• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Mißhandlung von Kindern und Jugendlichen: Das Kind in einer pathologischen Familiendynamik" (04.06.1987)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Mißhandlung von Kindern und Jugendlichen: Das Kind in einer pathologischen Familiendynamik" (04.06.1987)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

ZUR FORTBILDUNG

Das Kind in

einer pathologischen Familiendynamik

ie ärztlichen Aufga- ben bei Kindesmiß- handlung, schwerer Vernachlässigung so- wie bei gewaltfreiem sexuellen Mißbrauch von Kindern können nur dann hinreichend um- sichtig wahrgenommen werden, wenn die dem Mißhandlungssyndrom zugrunde liegende Störung der zwi- schenmenschlichen Beziehungen sorgfältig diagnostiziert worden ist.

Da rund 90 Prozent aller Mißhandlun- gen von Kindern in der Familie auftre- ten, handelt es sich in der überwiegen- den Mehrzahl um die Diagnostik des familiären Beziehungssystems.

1. Rahmen-

bedingungen für die Familie

An derartigen Beziehungsstö- rungen sind ungefähr gleich oft Männer und Frauen beteiligt. Die Zahlen über den Anteil der Frauen schwanken in den Literaturangaben zwischen rund 70 Prozent und etwa 40 Prozent. Es handelt sich um Er- eignisse, die mehrfach begangen werden, in etwa einem Drittel der Fälle oder sogar noch häufiger kommt es zu Rückfällen. Ungefähr 60 Prozent der Mißhandelnden er- scheinen, was ihre allgemeine Le- bensführung anbetrifft, als Durch- schnittsbürger, nur etwa ein Zehntel fällt durch dissoziales Verhalten in anderen Bereichen auf. Alkoholis- mus spielt zweifellos eine Rolle.

Die soziale Lage der Familie kann durch ungünstige wirtschaft- liche Verhältnisse ständig belastet sein. Hier ist ein ganzes Spektrum möglicher Ursachen zu berücksichti- gen, zum Beispiel die Notwendig- keit, das Kind allein versorgen zu müssen mit der ständigen Anspan- nung, den beruflichen Erfordernis- sen und den Bedürfnissen des oder der Kinder gerecht zu werden. An- dere anhaltende soziale Überforde- rungssituationen resultieren aus Ar- beitslosigkeit oder Armut auf Grund der Unfähigkeit der Eltern, die wirt- schaftlichen Belange der Familie be- friedigend zu regeln. Auch finden sich soziale Streßsituationen, die

Peter Strunk

Mißhandlung

von

Kindern und

Jugend- lichen

Eine angemessene Versorgung von körperlich oder seelisch mißhandelten beziehungsweise gewaltfrei sexuell mißbrauch- ten Kindern ist nur dann ge- währleistet, wenn die zugrun- de liegenden Störungen der zwischenmenschlichen Bezie- hungen und die seelischen Folgeerscheinungen beim Kind sorgfältig beachtet werden.

Der Artikel zeigt dazu ein Spek- trum von Gesichtspunkten auf.

durch die Außenseiterstellung der Familie in einer Dorfgemeinschaft, etwa bei Flüchtlingen, Spätaussied- lern oder durch einen schlechten Leumund bedingt sind. Hier ent- steht leicht in der Familie eine resi- gnative, manchmal auch paranoide und kompensatorisch aggressive Einstellung gegenüber dem weiteren sozialen Raum, die auch den Um- gangsstil der Familienangehörigen untereinander zu beeinträchtigen vermögen. Die Außenseiterposition

Abteilung für Kinder- und Jugendpsychia- trie (Direktor: Professor Dr. med. Peter Strunk), Albert-Ludwigs-Universität Frei- burg im Breisgau

der Familie innerhalb eines Gemein- wesens ist gar nicht so selten der Hintergrund für als Mißhandlung zu klassifizierende übermäßige Strafak- tionen, in denen sich Wut und Ver- zweiflung über rufschädigendes Ver- halten wie kleine Diebstähle, Schul- schwänzen eines älteren Kindes nie- derschlägt.

