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Archiv "Paradoxien des Gewichts" (06.06.2008)

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404 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 236. Juni 2008

M E D I Z I N

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ie Arbeit aus dem Robert-Koch-Institut, die das Deutsche Ärzteblatt auf den folgenden Seiten veröffentlicht, enthält einige bemerkenswerte Resul- tate. Sie zeigt jedoch auch die ganze Komplexität des Themas Gewicht bei jungen Menschen. Einer der wichtigsten Befunde von Bärbel-Maria Kurth und Ute Ellert ist die Unzufriedenheit vieler 11- bis 17-Jähri- ger mit ihrem Körpergewicht, obwohl sie nach den ge- genwärtig angewandten medizinischen Regeln gar nicht zu viel wiegen. Fast die Hälfte der normalge- wichtigen Mädchen und etwa ein Viertel normalge- wichtiger Jungen hält sich für zu dick. Hier zeigt sich eine enorme Diskrepanz zwischen dem ärztlichen Verständnis eines angemessenen Gewichts und der Selbstwahrnehmung Jugendlicher.

Kurth und Ellert problematisieren zu Recht die Be- nutzung der herangezogenen BMI-Perzentile zur Ab- grenzung der Gewichtskategorien; diese Perzentile basieren auf älteren Datensätzen. Es erscheint trivial darauf hinzuweisen, dass das Körpergewicht indivi- duell unterschiedlich ausfällt. Bei den heutigen Adi- positas-fördernden Umweltbedingungen muss es eine erhebliche Anzahl an Personen geben, die über einem spezifischen, in früheren Erhebungen festgelegten Schwellenwert liegen. Die quantitativen Unterschiede kommen durch genetische Faktoren – die Varianz des BMI ist zu circa 50 bis 70 % genetisch bedingt – und Umweltfaktoren zustande (1). Die heutige Umwelt begünstigt sowohl eine zu hohe Energiezufuhr wie auch körperliche Inaktivität. Jedoch: Dass ein anderer Maßstab für Übergewicht zu gänzlich anderen Ergeb- nissen als den von Kurth und Ellert erhobenen geführt hätte, erscheint zumindest unwahrscheinlich.

Die gesellschaftliche Vorstellung davon, was ein er- höhtes Gewicht ist, orientiert sich aber ohnehin nur be- dingt an medizinisch definierten Schwellenwerten von Übergewicht beziehungsweise Adipositas; auch den- ken Jugendliche wenig an die mit Übergewicht einher- gehenden medizinischen Risiken. Es wäre daher inter- essant zu erfahren, ob die Mädchen und Jungen, die sich für zu dick halten, einen zwar noch normalen, aber höheren BMI aufweisen als diejenigen, die mit ihrem Gewicht zufrieden sind. Für Jugendliche zählt vor al- lem ihr ästhetisches Empfinden – hier meint „zu dick“

eigentlich „hässlich“. Wie die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) zeigen, ist der Druck schlank sein zu sollen bei den jungen Menschen ausgeprägt. Offen ist, ob dieser empfundene Druck ei- ne schlechtere Lebensqualität bedingt und/oder ob Ju- gendliche mit einer niedrigen Lebensqualität nicht häu- figer sich auch zu dick fühlen.

In einer Gesellschaft, in der Menschen mit Adiposi- tas einer erheblichen Stigmatisierung ausgesetzt sind und in der das Äußere eine so große Rolle spielt, ist es geradezu erstaunlich, dass immerhin 40,4 % der 11- bis 17- Jährigen der Meinung sind, sie hätten „genau das richtige Gewicht“. Erstaunlich ist auch, dass Ju- gendliche, die tatsächlich adipös sind, eine nur ge- ringfügig erniedrigte Lebensqualität angeben. Dabei haben drei von fünf Mädchen und drei von zehn Jun- gen mit Adipositas in den Worten von Kurth und Ellert ein Problembewusstsein für ihr Übergewicht. Pro- blembewusstsein gilt als eine Voraussetzung für Ver- haltensänderungen und es ist uns Ärzten insbesondere dann willkommen, wenn es um Gesundheitsrisiken geht. Allerdings können die Patienten unsere Rat- schläge zum Abnehmen leider kaum langfristig um- setzen: Ein Jahr nach Beginn eines Gewichtsreduk- tionsprogramms liegt das Körpergewicht eines Er- wachsenen – sofern er seine Studienteilnahme nicht abgebrochen hat – durchschnittlich 7 kg niedriger, nach zwei Jahren noch 3 kg (2); nach 5 Jahren lässt sich kaum ein Effekt mehr nachweisen. Bei Jugendli- chen und Erwachsenen wird kontrovers diskutiert, in- wieweit Gewichtsreduktionsprogramme das Problem nicht noch weiter verschlimmern beziehungsweise gar die Mortalität erhöhen (3, 4, 5–9). Gerade bei Ju- gendlichen finden sich Hinweise auf eine über- schießende Gewichtszunahme beziehungsweise eine Verschlechterung des Essverhaltens als Folge kurzfri- stig erfolgreicher Gewichtsabnahmen.

