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Frommelt, Christian (2016): Liechtensteins Sonderlösung - ein Modell differenzierter Integration? LI Focus 2/2016. Bendern.

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Zwar kann Liechtenstein die Zuwanderung von EWR-Staats- angehörigen beschränken; diese sogenannte Sonderlösung bietet Liechtenstein aber keine Carte Blanche. Vielmehr handelt es sich um ein sehr komplexes Konstrukt mit verschiedenen institutionellen und politischen Einschränkungen.

Liechtenstein kann damit kaum als Modell für andere Staaten dienen – ein interessantes Beispiel bleibt es aber allemal.

Die meisten Kommentatoren sind sich einig, dass das zentrale Argument hin- ter dem am 23. Juni 2016 erfolgten Vo- tum für den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union (EU) der Wunsch nach einer restriktiveren Mi- grationspolitik war. «Restriktiv» wird dabei meist mit «nationalstaatlich

kontrolliert» gleichgesetzt, weshalb die Forderung nach einer restriktiven Migrationspolitik gleichbedeutend mit der Forderung nach Anpassungen bzw. Ausnahmen von der Personen- freizügigkeit der EU ist.

Das aktuelle EU-Freizügigkeits- recht kennt Ausnahmen insbesondere in der Folge von EU-Erweiterungen.

Demnach kann die Freizügigkeit von Arbeitnehmern für eine Übergangs- frist von bis zu sieben Jahren nach dem jeweiligen EU-Beitritt einge- schränkt werden. Die Einzelheiten sind in den Beitrittsverträgen fest- gehalten (Europäische Kommission 2016, Tobler 2015). Auch Ausnahmen beim Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen wurden bereits diskutiert (Europäischer Rat 2016), bislang aber nicht umgesetzt. Den Nationalstaa- ten obliegt ferner die Kontrolle und

Liechtensteins Sonder- lösung – ein Modell diffe- renzierter Integration?

CHRISTIAN FROMMELT

Policy Brief 1, 2016.

Autor: Christian Frommelt, For- schungsbeauftragter am Liechten- stein-Institut.

christian.frommelt@liechtenstein- institut.li

Zitiervorschlag: Frommelt, Christi- an, Chance Zuwanderung. Ist Liech- tenstein bereit für die Personenfrei- zügigkeit? Bendern, 2015.

© Liechtenstein-Institut 2015 Sind die europäischen Staa- ten am Ende ihrer Bereit- schaft zur Umsetzung der Personenfreizügigkeit ange- langt? Nicht nur die Flücht- lingsthematik entzweit die europäischen Staaten, auch die Migration innerhalb der Europäischen Union löst zunehmend innenpolitische und internationale Debatten aus.

Die Abstimmung über den Austritt des Vereinigten König- reichs aus der Europäischen Union vom 23. Juni 2016 (Bre- xit) war stark geprägt von der Unzufriedenheit breiter Be- völkerungsschichten mit einer scheinbar unkontrollierbaren Zuwanderung von Auslände- rinnen und Ausländern aus dem Gebiet der EU. Auch in der Schweiz stimmte das Volk am 9. Februar 2014 der Volksiniti- ative «Gegen Masseneinwande- rung» zu. Beide Staaten streben deshalb Verhandlungen mit der EU über eine Neuregelung der Zuwanderung an.

Und Liechtenstein? Liech- tenstein ist das einzige Land in- nerhalb des Europäischen Wirt- schaftsraumes (EU, Norwegen, Island und Liechtenstein), in welchem die Personenfreizügig- keit nicht besteht. Es konnte eine Sonderlösung mit beschränk- ter Zuwanderung ausgehandelt werden. Kann dies als Modell für das Vereinigte Königreich oder für die Schweiz dienen? Wird die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU künftig generell in Fra- ge gestellt? Christian Frommelt beleuchtet in seinem Beitrag die Sonderlösung für Liechtenstein als ein Beispiel einer differen- zierten Integration und zeigt die Grenzen der Übertragbarkeit auf andere Staaten auf.

Dr. Wilfried Marxer Direktor

LI FOCUS

2/2016

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ten, die für Einreise, Aufenthalt und Beschäftigung eine vorherige Be- willigung vorschreiben» (Protokoll 15 EWRA). Konkret bedeutete dies, dass bis zum 1. Januar 1998 ein Ar- beitnehmer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Staates als Liechtenstein hatte und in Liech- tenstein beschäftigt war, jeden Tag in den Wohnsitzstaat zurückkehren musste. Protokoll 15 ermächtigte Liechtenstein ferner, bestehende Be- stimmungen zur «Einschränkung der beruflichen Freizügigkeit und des Be- rufszugangs für alle Arbeitnehmer- kategorien» bis zum 1. Januar 1998 beizubehalten. Gemeint waren damit vor allem arbeitsmarktrechtliche Re- striktionen in Bezug auf Stellen-, Be- rufs- und Branchenwech- sel (Schafhauser 2007:

206). Umgekehrt wurde es Liechtenstein aber un- tersagt, neue einschrän- kende Massnahmen zu erlassen.

Vor Ablauf der Über- gangsfrist verpflichteten sich die Vertragsparteien, die Übergangs- massnahmen unter gebührender Berücksichtigung der «besonde- ren geographischen Lage Liechten- steins» gemeinsam zu überprüfen.