■ Folgerung: Eine durch- schnittliche bürgerliche Le- bensführung der Familie darf keinesfalls dazu verleiten, eine Kindesmißhandlung oder ei- nen gewaltfreien sexuellen Mißbrauch eines Kindes für wenig wahrscheinlich zu hal- ten. Wirtschaftliche Not, aus welchen Gründen auch immer, Überforderung durch soziale Dauerbelastungen, mangelnde soziale Integration der Familie geben Hinweise auf die emo- tionale Lage der Angehörigen als Hintergrund für die Miß- handlung und dienen als unter Umständen ausschlaggebende Kriterien für familienthera- peutische Ansätze oder als Entscheidungshintergrund für die Notwendigkeit einer dau- erhaften Fremdplazierung des Kindes.

2. Persönlichkeits- merkmale der Eltern

Defizite in der Persönlichkeits- entwicklung der Eltern

auf Grund

von Fürsorge

-

und Erziehungsmän-

geln

in deren eigener Kindheit wer- den immer wieder in der Literatur als ausschlaggebendes Moment für

(2)

das Zustandekommen des schädi- genden Verhaltens gegenüber den Kindern genannt. Hierunter fällt die Tatsache, daß die mißhandelnden Eltern in ihrer Kindheit selbst miß- handelt worden sind und sich manchmal sogar vorgenommen ha- ben, ihr Kind niemals derartigen entsetzlichen Erfahrungen auszuset- zen — allerdings nur ein Aspekt. Das Spektrum der schädigenden Kon- stellationen ist wesentlich breiter und umfaßt praktisch alle Bedingun- gen, unter denen Störungen der Per- sönlichkeitsentwicklung auftreten können: in erster Linie ist hierbei an Schäden durch den wiederholten Wechsel der führenden Bezugsper- sonen zu nennen, die nicht nur zu ei- ner schweren Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Beziehungs- fähigkeit insgesamt, sondern auch — je nach Dauer der emotionalen Mangelsituation und je nach Alter des Kindes — zu partiellen Defiziten in der Zuwendungsfähigkeit führen können.

Außer diesen Deprivationser- fahrungen sind Trennungserlebnis- se, die durch die Instabilität der Be- ziehungen in den Herkunftsfamilien bedingt sind, zu nennen, etwa Ver- lust von Vater oder Mutter durch Tod, Scheidung, Migration, vor- übergehende Unterbringungen in Pflegestellen, Heimen.

Aufmerksamkeit erfordert auch der Erziehungsstil, dem die mißhan- delnden Eltern ausgesetzt waren, wobei nicht nur die Häufigkeit kör- perlicher Bestrafungen, sondern auch ein verbal aggressiver erziehe- rischer Stil, der das Kind permanent entwertet, als besonders destruktiv gilt, aber auch inkonsistente erziehe- rische Haltungen, in denen das Kind nicht vorauszusehen vermag, welche Reaktionen von seiten der Eltern auf sein eigenes Verhalten erfolgen und damit das Vertrauen in die Ver- läßlichkeit der Umwelt ebenso schwer beeinträchtigt wird wie das Selbstvertrauen.

Derartige Kindheitserfahrungen haben zur Folge, daß so geschädigte Menschen im Erwachsenenalter grö- ßere Schwierigkeiten haben, die Be- dürfnisse anderer Menschen, unab- hängig von der eigenen Bedürfnisla- ge, das heißt also einigermaßen part-

nerzentriert, unverfälscht, wahrzu- nehmen und in besonderem Maße von einer unmittelbaren Bedürfnis- befriedigung abhängig sind. Hier- durch erhält ihr Verhalten sehr leicht eine Komponente von Unge- duld, mangelnder Toleranz und la- tenter aggressiver Spannung, die sich eruptiv in Gewalttätigkeit ent- lädt. Dies geschieht um so eher, als bei so vorgeschädigten Menschen gar nicht so selten eine ganz unreali- stische und sicher als infantil zu kennzeichnende Erwartungshaltung gegenüber der Umwelt besteht, mit einem überhöhten Anspruch an Versorgung und selbstloser Zuwen- dung, die sich nicht nur an die Er- wachsenen des sozialen Umfeldes richtet, sondern häufig eben auch an das Kind, das zwangsläufig an der Aufgabe scheitert, für die Elternper- son eine Art gute Mutter oder guter Vater sein zu sollen.

