle
einer Krankheit oder eines Schlangenbisses.
1 Das vorliegende Referat berichtet über einen Teil einer größeren Arbeit über Pantheon und Ritus der singhalesischen Volksreligion. Das beschriebene Ritual habe ich neben anderen während eines von der DFG finanzierten Aufenthaltes in Sri Lanka 1975/76 aufgenommen.
2 Wilhelm Geiger, Hüniyam, in: ders.. Kleine Schriften, hg. von Heinz Bechert, Wiesbaden 1973, S. 414-421.
3 Der Yaksa hat seinen Namen von dem Ritual erhalten, in dem er angerufen wird, er kann also nicht dessen „Personifikation" sein. (Siehe Heinz Bechert, Mythologie der singhalesi¬
schen Volksreligion, Wörterbuch der Mythologie, hg. von A. W. Haussig, 1. Abt., 15. Lief., Stuttgart 1977,5.594.)
XX. Deutscher OrientaMstentag 1977 in Erlangen
im