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DEUTSCHES ARZTEBLATT
Heft 8
vom 26. Februar 1982
Auf Goethes Spuren
Dies ist wieder ein- mal ein Goethe- Jahr: Vor 150 Jahren starb der Staats- mann, Dichter und Reisende. Anlaß ge- nug, auf ein Buch hinzuweisen, das sein Leben visuell nachzeichnet.
Dies ist eines der wenigen Bücher, die man als Sensa- tion bezeichnen darf. Der
Fotograf Michael Ruetz hat den Versuch gemacht — so erzählt er im Nachwort selbst —, Goethes Augen- welt mit „subjektiver Kame- ra" zu zeigen. Das Studium von Goethes Werken ergab eine Kartei mit etwa 400 Motiven, von denen aller- dings nur etwa die Hälfte realisierbar war; teils gibt es die Motive einfach nicht mehr, andere sind so ver- ändert oder verstellt, daß es eben nicht mehr „Goe- thes Augenwelt" ist — so beispielsweise ein Motiv der Tempel von Agrigent, die von der dahinter ste- henden modernen Stadtsil- houette erschlagen werden (dieses Foto ist im Nach- wort als Negativbeispiel wiedergegeben). Einige der Methoden, mit denen die Goethesche Subjektivi- tät nachvollzogen wurde, verrät der Fotograf: so die Aufnahme bei ganz frühem
oder sehr spätem Tages- licht — denn: „Fotografie ist Aufzeichnung des Lich- tes", und dies hat auch der Zeichner und Tagebuch- schreiber Goethe schon getan, der vier Jahre vor der Erfindung der Fotogra- fie starb. Ein nicht erwähn- ter Trick: Mehrfach sind
Motive, zum Beispiel der Petersplatz oder das Innere einer Kirche, mit kleinster Blende und langer Belich- tungszeit aufgenommen Dadurch sind alle sich be- wegenden Personen oder
Fahrzeuge gar nicht festge- halten, und so konnte das Bild eines fast menschen- leeren Petersplatzes ent- stehen. Insgesamt entstand so eine Sammlung von Bil- dern aus Weimar, von Reisezielen Goethes in Deutschland, Böhmen, der Schweiz und Italien, die al- lein schon eine Meisterlei- stung darstellt. Dazu aber kommt: Der Schriftsteller und Journalist Eckart Klessmann hat zu diesen
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Bildern eine Auswahl von Goethe-Zitaten getroffen und Zitate wie Bilder kom- mentiert, die historischen Zusammenhänge herge- stellt, die Umwelt berichtet, in die Goethe jeweils hin- einkam. So ist das Buch auch ein wichtiger Beitrag zu unserer Goethe-Kennt- nis: Der Schriftsteller lernte nämlich beim Fotografen den visuellen Charakter und die visuelle Arbeitswei- se Goethes kennen, und er erklärt daraus die große Bedeutung, die die erste Italienreise für sein Leben und sein Werk hatte — sie war die große Zäsur, und der Fotograf glaubt, daß diese Reise ihm einen gro- ßen Fundus visueller Erleb- nisse verschaffte, von dem er noch lange zehrte.
Schließlich ist das Buch noch auf das großzügigste ausgestattet und gedruckt, und so sind systematisches Durcharbeiten wie gele- gentliches Schmökern ein großer Genuß. Übrigens war diese Reise, wie über- haupt viele der goethe- schen Reisen, der (erfolg- reiche) Versuch einer Kur:
Immer wieder waren es psychische und in der Fol- ge davon bisweilen auch physische Krisen, die Goe- the davontrieben — von Wetzlar nach Koblenz, von Sesenheim nach Italien oder immer wieder nach Böhmen. Klessmanns Be- richt ist so auch ein Lehr- stück zum Thema „Reisen als Therapie".
Walter Burkart, Köln
Michael Ruetz: Auf Goethes Spuren, Stätten und Land- schaften, Textauswahl und Kommentar von Eckart Kless- mann, Artemis Verlag, Mün- chen, 204 Seiten, davon 77 far- big und 56 schwarzweiß, 71 Seiten Text mit 28 Vignetten, Leinen, 98 DM
Rovereto, wie es Goethe zeichnete. Ein Fotograf auf Goethes Spuren wird das Motiv heute kaum verändert wiederfinden
Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 8 vom 26. Februar 1982 105