Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
DEUTSCHE S ÄRZTEBLATT
Heft 50 vom 10. Dezember 1981
Präleukämie
Anthony-Dick Ho und Werner Hunstein
Aus der Medizinischen Universitäts-Poliklinik Heidelberg (Direktor: Professor Dr. med. Werner Hunstein)
Bei einem Viertel der Patienten mit akuter Leukämie geht der eigentlichen Erkrankung eine Phase der „Präleukämie" vor- aus. Präleukämien können bei beschwerdefreien Patienten zufällig durch Laboruntersu- chungen entdeckt werden.
Kennzeichnend sind Verände- rungen im Blutbild: Panzyto- penie oder Bizytopenie. Ande- re Patienten dagegen sind krank: Schwäche, Hinfällig- keit, subfebrile Temperaturen, manchmal Blutungsneigung.
Das Knochenmark zeigt einen mehrdeutigen Befund: Normo- oder hyperplastisches Mark mit Vermehrung von Blasten.
Zytogenetische Untersuchun- gen, Untersuchungen an Kno- chenmarkkulturen und andere Befunde haben dieTreffsicher- heit der Diagnose verbessert:
Chromosomenaberrationen, verminderte Koloniebildung, erhöhte Lysozymwerte, patho- logische Hämoglobine, Defek- te in den glykolytischen Ery- throzytenenzymen. Die Mög- lichkeiten der Therapie sind zur Zeit noch äußerst begrenzt.
Der nachfolgende Beitrag gibt eine kurze Übersicht über Kli- nik, Laborbefunde, Verlauf und Therapie der Präleukämie.
Definition
Als Präleukämie bezeichnet man die einer akuten myeloischen Leukämie vorausgehende hämopoetische In- suffizienz einer oder mehrerer Zelli- nien des Knochenmarkes. Präleuk- ämie muß notwendigerweise eine Verdachtsdiagnose sein, die sich erst nach Manifestation einer akuten Leukämie retrospektiv bestätigt.
Gleichwohl gibt es eine Reihe von Veränderungen im peripheren Blut und Knochenmark, welche für die- ses Syndrom charakteristisch sind.
Für die Phase der Knochenmarkin- suffizienz vor einer Leukämie sind zahlreiche Bezeichnungen vorge- schlagen worden, die meistens nur Teilaspekte berücksichtigen (Tabel- le 1). Inzwischen hat sich die Be- zeichnung „Präleukämie" allgemein durchgesetzt (4, 5, 8, 12)*).
Die Präleukämie ist von den Erkran- kungen zu trennen, die mit einem erhöhten Leukämierisiko einherge- hen, zum Beispiel dem Down-Syn- drom, der Fanconi-Anämie, dem Bloom-Syndrom oder myeloprolife- rativen Erkrankungen wie der Poly- cythaemia vera, der Osteomyelofi- brose oder der essentiellen Throm- bozythämie. Bei der Präleukämie ist der neoplastische Zellklon bereits etabliert, während dies bei den ge- nannten anderen Erkrankungen nicht der Fall ist. (4, 5, 8).
Morbidität und klinische Befunde Über die lnzidenz der Erkrankung gibt es noch keine genauen Zahlen.
Eine der größeren retrospektiven Studien hat 132 Patienten mit akuter myeloischer Leukämie analysiert und darunter 41 Patienten gefun- den, bei denen eine Präleukämie vorausgegangen war (9).
Neuere Studien zeigen, daß in etwa 25 bis 50 Prozent der Patienten mit akuter myeloischer Leukämie eine Phase der Präleukämie festzustellen ist und daß 42 bis 65 Prozent der als Präleukämie diagnostizierten Fälle innerhalb von zwei Jahren tatsäch- lich in eine akute Leukämie überge- hen (1, 3, 6, 8, 12).
Die Symptome der Präleukämie sind uncharakteristisch. Viele Patienten sind beschwerdefrei; bei ihnen findet man zufällig aus Anlaß einer Allge- meinuntersuchung eine diskrete hämorrhagische Diathese mitThrom- bozytopenie oder eine ausgeprägte Leu kozytopen ie beziehungsweise Leukozytose oder eine mäßige An- ämie. Bei 20 bis 33 Prozent dieser Fälle ist außerdem eine Splenomega- lie festzustellen (2, 6, 10). DasAlterder Patienten liegt in etwa 75 Prozent der Fälle über 50 Jahre; 65 Prozent sind männlich (2, 3, 6, 8, 9).