■ Folgerung: Die Diagnostik der pathologischen Bezie- hungsstruktur hat besondere Aufmerksamkeit auf Defizite in der Persönlichkeitsentwick- lung der Eltern zu lenken, die aus deren Kindheitsgeschichte resultieren und die Fähigkeit zu einer reifen erzieherischen Zuwendung gegenüber ihren Kindern beeinträchtigen. Da- durch wird das Ausmaß der af- fektiven Realitätsverkennung, dessen Opfer das mißhandelte Kind häufig ist, verständlicher.

Es läßt die Eltern ebenfalls als oft schwer geschädigte Men- schen und damit letztlich auch als Patienten erscheinen, bei denen überlegt werden muß, wie auch ihnen ärztlich-thera- peutisch oder sozialtherapeu- tisch geholfen werden kann.

3. Das Kind

in der Sonderrolle

Während sich schwere Vernach- lässigung gegen die gesamte Ge- schwisterzahl richten kann, etwa wenn eine Reihe von Kleinkindern

relativ rasch nacheinander geboren wurde, so richtet sich die Mißhand- lung auch in einer größeren Ge- schwisterzahl meist nur gegen ein Kind in der Familie.

Hier sind Wesenszüge zu nen- nen, durch die das Kind leicht in die Rolle eines „schwarzen Schafes" in- nerhalb der Familie gerät. Ihnen kann eine frühe Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Beziehung zugrun- de liegen mit schwieriger Schwan- gerschaft oder Geburt, frühen Krankenhausaufenthalten und Pro- blemen, die sich in der Säuglings- phase durch unruhiges Verhalten des Kindes, Störungen seines Schlaf- Wach-Rhythmus, Ernährungs- und Verdauungsschwierigkeiten und so weiter äußern können.

Auch ist an Verhaltensstörun- gen auf Grund einer minimalen ze- rebralen Dysfunktion zu denken, die die Fähigkeit des Kindes, sich sozial zu integrieren, beeinträchtigt, da es auf Grund seiner Distanzstörung, die Neigung überschießende Affekte zu entwickeln und durch seine moto- rische Ungeschicklichkeit von der Umwelt in besonderem Maße Ge- duld und Umsicht verlangt. Hier- durch sind gar nicht selten Eltern überfordert, deren Einstellungsfä- higkeit durchaus für die durch- schnittlichen, alltäglichen Probleme, die sich in der Kindererziehung stel- len, ausreichen mag. Sehr leicht ent- steht aber durch die Fehldeutung dieser hirnorganisch bedingten Auf- fälligkeiten als Erziehungsschwierig- keiten insoweit ein Circulus vitiosus, als diese vermehrte erzieherische Maßregelungen provozieren, auf die das Kind nun wiederum überschie- ßend reagiert, so daß es zu einer Es- kalation der Spannungen und gele- gentlich eben auch zu Mißhandlun- gen kommen kann.

Einzelne Symptome, wie zum Beispiel Bettnässen oder das nächt- liche Herumgeistern in der Woh- nung eines noch nicht schulpflichti- gen Kindes, provozieren vergebliche erzieherische Maßnahmen, zuneh- mende Ungeduld und Zorn, die sich eruptiv in der Mißhandlung entladen können. Auch eine geistige Behin- derung kann zu einer derartigen Haltung führen unter der Illusion, durch stundenlanges Lernen, straffe A-1654 (70) Dt. Ärztebl. 84, Heft 23, 4. Juni 1987

(3)

erzieherische Führung doch noch ei- ne erhoffte bessere Begabung, etwa bei einem Mädchen mit einem Down-Syndrom, zur Entfaltung zu bringen; die Enttäuschungen über die geringen Fortschritte der Toch- ter führten hier zum Beispiel zu Züchtigungen mit Mißhandlungs- charakter.