Diese Formulierung wurde zu einem späteren Zeitpunkt weiter präzi- siert. So verweist der EWR-Rat in einer Erklärung vom 10. März 1995 zusätzlich auf Liechtensteins «sehr kleines bewohnbares Gebiet länd- lichen Charakters» und den «unge- wöhnlich hohen Prozentsatz an aus- permanente Ausnahmeregelung –

die sogenannte Sonderlösung – ei- nigen. Konkret ist Liechtenstein le- diglich dazu verpflichtet, jährlich 56 Aufenthaltsgenehmigungen an er- werbstätige und 16 Genehmigungen

an nicht-erwerbstätige EWR-Staatsangehörige zu erteilen, während die liechtensteinischen Staatsangehörigen in al- len EWR-Staaten die volle Freizügigkeit geniessen. Die Hälfte der zu erteilenden Bewilligungen wird dabei verlost (siehe Frommelt 2012 für weitere Details).

Doch wie kam es zu dieser Son- derlösung für Liechtenstein? Welche Schlussfolgerungen kann man aus der Sonderlösung ziehen

und wäre die Sonderlö- sung gar ein Modell für andere Staaten? Um diese Fragen zu beantworten, nennt dieser LI Focus die wichtigsten Argumente hinter der Sonderlösung,

skizziert deren institutionelle Aus- gestaltung und beschreibt die poli- tischen Rahmenbedingungen, unter welchen die Sonderlösung ausgehan- delt wurde.

Argumente für Sonderlösung Die heutige Sonderlösung Liech- tensteins geht auf Protokoll 15 zum EWR-Abkommen zurück. Das Pro- tokoll ermöglichte es Liechtenstein, bis zum 1. Januar 1998 in Bezug auf EWR-Staatsangehörige «die natio- nalen Bestimmungen beizubehal- Durchsetzung der Voraussetzungen

der Freizügigkeit. Solche Vorausset- zungen beinhalten z. B. den Nach- weis eines gültigen Arbeitsvertrages oder von ausreichend finanziellen Mitteln sowie einer Krankenversi- cherung (European Com-

mission 2016). Eine nati- onalstaatliche Steuerung der Zuwanderung von EU-Staatsangehörigen im Sinne einer dauerhaften

Beschränkung durch Höchstzahlen oder Kontingente wurde von der EU allerdings stets ausgeschlossen.

Genau eine solche Ausnahme be- sitzt jedoch Liechtenstein, welches seit dem 1. Mai 1995 Vollmitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ist. Ziel des EWR ist die Er- richtung eines dynamischen und homogenen Wirtschaftsraums un- ter der «weitestmöglichen Verwirk- lichung der Freizügigkeit und des freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs» zwischen den EU- Staaten und den Staaten der Euro- päischen Freihandelsassoziation (EFTA). Aktuell verfügt der EWR über 31 Mitgliedsstaaten, wobei ne- ben den 28 EU-Staaten auch die drei EWR/EFTA-Staaten Island, Liechten- stein und Norwegen zu den EWR- Mitgliedsstaaten zählen.

Obwohl die Freizügigkeit einen essenziellen Bestandteil des EWR bildet, wurde diese in Liechtenstein nie vollkommen umgesetzt. Nach einer anfänglichen Übergangsfrist konnte sich Liechtenstein mit sei- nen EWR-Partnern auf eine faktisch

Schrittweise Konsolidierung der Sonderlösung

Entstehungsgeschichte der Sonderlösung und weitere Stationen der liechtensteinischen Migrationspolitik

11.6.2014

EWR-Erweite- rung (Kroatien) – Gemeinsame Erklärung zur Sonderlösung Liechtensteins 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

2.5.1992

Protokoll 15 des EWR-Abkommens – Übergangsfrist bis 1.1.1998

10.3.1995

Erklärung des EWR- Rates zur Freizügig- keit – Verweis auf besondere Situation Liechtensteins

16.12.1997

Liechtenstein ruft Schutz- klausel des EWR-Abkom- mens an

17.12.1999

Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses – Sonderlösung als sektorale Anpassung

21.6.2001

Änderung der EFTA- Konvention – Personen- freizügigkeit EFTA-Staaten

30.5.2003 / 21.12.2004

Regelung Personen- verkehr Liechten- stein und Schweiz

14.10.2004

EWR-Osterwei- terung – Kon- solidierung der Sonderlösung (neu «Vetorecht»

Liechtensteins)

25.8.2007

EWR-Erweiterung (Rumänien/Bulgarien) – Gemeinsame Erklä- rung zur Sonderlösung Liechtensteins

7.12.2007

Übernahme Unions- bürgerschaftsrichtlinie – keine Sonderlösung für Liechtenstein (d. h. auch voller Familiennachzug)

19.12.2011

Schengener und Dubliner Abkommen sowie Rahmen- vertrag zur Regelung des freien Personenverkehrs mit der Schweiz treten für Liechtenstein in Kraft Quelle: eigene Darstellung

Freizügigkeit in Liechtenstein nie vollkommen

umgesetzt.

Beschränkte Auf- nahmekapazität Liechtensteins

aufgrund des

kleinen

Siedlungsraums.