Pharmakologische Behandlungen der Adipositas führen im Durchschnitt zu Gewichtsabnahmen, die um 3 bis 5 kg höher als unter Einnahme von Placebo ausfallen (2). Dies gilt jedoch nur so lange, wie die entsprechende Substanz eingenommen wird. Durch die Einnahme der gegenwärtig zugelassenen „Ab- nehmpillen“ ist jedoch keine Lösung des Adipositas- problems erkennbar; dies gilt erst recht für Jugendli- che. Lediglich chirurgische Interventionen führen zu deutlichen und dauerhaften Gewichtsabnahmen (2).

Solche Eingriffe sind allerdings nur auf den Personen- kreis mit extremer Adipositas (= 40 kg/m²) bezie- hungsweise mit Grad-II-Adipositas (= 35 kg/m²) und entsprechenden Folgestörungen beschränkt; Jugendli- che werden nur selten operiert. Wir können nur hof- fen, in Zukunft stark übergewichtigen Menschen jeder Altersgruppe besser helfen zu können.

Vor diesem Hintergrund kann man aus kinder- und ju- gendpsychiatrischer Sicht den interessanten Befund von Kurth und Ellert auch gegen den Strich bürsten: Was nützt den Jugendlichen gegenwärtig ihr Problem- EDITORIAL

Paradoxien des Gewichts

Johannes Hebebrand

Zu dem Artikel

„Gefühltes oder tatsächliches Übergewicht:

Worunter leiden Jugendliche mehr?“

von Bärbel-Maria Kurth und Ute Ellert auf den folgenden Seiten.

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Ju- gendalters, Rheinische Kliniken Essen an der Universität Duisburg- Essen: Prof. Dr. med.

Hebebrand

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Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 236. Juni 2008 405

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bewusstsein? Ihre Lebensqualität könnte sich dank die- ser Einsicht verschlechtern. Jugendliche, die beständig versuchen, ihr Gewicht zu reduzieren, haben auch ande- re Probleme: Sie neigen vermehrt zu depressiven Ver- stimmungen, Suizidgedanken, Alkohol- und Drogen- konsum (5). Manchmal scheint nicht nur die Gleichset- zung von Schlankheit und Schönheit übertrieben, sondern auch die von Normalgewicht und Gesundheit bezie- hungsweise die von Übergewicht und Krankheit. So be- trachtet kann man sich für die übergewichtigen Kinder und Jugendlichen eigentlich nur freuen, wenn sie nicht auch noch psychisch unter ihrem Übergewicht leiden.

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten

eingereicht: 21. 4. 2008, revidierte Fassung angenommen: 24. 4. 2008

LITERATUR

1. Hebebrand J, Sommerlad C, Geller F, Görg T, Hinney A: The genetics of obesity: practical implications. Int J Obes Relat Metab Disord 2001 May; 25 Suppl 1: S10–8.

2. Douketis JD, Macie C, Thabane L, Williamson DF: Systematic review of long-term weight loss studies in obese adults: clinical significance and applicability to clinical practice. Int J Obes 2005; 29: 1153–67.

3. Field AE, Austin SB, Taylor CB, Malspeis S, Rosner B, Rockett HR, Gillman MW, Colditz GA: Relation between dieting and weight change among preadolescents and adolescents. Pediatrics 2003 Oct; 112: 900–6.

4. Gregg EW, Gerzoff RB, Thompson TJ, Williamson DF: Intentional weight loss and death in overweight and obese U.S. adults 35 years of age and older. Ann Intern Med 2003 Mar 4; 138: 383–9.

5. Neumark-Sztainer D, Hannan PJ: Weight-related behaviors among adolescent girls and boys: results from a national survey. Arch Pe- diatr Adolesc Med 2000 Jun; 154: 569–77.

6. Neumark-Sztainer D, Wall M, Guo J, Story M, Haines J, Eisenberg M: Obesity, disordered eating, and eating disorders in a longitudi- nal study of adolescents: how do dieters fare 5 years later? J Am Diet Assoc 2006 Apr; 106: 559–68.

7. Neumark-Sztainer D, Wall M, Haines J, Story M, Eisenberg ME:

Why does dieting predict weight gain in adolescents? Findings from project EAT-II: a 5-year longitudinal study. J Am Diet Assoc 2007 Mar; 107: 448–55.

8. Stice E, Cameron RP, Killen JD, Hayward C, Taylor CB: Naturalistic weight-reduction efforts prospectively predict growth in relative weight and onset of obesity among female adolescents. J Consult Clin Psychol 1999 Dec; 67: 967–74.

9. Sørensen TI, Rissanen A, Korkeila M, Kaprio J: Intention to lose weight, weight changes, and 18-y mortality in overweight individu- als without co-morbidities. PLoS Med 2005 Jun; 2:e171.

Prof. Dr. med. Johannes Hebebrand Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Rheinische Kliniken Essen an der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174

45147 Essen

E-Mail: johannes.hebebrand@uni-due.de

The Paradoxes of Body Weight

Dtsch Arztebl 2008; 105(23): 404–5 DOI: 10.3238/arztebl.2008.0404

The English version of this article is available online:

www.aerzteblatt-international.de

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