■ Folgerung: Unabhängig von übertriebenen Erwartun- gen und mangelnder Einstel- lungsfähigkeit der Eltern ist zu überprüfen, wie weit das Kind auf Grund von Beeinträchti- gungen, etwa geistiger Behin- derung, auf Grund von Teillei- stungsstörungen durch ein hirnorganisches Psychosyn- drom eine Sonderrolle in der Familie einnimmt, tatsächlich in mancher Hinsicht versagt und Anlaß zu Enttäuschungen gegeben hat.

4. Die Störung der Eltern-Kind- Beziehung

Es ist unmittelbar einsichtig, daß bei den in den beiden vorausge- henden Abschnitten aufgezeigten Defiziten in der Persönlichkeitsent- wicklung der Mutter oder des Vaters und bei den Verhaltensauffällig- keiten des Kindes eine erhebliche Störung der Eltern-Kind-Beziehung eintreten kann. Auf Grund der in- fantilen Bedürftigkeit des mißhan- delnden Elternteiles ist selbst bei Kindern im Vorschulalter der Ein- druck zu gewinnen, als seien die El- tern überhaupt nicht mehr in der La- ge, ihr Kind als schwach und schutz- bedürftig wahrzunehmen, vielmehr formulieren sie ihre Auseinanderset- zung mit dem Kind wie einen Kampf mit einem ebenbürtigen Partner, dem sie zu unterliegen drohen. Tat- sächlich wehren sich gelegentlich die Kinder sogar im Kleinkindesalter so gezielt, daß sie die Schwächen ihrer Eltern treffen. Die tiefe Verzweif- lung und Verunsicherung, die sich hinter solch einer kämpferischen At-

titüde eines Kindes verbirgt, wird erst deutlich, wenn das Kind aus die- ser Situation eine Zeitlang herausge- nommen worden ist. Die Rollenum- kehr — Parentifizierung des Kindes — kann so weit gehen, daß eine Mutter von einem noch nicht einjährigen Kind behauptet, daß es sie ablehne, nicht lieb zu ihr sei!

Unter dem Beziehungsaspekt erweitert sich das diagnostische Spektrum um eine Reihe von bio- graphischen Konstellationen, von denen hier einige eher beispielhaft als vollständig aufzuzeigen sind.

Dies ist zum Beispiel die uneheliche, voreheliche oder überhaupt uner- wünschte Geburt, die das Kind als eine besondere Last für die Eltern erscheinen läßt, etwa wenn die Freu- de über die gewonnene wirtschaft- liche Selbständigkeit mit dem ausge- prägten Wunsch, eigene expansive Bedürfnisse zu befriedigen, verbun- den ist (um das Modewort Selbstver- wirklichung anzudeuten), oder wenn eine noch deutlich ambivalente Hal- tung der Partner zueinander durch die Schwangerschaft beendet zur frühen Eheschließung führt.

Vorübergehende oder auch jah- relange Fremdplazierung des Kindes bei der wirtschaftlichen Notwendig- keit zur baldigen Wiederaufnahme von Berufstätigkeit der jungen Mut- ter, etwa bei den Großeltern, füh- ren, wenn das Kind schließlich in den Haushalt seiner Eltern über- nommen wird, oft zu erheblichen er- zieherischen Problemen, die in der Regel von den Eltern auf eine ver- wöhnende erzieherische Haltung der Großeltern zurückgeführt werden, tatsächlich aber damit zusammen- hängen, daß die Eltern in den ver- gangenen Jahren keine ausreichen- den emotionalen Erfahrungen im Umgang mit dem Kind gesammelt haben, die ihnen helfen würden, die erzieherischen Erfordernisse des be- reits einige Jahre alten Kindes we- sentlich unbefangener und flexibler zu handhaben. Dies gelingt ihnen dann nach wirtschaftlicher Stabilisie- rung beim zweiten Kind, das ganz unter der Obhut der Mutter auf- wächst, problemlos. Derartige Ent- fremdungen ergeben sich auch nach längerem Klinik- oder Heimaufent- halt eines Kindes.