*) Die in Klammern stehenden Ziffern bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks
2385
Panzytopenie 32%
Anämie 23%
Anämie und Leukozytopenie 17%
15%
Anämie und Thrombozytopenie
Leukozytopenie 6%
4%
Thrombozytopenie
Monozytose 1,5°A
Leu kozytose 1,5%
Erythrozyten Leukozyten Thrombozyten
Quantitativ Anämie (> 80%)*) Leukozytopenie (50%)*) Leu kozytose(< 2%)*)
Thrombozytopenie (50%)*)
- häufig makrozytär, selten hypochrom - megaloblastische
Vorstufen
- Verminderung der spezi- fischen Granula
- Hyposegmentierung - Monozytose
- abnorm groß - bizarre Formen
- Neigung zur Agglutination Qualitativ
') Prozentsatz der Patienten mit Präleukämie-Syndrom
Hämatopoetische Dysplasie Myeloische Dysplasie
Dysmyelopoetisches Syndrom Refraktäre megaloblastische Anämie
Refraktäre Anämie mit hyperplastischem Kno- chenmark
Refraktäre Anämie mit exzessiven Myeloblasten (RAEM)
Acquired idiopathic dyserythropoietic anaemia
Tabelle 1: Präleukämie-Synonyme Tabelle 2: Präleukämie-Initialbefunde (mod. n. (3), (5) und (10)) Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
Präleukämie
Tabelle 3: Blutveränderungen bei Präleukämie (modifiziert nach (8) und (10))
Blutbefunde
Die entscheidenden Veränderungen finden sich erwartungsgemäß im pe- ripheren Blut und im Knochenmark (Tabellen 2 bis 4). Die meisten Pa- tienten sind anämisch und haben er- niedrigte Retikulozytenwerte. Im pe- ripheren Blut findet man ovale Ma- krozyten; megaloblastäre Normobla- sten und basophile Tüpfelung kom- men vor. Die Leukozytenzahl kann erniedrigt sein, dabei normaler Lym- phozytenanteil. Eine mäßige Mono- zytose ist häufig. Die Neutrophilen weisen entweder eine Hypogranula- tion oder abnorm große Granula auf.
Die Kerne können hyposegmentiert
sein (vom Typ Pelger-Huöt). Eine Thrombozytopenie ist bei 75 Prozent zu finden. Die Plättchen fallen durch ihre Größe und bizarre Formen auf (Tabelle 3).
Das Knochenmarkbild wird von Ver- änderungen in allen drei Zellinien geprägt (Tabelle 4). Am auffälligsten sind Hyperplasie der Erythropoese, megaloblastäre Veränderungen und Reifungsstörungen zwischen Kern und Plasma. In den erythropoeti- schen Zellen finden sich Karyorrhe- xis, Multinukleation und Vakuolisie- rung des Zytoplasmas. Bei Eisenfär- bungen findet man in den Siderobla- sten grobe Eisengranula. Die Verän-
derungen der Granulopoese sind weniger kennzeichnend. Meist be- steht eine Linksverschiebung; dann und wann finden sich Nester von Myeloblasten.
Die Azurgranula der Promyelozyten sind spärlich oder abnorm groß. Die spezifischen Granula sind auch in den Knochenmarkzellen vermindert, so daß viele Myelozyten oder Meta- myelozyten eher Monozyten ähneln.
Die Anzahl der Megakaryozyten kann normal oder vermehrt sein. Sie zeigen übersegmentierte Formen sowie bizarre Mikrokaryozyten mit 1 bis 2 oder mehr rundovalen Ker- nen (12).