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‐30%

‐20%

‐10%

0%

10%

20%

30%

40%

50%

als ausgewogenes Verhältnis defi- niert. Dieser Richtwert wurde nach dem EWR-Beitritt vom 1. Mai 1995 per Verordnung bestätigt

(LGBl. 1995 Nr. 87). Ob- wohl im gegenwärtig gel- tenden Landesrecht kein solcher Richtwert mehr festgelegt ist, gilt ein Aus- länderanteil von einem Drittel der Gesamtbevöl-

kerung weiterhin als politische Ziel- grösse (Liechtensteiner Vaterland, 14.5.2011).

Institutionelle Ausgestaltung Die Sonderlösung soll Liechten- stein einen geregelten Zuwachs der Wohnbevölkerung ermöglichen.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass ländischen Gebietsansässigen und

Beschäftigten» (EWR-Rat 1/1995).

Darüber hinaus hält der EWR-Rat fest, dass er «das vitale Interesse Liechtensteins an der Wahrung sei- ner nationalen Identität» anerkennt.

Schliesslich ermächtigte der EWR- Rat Liechtenstein im Falle eines aussergewöhnlichen Anstiegs der Zahl der EWR-Staatsangehörigen oder der Zahl der von EWR-Staatsan- gehörigen besetzten Arbeitsplätze, Schutzmassnahmen gemäss Art. 112 des EWR-Abkommens zu erlassen.

Im Unterschied zu anderen Schutz- klauseln des Europarechts können Schutzmassnahmen im EWR einsei- tig ergriffen werden. Liechtenstein war somit nicht auf die Zustimmung seiner EWR-Partner angewiesen, als es im Dezember 1997 beschloss, die bestehenden Zuwanderungsbe- schränkungen aufrecht zu erhalten, bis eine neue Sonderregelung gefun- den würde.

Die Erklärung des EWR-Rats vom 10. März 1995 bildet die argumen- tative Grundlage der liechtenstei- nischen Sonderlösung, indem sie einerseits das grosse Interesse an ei- ner Wohnsitznahme in Liechtenstein und andererseits eine beschränkte Aufnahmekapazität Liechtensteins festhält. Es wurden aber keine ver- bindlichen Richtwerte definiert, an welchen sich die Aufnahmekapazität bemisst. Liechtenstein hatte jedoch bereits in den 1980er-Jahren einen Ausländeranteil von höchstens ei- nem Drittel der Gesamtbevölkerung

Liechtenstein seine Zuwanderungs- politik vollkommen autonom ge- stalten kann. Bereits in Protokoll 15

wurden von Liechtenstein verschiedene Liberali- sierungsschritte verlangt – insbesondere beim Fa- miliennachzug. Auch das sehr restriktive Saison- nierstatut, welches die Vergabe von Kurzaufent- haltsbewilligungen für ausländische Arbeitskräfte regelte, musste Liech- tenstein auf Druck seiner EWR-Part- ner schrittweise abschaffen (Schaf- hauser 2007: 211).

Die heutige Sonderlösung basiert im Wesentlichen auf dem Beschluss 191/1999 des Gemeinsamen EWR- Ausschusses vom 17. Dezember

Unterschiedliche Höchstzahlen je nach Staatsangehörigkeit*

Vergabe von Aufenthaltsbewilligungen in Liechtenstein Erwerbstätigkeit Keine

Erwerbstätigkeit Familiennachzug EWR-

Staatsangehörige 28 Bewilligungen durch Regierung / 28 durch Auslosung

8 Bewilligungen durch Regierung /

8 durch Auslosung

Kein Kontingent («Familie» gemäss EU-Recht) Schweizer

Staatsangehörige 12 Bewilligungen

durch Regierung 5 Bewilligungen durch

Regierung Kein Kontingent («Familie» gemäss EU-Recht) Drittstaats-

angehörige 6 Bewilligungen durch Regierung ** Bewilligungspflichtig

* Seit 2011 werden jährlich 15 % mehr Aufenthaltsgenehmigungen an EWR- und Schweizer Staatsan- gehörige erteilt, wobei die Erteilung der zusätzlichen Genehmigungen durch die Regierung erfolgt (keine Auslosung)

** Kein staatsvertraglich festgelegtes Kontingent (Höchstzahlbeschluss)

Quelle: eigene Darstellung

Bevölkerung Liechtensteins seit EWR-Beitritt um fast 23 Prozent gewachsen

Bevölkerungswachstum von 1.1.1995 bis 1.1.2016

Quelle: Eurostat (demo_gind)

Deutschland

Lettland Litauen Bulgarien Rumänien Kroatien Estland Ungarn Polen Slowakei Tschechische Republik Griechenland Portugal Slowenien EU-28 Italien Finnland Dänemark Österreich Niederlande Belgien Schweden Frankreich Vereinigtes Königreich Malta Spanien Schweiz Norwegen Liechtenstein Island Irland Zypern Luxemburg

Im EWR können Schutz-

massnahmen einseitig ergriffen

werden.

(4)

in Liechtenstein koppelten. Zugleich führte die wiederholte Kritik der EFTA-Überwachungsbehörde (ESA) an der Umsetzung der Unionsbür- gerschaftsrichtlinie der EU durch Liechtenstein mehrfach zu Anpas- sungen der entsprechenden gesetz- lichen Bestimmungen Liechtensteins (Regierung 2013, 2015). Die For- derung Liechtensteins nach einer

«gebührenden Beachtung» der Son- derlösung bei der Umsetzungs- bzw.