Darüber hinaus sind projektive Mechanismen von großer Bedeu- tung, wenn zum Beispiel ein Kind mit dem abgelehnten früheren Part- ner, dem leiblichen Vater oder der leiblichen Mutter identifiziert wird, dessen Wesenszüge im Kind wieder- erkannt und bekämpft werden, oder wenn eine zweite Ehefrau auf die Stieftochter eifersüchtig ist, weil die- se ihrer leiblichen Mutter sehr gleicht, der der Ehemann noch nachtrauert. Stiefeltern sind aller- dings eher selten in Kindesmißhand- lung verstrickt.

Wichtiger erscheint der Hin- weis, daß gelegentlich eine unglück- liche und Mißhandlung provozieren- de Konstellation daraus entstehen kann, daß das Kind der ihm von ei- nem unglücklichen Ehepartner oder von einer alleinerziehenden Eltern- person auferlegten Rolle eines Part- nerersatzes nicht gewachsen ist, ge- genüber dem intensiven Beziehungs- angebot des Erwachsenen eine Ab- wehr aufbaut, die sich in permanen- ter Unbotmäßigkeit und Ansprüch- lichkeit manifestiert, wodurch es sei- tens des Erwachsenen wiederum zu überschießenden aggressiven Reak- tionen kommt, die ihn selbst zutiefst erschrecken und verunsichern. Der- artige Konstellationen können im zweiten Lebensjahrzehnt des Kindes auch dazu führen, daß die Kinder ih- rerseits die Eltern mißhandeln.

Schließlich kann die Beziehung des Erwachsenen zum mißhandelten Kind dadurch bestimmt sein, daß dieser im Kind Wesenszüge be- kämpft, die er bei sich selbst ab- lehnt, wodurch das besondere Aus- maß der aggressiven Erregung, das oft in einem beachtlichen Gegensatz zu dem auslösenden Fehlverhalten des Kindes steht, recht gut verstan- den werden kann, da ihm die ausge- prägte Beunruhigung über die eige- nen abgewehrten Handlungstenden- zen zugrunde liegt.

■ Folgerung: Die Erweite- rung des diagnostischen Spek- trums unter dem Stichwort

„Beziehung" umfaßt eine Fül- le von biographischen Konstel- lationen, in denen die Existenz

(4)

und das Verhalten des mißhan- delten Kindes eine Bedeutung erhält, die primär nichts mit ihm zu tun hat, sondern inso- weit, als das Kind Repräsen- tant für Probleme ist, die die erwachsenen Bezugspersonen untereinander oder mit sich selbst haben. Es braucht kaum betont zu werden, wie wichtig derartige Erkenntnisse für die Indikationsstellung zur Famili- entherapie oder individuellen Psychotherapie einer erwach- senen Bezugsperson sind.

5. Seelische Folgen bei dem

mißhandelten Kind

Die Auswirkungen einer Kin- desmißhandlung auf das seelische Befinden können in ihrer Schwere kaum unterschätzt werden. Man kann sich kaum etwas Entsetzliche- res für ein kleines Kind vorstellen, als von den Bezugspersonen geschla- gen, getreten, gebrannt oder ge- schleudert zu werden, die seine Grundbedürfnisse nach Versorgung und Geborgenheit garantieren müß- ten. Die Erfahrung von solchen Tät- lichkeiten stellt in jedem Falle für das Kind die Konfrontation mit ei- nem vernichtenden Ereignis dar, sie können vom kleinen Kind noch gar nicht in angemessener Weise see- lisch verarbeitet werden, führen zu Panik, Hilflosigkeit und oft zu er- heblichen Regressionen der psychi- schen Entwicklung und der Gefahr einer psychotischen Desorganisa- tion. Es treten primitive Abwehrme- chanismen ein:

■ Vermeidungsverhalten: Die Kin- der distanzieren sich von der Um- welt, vermeiden Blickkontakt, ma- chen sich durch Bewegungsarmut

„unscheinbar" und gehen selbst auf freundliche Angebote ihrer Mütter nicht mehr ein. Dabei beobachten sie ständig ihre Umgebung. Dieses Zustandsbild wird als „gefrorene Wachsamkeit" beschrieben. Durch das Vermeidungsverhalten wird die

kognitive Entwicklung des Kindes beeinträchtigt und führt zu einer Re- tardation der motorischen und sprachlichen Entwicklung, später zur geistigen Entwicklungsverzöge- rung mit Lernschwierigkeiten. Daß es sich dabei um eine psychische Re- aktionsbildung handelt und nicht um die Folgen von Schädel-Hirn-Trau- men, die durch die Mißhandlung entstanden sind, kann relativ leicht übersehen werden.

■ Verleugnung, Projektion und Abspaltung sind Abwehrmechanis- men, die insoweit unter Umständen zu schwerwiegenden Problemen in der weiteren Erziehung des Kindes führen können, als die Kinder die unerträgliche Tatsache, von ihren ei- genen Eltern mißhandelt worden zu sein, aus ihrem Bewußtsein elemi- nieren, die Eltern als „gut" in ihrer Erinnerung idealisieren und plötz- lich aufschießende Ängste gegen- über ihren Pflegepersonen entwik- keln können, die sie als übermäßig ängstigend, gefährdend erleben.

Dies kontrastiert stark mit dem Zu- wendungsbedürfnis, das mißhandel- te Kinder gegenüber ihren neuen Bezugspersonen entwickeln können, wodurch sie häufig kindlicher wir- ken als es dem tatsächlichen Alter entspricht. Umso schwerwiegender ist der plötzliche Vertrauensverlust für die Pflegepersonen, wenn diese bereit sind, auf die Beziehungswün- sche der Kinder einzugehen.

■ Spätere Verhaltensauffälligkei- ten: Mißhandelte ältere Kinder fal- len oft durch ihre Tendenz auf, Spielsachen zu zerstören, Tiere und schwächere Kinder zu quälen, sogar stärkere Kinder zu attackieren ohne Rücksicht auf die Folgen für sie selbst. Man muß sich fragen, ob eine solche Tendenz der Abfuhr von Wut dient, die ursprünglich gegen die mißhandelnden Eltern gerichtet war, ob die Kinder den mit ihnen praktizierten Umgangsstil im Sinne eines Lernens am Modell wiederho- len oder ein wichtiger Abwehrme- chanismus vorliegt, der als Identifi- kation mit dem Aggressor bezeich- net wird. Jedenfalls hat diese Ten- denz zu aggressiven Verhaltenszü- gen eine sehr große Bedeutung inso-

weit, als die Kinder sich in jedem Fall selbst als „böse" empfinden und sich in ihrer Phantasie zum ei- gentlichen Verursacher ihres Elen- des machen, eine verzerrte Selbst- wahrnehmung, die eine Komponen- te für die schwere Beeinträchtigung des Selbstwertgefühles darstellt.

Natürlich ist die Ausprägung der Reaktionsbildung der Kinder vom Entwicklungsstand zum Zeit- punkt der traumatisierenden Erfah- rungen abhängig und zum Beispiel auch von dem Vorhandensein oder Fehlen kompensatorischer schützen- der Bedingungen innerhalb oder au- ßerhalb der Familie.

Unter den Reaktionsbildungen der Eltern auf das Bekanntwerden der Mißhandlung sind zwei Extreme zu nennen: Die völlige Ausstoßung des Kindes, dem endgültig die Sün- denbockrolle in der Familie zudik- tiert wird, wobei die Eltern jeden freundlichen Kontakt zu dem Kind einstellen oder die verbleibenden Kontakte durch bestrafende und herabsetzende Momente gekenn- zeichnet sind. Das andere Extrem findet sich in dem strikten Verlan- gen der Herkunftsfamilie, das Kind wieder in die eigene Obhut überneh- men zu können, wobei Schuldgefüh- le und Wiedergutmachungstenden- zen vorherrschen, aber auch die Nö- tigung der Eltern, sich selbst und auch der Umwelt zu beweisen, daß sie doch den erzieherischen Aufga- ben gewachsen und keine schlechten Eltern sind.