Anwendungskontrolle der Unions- bürgerschaftsrichtlinie blieb dabei weitgehend wirkungslos. Die EFTA- Überwachungsorgane bestätigten

damit, dass die Sonder- lösung keine generelle Ausnahmeklausel der Freizügigkeit darstellt und sich Liechtenstein nicht der dynamischen Weiterentwicklung des Freizügigkeitsrechts ent- ziehen kann.

Die Sonderlösung ver- pflichtet Liechtenstein schliesslich, den anderen Vertrags- parteien und der ESA alle erforderli- chen Angaben für die Überwachung der Einhaltung der Bestimmungen zu liefern. Die Sonderlösung ist so- mit unmittelbar in den institutionel- len Rahmen des EWR eingebunden.

Eine formelle Überprüfung erfolgt alle fünf Jahre. Seit der im Zuge der EWR-Osterweiterung erfolgten An- passung bedarf eine Verlängerung der Sonderlösung allerdings nicht länger der Zustimmung des Gemein- samen EWR-Ausschusses. Stattdes- sen wird die Sonderlösung automa- 1999. Der darin festgelegte Nettoan-

stieg an in Liechtenstein wohnhaften Personen mit einer EWR-Staatsan- gehörigkeit bedeutet in der Praxis, dass Liechtenstein jährlich mindes- tens 56 Aufenthaltsbewilligungen an erwerbstätige und 16 Aufenthalts- bewilligungen an nicht-erwerbstä- tige EWR-Staatsangehörige erteilen muss. Liechtenstein verpflichtete sich, bei der Erteilung der Aufent- haltsgenehmigungen Diskriminie- rung und Wettbewerbsverzerrung zu vermeiden und die Hälfte der Auf- enthaltsgenehmigungen nach einem Verfahren zu erteilen, das allen Be- werbern Chancengleich-

heit garantiert. Diese Grundsätze sollen ver- hindern, dass Liechten- stein die Sonderlösung wirtschaftspolitisch in- strumentalisiert, indem es bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligun- gen z. B. gewisse Bran- chen oder Personen- gruppen bevorzugt behandelt.

Die Sonderlösung beinhaltet fer- ner keine Einschränkungen des Rechts auf Familiennachzug und schliesst auch eine bevorzugte Be- handlung von Inländern aus. Letz- teres wurde durch mehrere Urteile des EFTA-Gerichtshofes bestätigt und hatte zur Folge, dass Liechten- stein verschiedene innerstaatliche Bestimmungen aufheben musste, welche z. B. die Ausübung einer be- stimmten Tätigkeit wie die Mitglied- schaft in einem Verwaltungsrat einer Sitzgesellschaft an einen Wohnsitz

tisch verlängert, sofern sich nicht alle Vertragsparteien auf eine Kün- digung bzw. eine neue Regel einigen.

Liechtenstein hat somit faktisch ein Vetorecht gegen eine Aufhebung der Sonderlösung.

Politischer Kontext

Die Sonderlösung Liechtensteins ist nicht einzig mit dessen besonderer geografischer Lage zu erklären. Viel- mehr zeigte Liechtenstein Beharr- lichkeit sowie grosses Verhandlungs- geschick, profitierte letztlich aber auch von günstigen Verhandlungs- bedingungen. Liechtenstein war der einzige Mikrostaat, der sich in den 1990er-Jahren aktiv um eine Teilnah- me am europäischen Integrations- prozess bemühte. Der Integrations- wille Liechtensteins blieb auch dann aufrecht, als sich die Schweiz gegen eine EWR-Mitgliedschaft entschied.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die EWR-Partner den Integrationsbemühungen Liechten- steins mit grosser Flexibilität begeg- neten und Liechtenstein zahlreiche kleinere und grössere Ausnahmen einräumten (Frommelt und Gstöhl 2011: 64–65; Frommelt 2016).

Die Sonderlösung ist das Ergeb- nis langwieriger Verhandlungen.

Dabei profitierte Liechtenstein vom institutionellen Rahmen des EWR.

So erfolgte z. B. die Einigung auf die Sonderlösung unter liechtensteini- schem Vorsitz im EWR-Rat. Dieser stärkte nicht nur den politischen Di- alog mit den EWR-Partnern, sondern gab Liechtenstein auch die Möglich- keit, die Verhandlungsagenda ent-

Trotz Sonderlösung kann sich Liech- tenstein der dyna-

mischen Weiter- entwicklung des Freizügigkeitsrechts

nicht entziehen.

0%

10%

20%

30%

40%

50%

Polen Rumänien Litauen Kroatien Bulgarien Slowakei Ungarn Portugal Finnland Tschechien Niederlande Slowenien Malta Frankreich Island nemark Griechenland Schweden Italien Vereinigtes nigreich Deutschland Spanien Norwegen Belgien Irland Österreich Estland Lettland Zypern Schweiz Liechtenstein Luxemburg

EU‐Staatsangehörige Drittstaatsangehörige

Überdurchschnittlich hoher Ausländeranteil in Liechtenstein

Ausländeranteil an Gesamtbevölkerung nach Staatsangehörigkeit (1.1.2015)

Quelle: Eurostat (migr_pop1ctz)

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lassen, um einer Erwerbstätigkeit in Liechtenstein nachzugehen. Ein solches Grenzgängermo- dell ist nur möglich, weil aufgrund der geringen Fläche Liechtensteins alle Arbeitsstätten aus dem benachbarten Ausland schnell erreichbar sind und weil Liechtensteins Nachbarn Österreich und Schweiz die Personenfrei- zügigkeit gewährleisten.