■ Folgerung: Die seelischen Reaktionen auf die Mißhand- lung erschweren häufig die In- tegration des Kindes in einen neuen Lebensraum, so daß ne- ben der Notwendigkeit einer Behandlung des seelischen Traumas durch Psychotherapie besondere Aufmerksamkeit der Qualifikation der zukünfti- gen Bezugspersonen gelten muß. Sehr leicht entstehen durch die Übertragung der Konflikte, die das Kind mit den mißhandelnden Eltern hatte, auf die nachfolgenden Bezugspersonen eine Überfor-

A-1658 (74) Dt. Ärztebl. 84, Heft 23, 4. Juni 1987

(5)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

derung zum Beispiel in einer Pflegefamilie, die einen erneu- ten Milieuwechsel für das Kind und damit konsekutive Schädi- gungen provozieren. Es genügt nicht, das Kind als Opfer der verwerflichen Handlungen sei- ner Eltern zu betrachten, viel- mehr müssen die Probleme durch die Reaktionsbildung des Kindes sehr ernst genom- men werden, damit nicht wei- tere Menschen in den Sog ei- ner pathologischen Bezie- hungskonstellation geraten, der durch den neurotischen Wiederholungszwang des Kin- des bedingt ist, das sie aufge- nommen haben. Darüber hin- aus darf die Fähigkeit der El- tern, ihre Einstellung zu dem Kind zu ändern, nicht über- schätzt und dem Drängen, das Kind in die Herkunftsfa- milie zurücknehmen zu kön- nen, nicht zu früh entspro- chen werden.

Literatur

1. Geerds, F.: Kindesmißhandlung und -ver- nachlässigung, Formen, Opfer und Täter aus kriminologischer Sicht sowie über Konse- quenzen für die ärztliche Praxis. Vortrag Akad. f. ärztl. Fortb. der Bez. Ärztekammer Südbaden, Freiburg, 10. 5. 1986

2. Green, A. H.: Child Abuse. J. Am. Acad.

Child Psychiat. 22 (1983) 231-237

3. Helfer, R. E.; Kemper, C. H. (Hrsg.): Das geschlagene Kind. Suhrkamp, Frankfurt M., 1978

4. Hirsch, M.: Zur Psychodynamik und Famili- endynamik realen Inzests. Forum Psycho- anal. 1 (1985) 223-238

5. Ounsted, D.; Oppenheimer, R.; Lindsay, J.:

Aspects of bonding failure. Developm. Med.

Child Neurol 16 (1974) 446-456

6. Rassmann, St.: Das Delikt der Kindesmiß- handlung in Südbaden. Dissertat. Freiburg, 1978

7. Stober, B.: Familie und Kindesmißhandlung

— eine Literaturübersicht. Fam. dyn. 4 (1979) 376-388

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Peter Strunk Ärztlicher Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Albert-Ludwigs-Universität Hauptstraße 5

7800 Freiburg i. Br.

1 Placebowirkung 1 bei homöopathischer

Behandlung?

Frau Prof. Oepen unterscheidet Naturheilverfahren von Pseudo-Na- turheilverfahren. Zu den ersteren zählt sie die Kneippkur, zu den letz- teren die Homöopathie, der sie nur eine Placebo-Wirkung zuerkennt.

Meiner Meinung nach wäre es kein Unglück, wenn die homöopathi- schen Ärzte eine solche Suggestiv- kraft hätten, daß sie mit Placebos auskämen. Das ist aber nicht der Fall. Um erfolgreich mit potenzier- ten Substanzen zu arbeiten, muß man ihre Grenzen kennen. Diese sind sicher dort gegeben, wo man um die Substitution eines fehlenden Stoffes nicht mehr herumkommt.

Kein vernünftiger Arzt wird zum Beispiel auf den Gedanken kommen, einen insulinpflichtigen Diabetes oder eine funikuläre Mye- lose homöopathisch behandeln zu wollen. Es handelt sich bei der Ho- möopathie darum, die bei den mei- sten Patienten geschwächte Selbstre- gulation wieder voll funktionsfähig zu machen. Das mag gelegentlich auch mit einem Placebo gelingen. Es gibt aber durchaus Kriterien, die ei- ne sichere Unterscheidung von ho- möopathischen Mitteln zur Placebo- Wirkung erlauben.

Hier ist am eindrucksvollsten die Wirkung am Tier. Regelmäßig wird darüber im „Deutschen Jour- nal für Homöopathie" berichtet. Ei- gentlich muß man sich darüber wun- dern, daß die Schulmedizin davon keine Notiz nimmt, wo doch der Tierversuch so hoch im Kurs

steht.

Auf seine Fragwürdigkeit hat schon der inzwischen verstorbene Marbur- ger Physiologe Prof. Hensel immer

wieder hingewiesen. Gute bis her- vorragende Erfolge werden aus der Pädiatrie berichtet. Niemand wird bei Säuglingen und Kleinkindern Placebowirkungen erwarten. Bei Er- wachsenen kommt eine Erstver- schlechterung als Placebowirkung wohl kaum vor, bei Behandlung mit Hochpotenzen fast immer. Wird ei- ne potenzierte Substanz zu lange ge- nommen, tritt eine Wirkumkehr auf.

Man versteht darunter das Auftre- ten des Arzneimittelbildes der be- treffenden Substanz.

Bei der Behandlung chronischer Krankheiten kann man es immer wieder erleben, daß früher durchge- machte und scheinbar geheilte Krankheiten in umgekehrter Rei- henfolge ihres Entstehens wieder auftreten. Sie waren also durch die vorausgegangene allopathische Be- handlung nicht geheilt, sondern nur verdrängt. So viel zur Frage der Pla- cebowirkung bei homöopathischer Behandlung.

Leider werden von den Kolle- gen immer wieder ausführliche Stel- lungnahmen gegen die Homöopa- thie gegeben, die nur auf mangelhaf- te Information zurückzuführen sind.

In einem Leserbrief können und sol- len auch nur Denkanstöße vermittelt werden. Seit dem vorigen Jahr ist ein Buch im Handel, dessen Lektüre viele Diskussionen um das Pro und auch Contra der Homöopathie er- spart. Es handelt sich um Resch/Gutman, „Wissenschaftliche Grundlagen der Homöopathie", er- schienen im 0.-Verlag GmbH.

Schatzlgasse 31, 8137 Berg am Starnberger See.

Dr.

med. Erich Kail

Neurologe Overbeckstraße 7 4920 Lemgo

Die Kneipptherapie

Zu dem Beitrag von Dr. med. Wolfgang Brüggemann

und dem Kommentar von Frau Prof. Dr. med. Irmgard Oepen

in Heft 47/1986, Seiten 3288 bis 3292

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

oraussetzung einer er- folgreichen Interven- tion bei Mißhandlung oder Vernachlässigung eines Kindes ist eine sorgfältige Untersuchung vor allem des betroffenen Kindes, aber auch

Wenn wir von der bloßen Täter- Opfer-Deliktbetrachtung abkom- men (ein Konzept, das den Ursa- chen und der Dynamik der Kindes- mißhandlung nicht gerecht werden kann) und viel eher

J eder Arzt, ob er nun in ei- ner Praxis, in einem Kran- kenhaus oder im öffent- lichen Gesundheitsdienst tä- tig ist, kann jederzeit mit Kindes- mißhandlung oder

Man weiß heute, daß sexueller Mißbrauch auch innerhalb der Fa- milie sowohl von der Häufigkeit als auch von den Folgen her ein nicht zu vernachlässigendes Phänomen ist, daß

Eine motorische und später auch sprachlich-mentale Entwick- lungsverzögerung, spätere Schul- schwierigkeiten und eventuelle gei- stige Retardierung mißhandelter Kinder wird von

Pro- spektive randomisierte Studien zu der Frage, ob durch die zusätzliche Ableitung eines EKG die Häufigkeit des plötzlichen Herztodes beim Sport verringert werden kann, liegen

Mythen und Märchen wollen jedoch nicht nur mitgeteilt, sondern über das lebendige Mitschwingen des Therapeuten in der Vielfalt der angesprochenen Gefühle erlebt werden.. Indem

Gran Cadenza, von Anne-Sophie Mutter bei der in Berlin lebenden südkoreanischen Komponistin Unsuk Chin in Auftrag gegeben, ist ein virtuoses Duo für zwei Violinen.. Der Titel