Zusammenfassend lässt sich fest- halten, dass die Entstehung und Aus- gestaltung der Sonderlösung nur in Kombination von inhaltlichen Argu- menten, institutionellen Einschrän- kungen und politischen Rahmen- bedingungen zu verstehen ist. Als scheidend mitzugestalten. Durch die

rechtliche Verankerung der Sonder- lösung als sektorale Anpassung der betreffenden Anhänge des EWR-Ab- kommens konnte zudem ein aufwen- diges Ratifikationsverfahren durch alle EWR-Staaten vermieden werden, wie es im Fall einer Anpassung des ursprünglichen Protokolls 15 nötig gewesen wäre. Die Konsolidierung der Sonderlösung im Zuge der EWR- Osterweiterung wurde schliesslich durch verschiedene Zugeständnisse Liechtensteins wie z. B. der Aufsto- ckung des EWR-Finanzierungsfonds begünstigt (Regierung 2004).

Der Hauptgrund, warum Liechten- stein eine Sonderlösung in einem für den europäischen Integrationspro- zess so wichtigen Bereich wie der Personenfreizügigkeit gewährt wur- de, liegt aber in der Kleinststaatlich- keit Liechtensteins. Mit seinen der- zeit 37600 Einwohnern und einer Fläche von 160 km2 ist Liechtenstein klar der kleinste aller 31 EWR-Staa- ten. Als sogenannter Mikrostaat hat Liechtenstein weder in wirtschaftli- cher noch politischer Hinsicht eine gesamteuropäische Bedeutung. Son- derregelungen für Liechtenstein ha- ben deshalb kaum Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des europä- ischen Binnenmarktes und können von anderen Staaten auch nur selten als Präjudiz gedeutet werden.

Die Sonderlösung ist auch aus einem anderen Grund untrennbar mit der Kleinststaatlichkeit Liech- tensteins verbunden. Für die liech- tensteinische Wirtschaft ist die Son- derlösung nur praktikabel, weil die Nachfrage nach Arbeitskräften durch Grenzgänger gedeckt

werden kann. Mehr als die Hälfte der Arbeits- plätze in Liechtenstein werden derzeit durch Grenzgänger besetzt.

Seit dem EWR-Beitritt Liechtensteins ist die Anzahl Grenzgänger deutlich stärker ge- wachsen als die Ge-

samtbevölkerung. Besonders stark angestiegen ist in den vergangenen zehn Jahren die Anzahl Grenzgän- ger aus der Schweiz, die über eine EWR-Staatsangehörigkeit verfügen, da sich viele EWR-Staatsangehörige bevorzugt in der Schweiz nieder-

inhaltliches Argument dient in Anbe- tracht des beschränkten Siedlungs- raums insbesondere die geringe Auf- nahmekapazität Liechtensteins. Die Sonderlösung bietet Liechtenstein aber keine Carte Blanche zur freien Gestaltung seiner Zuwanderungspo- litik. Vielmehr enthält sie zahlreiche Einschränkungen wie z. B. die Grund- sätze Nichtdiskriminierung, Wettbe- werbsneutralität und Chancengleich- heit. Zudem bleibt Liechtenstein in den institutionellen Rahmen der europäischen Migrationspolitik ein- gebunden, weshalb Liechtenstein trotz Sonderlösung neues Freizügig- keitsrecht übernehmen muss und die Umsetzung bzw. Anwendung des be- stehenden Freizügigkeitsrechts von den EFTA-Überwachungsinstitutio-

Zuwanderung nach Liechtenstein im Verhältnis zur Einwohnerzahl über EU/EFTA-Durchschnitt – Liechtenstein aber kein Ausreisser*

Quelle: Eurostat (demo_gind) Quelle: Eurostat (migr_imm1ctz)

Quelle: Eurostat (migr_imm1ctz)

0 10 20 30 40

‐10 0 10 20 30

0 10 20 30 40 50

Zuwanderung auf 1000 Ein- wohner (jeweils ohne eigene Staatsangehörige) (2014)

Nettozuwanderung auf 1000 Einwohner (2014)

Zuwanderung auf 1000 Einwohner (jeweils mit eigenen Staatsangehörige) (2014)

Für die Wirtschaft ist die Sonderlösung

nur praktikabel, weil die Nachfrage nach Arbeitskräften

durch Grenzgänger gedeckt werden

kann.

* Es wurden nur Staaten berücksichtigt, für welche Eurostat aktuelle Daten zur Verfügung stellt.

(6)

Migration im Sinne von Arbeits- kräftemobilität trägt wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit eines Wirt- schaftsraums bei. Mit Blick auf den europäischen Integrationsprozess wird der Migration aber auch eine identitätsbildende Funktion attes- tiert (Zürn und Checkel 2005). Ein- schränkungen der Freizügigkeit des EWR beschneiden deshalb nicht nur die Rechte der EWR-Staatsangehö- rigen, sondern verringern auch die Effektivität des europäischen Bin- nenmarktes und erschweren die für den europäischen Integrations- prozess so wichtige Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Identität. Umgekehrt besteht jedoch die Gefahr, dass die mit der Freizü- gigkeit verbundene politische Debat- te die Dynamik und Legitimität des Integrationsprozesses unterminiert nen kontrolliert wird. Der politische

Kontext ist wiederum klar durch die Kleinststaatlichkeit Liechtensteins und damit dessen geringe politische und wirtschaftliche Relevanz be- stimmt.

Die Sonderlösung wurde aller- dings auch durch andere Faktoren wie z. B. die einseitig auslösbare Schutzklausel im EWR, die strategi- sche Nutzung der EWR-Institutionen, Ausgleichszahlungen und Verhand- lungspakete im Zuge der EWR-Ost- erweiterung sowie die grundsätzlich hohe Integrationsbereitschaft Liech- tensteins begünstigt.

Liechtenstein als Modell?

Die Sonderlösung Liechtensteins ist zweifelsohne einzigartig. Einzigar- tig, weil kein anderer Staat für seine Bürger die volle Personenfreizügig- keit im EWR-Raum beanspruchen kann, selbst aber die Zuwanderung von EWR-Staatsangehörigen be- schränken darf. Einzigartig ist die Sonderlösung aber auch, weil sich Liechtenstein allein schon wegen seiner Grösse nicht mit den anderen EWR-Staaten vergleichen lässt und weil der heutigen Sonderlösung ein langer Prozess vorausging. Insofern kann Liechtenstein kaum als ein Mo- dell für Staaten wie das Vereinigte Königreich oder die Schweiz her- angezogen werden, welche die Zu- wanderung stärker nationalstaatlich kontrollieren möchten. Nichtsdesto- trotz können aus der Sonderlösung Liechtensteins durchaus interessan- te Rückschlüsse über die Freizügig- keit einerseits und die Möglichkeiten flexibler Integration andererseits ge- zogen werden.

(Toshkov und Kortenska 2015). Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, wie sich die Sonderlösung auf die Höhe der Zuwanderung nach Liechtenstein sowie die politische und öffentliche Unterstützung für den europäischen Integrationspro- zess in Liechtenstein auswirkte.

Unter den EWR-Staaten verfügt einzig Luxemburg über einen sub- stanziell höheren Ausländeranteil und Migrationssaldo als Liechten- stein. Auch in der Schweiz liegt der Ausländeranteil deutlich tiefer als in Liechtenstein, während die Net- tozuwanderung im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse in den ver- gangenen Jahren ähnlich hoch war.

Trotz Sonderlösung weist Liechten- stein also weiterhin eine sehr hohe Zuwanderung auf. Da sich zudem EWR-Staatsangehörige, welche in

Nur etwa ein Drittel der in Liechtenstein Beschäftigten sind Liechtensteiner Staatsangehörige

Bevölkerung, Beschäftigung und Einwanderung nach Staatsangehörigkeit (31.12.2014)

Quelle: Amt für Statistik 66.3%

9.6%

5.8%

11.7%

6.5%

31.0%

21.6%

23.4%

19.7%

4.4%

26.7%

17.4%

11.9%

28.0%

16.1%

Liechtenstein Schweiz Österreich übriger EWR Drittstaaten Bevölkerung

N=37’366 Beschäftigung

N=36’680 Einwanderung

N=615

Einwanderung jeweils deutlich höher als Auswanderung – auch höher als die EWR-Mindestverpflichtung

Ein- und Auswanderung seit 31.12.2008 nach Staatsbürgerschaft

Quelle: Amt für Statistik

191 161 214 168 186 160 207 162 223 171 236 165 233 164

62 118 58 121 52 97 61 110 66 119 64

107 58 107 187 241

154 203

158 237 144 291

99

249 145 326

126 245 50

58 29

92 32

97 55

87

51 132

52 98

59 99

0 200 400 600 800

Auswanderung Einwanderung Auswanderung Einwanderung Auswanderung Einwanderung Auswanderung Einwanderung Auswanderung Einwanderung Auswanderung Einwanderung Auswanderung Einwanderung

2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Liechtenstein Schweiz EWR Drittstaatsangehörige

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tät tatsächlich einhält. Entsprechend kann eine durch wirtschaftspoliti- sche Interessen bestimmte Vergabe- praxis nicht ausgeschlossen werden.

Eine effiziente und transparente Umsetzung einer Sonderregelung würde sich in grösseren Staaten wohl noch schwieriger gestalten als in Liechtenstein. Dies gilt auch für die Bemessung der Anzahl zu ertei- lender Aufenthaltsbewilligungen.

Seitens der liechtensteinischen Wirt- schaft wurde in den vergangenen Jahren mehrfach eine Lockerung der Zuwanderungsbestimmungen gefor- dert, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Seit 2011 erteilt die Regie- rung deshalb 15 Prozent mehr Auf- enthaltsbewilligungen an EWR- und Schweizer Staatsangehörige, als sie staatsvertraglich verpflichtet wäre.

Forderungen nach flexiblen Kontin- genten wurden von der Regierung jedoch stets zurückgewiesen, da die

Regierung seitens der EU derzeit keinen Ver- handlungsspielraum für Anpassungen der Son- derlösung sieht und bei einseitigen Anpassungen um den Fortbestand der Sonderlösung fürchtet.

Dabei kann es durchaus ein Vorteil sein, dass die in der Sonderlösung festgelegte Min- destverpflichtung von der konjunk- turellen Entwicklung Liechtensteins entkoppelt ist, da die mit einer sol- chen Koppelung verbundene wie- derholte Suche nach der korrekten Liechtenstein keine Aufenthaltsbe-

willigung erhalten, im benachbarten Ausland niederlassen können, hat die Sonderlösung die gesamteuro- päische Arbeitskräftemobilität wohl nicht verringert.

Im sehr kontrovers und emotional geführten Abstimmungskampf um Liechtensteins EWR-Beitritt wurde das Thema Zuwanderung rege disku- tiert, wobei die Gegner einer EWR- Mitgliedschaft vor «ungebremster Überfremdung» warnten (Broschüre EWR-tum Liechtenstein, 1995). Im Unterschied dazu werden in Liech- tenstein gegenwärtig kaum Forde- rungen nach einer Verschärfung der Zuwanderungsbestimmungen geäu- ssert. Dies ist vor allem auf die gerin- ge Arbeitslosigkeit in Liechtenstein sowie generell das hohe Niveau von Wohlstand und staatlichen Dienst- leistungen zurückzuführen. Die ge- ringe Politisierung der liechtenstei- nischen Migrationspolitik innerhalb der politischen Elite und der Bevöl- kerung ist jedoch auch ein Resultat der Sonderlösung.

Gemäss aktuellen Umfragedaten haben über 85 Prozent der liechten- steinischen Stimmberechtigten ein eher positives bis sehr

positives Bild vom EWR und fast 75 Prozent der Stimmberechtigten be- trachten den EWR als ein Erfolgsmodell für Liechtenstein (Frommelt 2015). Vergleicht man diese Daten mit ähnli- chen Umfragen in den EU-Staaten (European

Commission 2014: 33), der Schweiz (Longchamp 2015: 3) oder Norwe- gen (Norwegian EEA Review Com- mittee 2012, Chapter 12) fällt auf, dass kein Integrationsmodell einen so grossen Rückhalt geniesst wie die EWR-Mitgliedschaft in Liechtenstein.

Dieser grosse Rückhalt ist sicherlich auch durch das Entgegenkommen der EWR-Partner gegenüber Liech- tenstein begründet.

Funktionsdefizite

Liechtensteins Sonderlösung weist aber auch verschiedene Funktions- defizite auf. Obwohl die dem Land Liechtenstein gewährten Einschrän- kungen der Freizügigkeit theoretisch stets als Übergangsregime konzipiert

waren, hat Liechtenstein auf natio- naler Ebene kaum Anstrengungen unternommen, um seine Aufnah- mekapazität zu erhöhen. Gerade im Bereich der Raumplanung und Bau- ordnung beständen für die Politik zahlreiche Möglichkeiten, um stei- genden Immobilienpreisen sowie einer weiteren Zersiedelung wirk- sam gegenzusteuern (Brunhart und

Dumieński 2015). Um die Nachfrage nach aus- ländischen Arbeitskräf- ten zu verringern, könnte ferner eine bessere Inte- gration von Frauen oder älteren Arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt an- gestrebt werden. Auch die Auswirkungen der Zuwanderung auf die Identität Liechtensteins wurden in den vergangenen Jahren nur selten thematisiert. Insbesondere die Fest- legung eines Ausländeran-

teils von einem Drittel der Gesamtbevölkerung als

«ausgewogenes Verhält- nis» und «politische Ziel- grösse» erscheint dabei willkürlich.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die fehlende Transpa- renz bei der Vergabe von

Aufenthaltsbewilligungen durch die Regierung. Die öffentlich zugängli- chen Daten lassen keine Rückschlüs- se zu, inwieweit die Regierung die Grundsätze der Nichtdiskriminie- rung und der Wettbewerbsneutrali-

Hoher Anteil an Zulassungen für Familiennachzug

Einwanderung nach Zulassungsgrund (2014)

Quelle: Eurostat (mig_resfirst)

29.3% 42.8%

68.8%

20.5%

20.3%

4.9%

24.6%

29.5% 14.2%

25.6%

7.4% 12.0%

0%

20%

40%

60%

80%

100%

EU‐28 Schweiz Liechtenstein

andere Gründe Erwerbstätigkeit Ausbildung Familiennachzug

Die Einhaltung der Grundsätze der Nichtdiskriminie- rung und Wettbe- werbsneutralität lässt sich kaum

kontrollieren.

In keinem anderen EWR-Staat steht die Bevölkerung so geschlossen hinter dem entsprechen-

den Integrations-

modell wie in

Liechtenstein.

(8)

Anzahl zu erteilender Aufenthalts- bewilligungen wohl eine deutlich stärkere Politisierung provozieren würde.

Resümee

Forderungen nach einer Beschrän- kung der Zuwanderung hat die EU bisher stets als unvereinbar mit ei- nem freien Zugang zum EU-Binnen- markt zurückgewiesen. Die Sonder- lösung Liechtensteins zeigt jedoch, dass differenzierte Integration auch innerhalb der vier Grundfreiheiten möglich ist. In Anbetracht der aktu- ellen Debatten über die Freizügig- keit im Vereinigten Königreich und der Schweiz ist Liechtenstein somit zweifelsohne ein interessantes Un- tersuchungsobjekt. Die liechtenstei- nische Sonderlösung bietet aber kein Vorbild für eine universell anwend- bare Beschränkung der

Zuwanderung. Vielmehr ist die Sonderlösung spezifisch auf die Bedin- gungen Liechtensteins zugeschnitten und zeich- net sich durch eine hohe Komplexität aus.

Die Debatte um mögli- che Einschränkungen der

Freizügigkeit wird den europäischen Integrationsprozess in den nächsten Jahren weiter prägen. Wohin die- se Debatte genau führen wird, lässt sich derzeit nicht abschätzen. Die Erfahrungen Liechtensteins zeigen, dass eine zahlenmässige Begrenzung

nur innerhalb einer komplexen Son- derlösung und nur am Ende eines langwierigen Verhandlungsprozes-

ses möglich war. Im Un- terschied zum Vereinig- ten Königreich und der Schweiz profitierte Liech- tenstein dabei einerseits von einem sehr geringen internationalen Inter- esse. Andererseits zeig- te Liechtenstein durch seinen EWR-Beitritt so- wie die korrekte Umsetzung seiner Verpflichtungen aus dem EWR-Ab- kommen eine für einen Mikrostaat aussergewöhnliche Integrations- bereitschaft. In den Verhandlungen über die Sonderlösung profitierte Liechtenstein zudem von einem ho-

hen innerstaatlichen Konsens. Ein solcher innerstaatlicher Konsens über die Notwendigkeit, aber auch die konkrete Ausgestaltung einer Einschränkung der Freizügigkeit fehlt in Staaten wie dem Vereinigten Königreich und der Schweiz, was die Frage aufwirft, ob eine solche Ein- schränkung überhaupt funktionieren würde und tatsächlich zu einer Ent- politisierung der Migrationspolitik führen würde.

Die Debatte im Vorfeld des Brexit hat schliesslich deutlich gemacht, dass sich Forderungen nach einer re- striktiven Migrationspolitik oftmals auf falsche Zahlen und Annahmen stützen. Aus integrationspolitischer Sicht wäre deshalb vor allem mehr Sachlichkeit wünschenswert sowie

Beschäftigungswachstum in Liechtenstein fast ausschliesslich durch Zupendler

Entwicklung von Bevölkerung, Zupendler und Beschäftigung seit 31.12.1994

Quelle: Amt für Statistik 0

5'000 10'000 15'000 20'000 25'000 30'000 35'000 40'000

 Einwohner Zupendler Beschäftigung

Funktionsweise der Freizügigkeit:

• Eine lokale Beschränkung der Zuwanderung führt in Grenzregionen eher zu einer Verlagerung als zu einer Verringerung der Arbeitskräftemobilität von EU-Bürgern.

• Besonders schützenwerte Aspekte der Freizügigkeit wie z. B. Familiennachzug können von einer Be- schränkung ausgespart werden.

• Grundsätze wie z. B. Nichtdiskriminierung, Wett- bewerbsneutralität und Chancengleichheit sichern bei korrekter Umsetzung eine möglichst faire und transparente Vergabepolitik.

• Die Einbettung in den institutionellen Rahmen eines bestehenden Integrationsmodells fördert eine effiziente Umsetzung und Umsetzungskontrolle von Sonderregelungen.

Acht Schlussfolgerungen aus der Sonderlösung Liechtensteins

Möglichkeiten differenzierter Integration:

• Spezifische Ausnahmen besitzen eine grosse Symbol- kraft und können die Legitimität eines Integrations- modells wesentlich erhöhen.

• Eine Sonderregelung sollte so ausgestaltet sein, dass der begünstigte Staat ein immanentes Interesse be- sitzt, seine «Aufnahmekapazität» durch innerstaatli- che Massnahmen stetig zu erhöhen.

• Eine Beschränkung der Freizügigkeit kann nicht nur wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Argumenten folgen, sondern hat sich primär auf strukturelle und geografische Faktoren zu stützen.

• Eine Sonderregelung sollte möglichst klare Vorgaben enthalten, sodass im begünstigten Staat nicht perma- nent über die Höhe der Zuwanderungsbeschränkung gestritten wird.

Es ist unklar, ob Beschränkungen der Zuwanderung

tatsächlich die Politisierung der

Freizügigkeit

stoppen könnte.

(9)

trag der Regierung an den Land- tag des Fürstentums Liechtenstein betreffend die Abänderung des Gesetzes über die Freizügigkeit für EWR- und Schweizer Staats- angehörige sowie die Abänderung weiterer Gesetze. Nr. 34, Vaduz.

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setzungen der Freizügigkeit seitens der Nationalstaaten. Gelingt es aber nicht, die negative Politisierung der Freizügigkeit und des europäischen Integrationsprozesses zu stoppen, stellt sich in der Tat die Frage nach einem Paradigmenwechsel mit spe- zifischen oder gar universellen Ein- schränkungen der Freizügigkeit.

Allerdings wäre der Ausgang eines solchen Paradigmenwechsels aus heutiger Sicht äusserst ungewiss.

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LI Focus 2/2016

Christian Frommelt, Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut.

christian.frommelt@liechtenstein-institut.li http://dx.doi.org/10.13091/li-focus-2016-2

Zitiervorschlag: Frommelt Christian, Liechtensteins Sonderlösung – ein Modell differenzierter Integration? LI Focus 2/2016, Bendern 2016.

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