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Therapieform Wirkung 1. Vitamin B12 oder
Folsäure
keine 2. Androgene
3. Pyridoxin
5. Zytostatika
keine
ganz vereinzelt Besserung
zweifelhaft 4. Glukokortikoide ca. 9% Besserung
6. Allogene Knochen- marktransplantation
noch wenig bekannt 7. Symptomatisch
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Präleukämie
Erythrozytopoese Granulozytopoese Thrombozytopoese
50%
41%
9%
56%
21%
24%
Quantitativ — hyperplastisch
— normal
— hypoplastisch
— uncharakteristisch — hyperplastisch
— normal
— hypoplastisch
Qualitativ — atypische Morphologie 85%
(Mikromegakaryozyten)
— megaloblastisch 88%
— bizarre rote
Vorstufen 79%
— Linksver-
schiebung 53%
— „Ringed"
Sideroblasten 38%
— Linksverschiebung 50%
— Monozytoide
Formen 85%
Zelldichte: hyperplastisch 76%, normal 21%, hypoplastisch 3%
Tabelle 4: Knochenmarkbefunde bei Präleukämie
Enzym-Mangel der Erythrozyten (Pyruvatkinase)
Erhöhung des Hb F
Veränderungen der Erythrozytenantigene
Erhöhung des Lysozyms
Chromosomenaberrationen
Verminderung der CFUc
Tabelle 6: Therapie der Präleukämie Tabelle 5: Präleukämie-Laborbefunde
Weitere Laboruntersuchungen Zytochemische Untersuchungen wie die alkalische Leukozytenphospha- tase oder PAS sind nicht spezifisch und leisten in der Diagnostik keine Hilfe (Tabelle 5). Die Myeloperoxyda- se kann in einem Teil der Neutrophi- len vermindert sein (12). Defekte an der glykolytischen Enzymausstat- tung der Erythrozyten sind häufig.
Am bekanntesten ist ein Pyruvatki- nasemangel (7, 10, 12), der in Einzel- fällen extreme Werte erreichen kann (7). Das Hämoglobin F ist bei 80 Pro- zent der Patienten gering erhöht (10). Bei einigen Patienten hat man eine erworbene HbH-Vermehrung
beschrieben, ebenso sind Verände- rungen der Erythrozytenantigene im ABO- und li-System bekannt (10, 11, 12). Eine Erhöhung des Serum-Lyso- zyms beziehungsweise eine ver- mehrte Ausscheidung dieses En- zyms im Urin ist häufig nachgewie- sen worden.
Auch Funktionsstörungen der Neu- trophilen und Thrombozyten kom- men vor. In vitro konnten eine ver- minderte bakterizide Aktivität der Neutrophilen, eine Störung der Che- motaxis und der Phagozytose so- wie eine verminderte Aggregation der Thrombozyten festgestellt wer- den (12).
Zytogenetik u. Knochenmarkkultur Besondere Bedeutung wird bei der Präleukämie der Chromosomenana- lyse beigemessen (9, 12). Die Mehr- zahl der Patienten weisen Chromo- somenanomalien auf. Besonders häufig kommen Aberrationen in der C-Gruppe vor. Interessanterweise betrifft die Chromosomenanomalie alle Zellinien. Es hat sich neuerdings gezeigt, daß die In-vitro-Kultur des Knochenmarks bei Präleukämie von diagnostischer und prognostischer Bedeutung ist. Denn ähnlich wie bei der Leukämie ist bei der Präleuk- ämie die Fähigkeit zur Koloniebil- dung vermindert. Das Ausmaß der DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 50 vom 10. Dezember 1981 2387
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Präleukämie
Verminderung läßt gewisse progno- stische Aussagen zu. Bei einer Ver- minderung von< 2 Kolonien pro 105 Knochenmarkzellen ist die Überle- benszeit signifikant vermindert (3, 12). Ferner zeigt sich eine erhebli- che Verzögerung der Ausdifferen- zierungstendenz der granulopoeti- schen Zellen in der Zellkultur. Diese Beobachtung weist auf eine Störung in dem Ausreifungsprozeß hin und ist auch bei der akuten myeloischen Leukämie bekannt (8, 12).
Vor kurzem wurde berichtet, daß die ln-vitro-Testung mit Glukokortiko- iden eventuell voraussagen kann, ob eine Therapie mit Glukokortikoiden erfolgversprechend wird. Die Patien- ten, bei denen in vitro keine Steige- rung der Koloniebildung (Colony- Forming Units in Culture, CFUc) durch Glukokortikoide erzielbar ist, scheinen auf diese Behandlung nicht anzusprechen (1 ).
Verlauf und Prognose
Die Dauer der Präleukämie bis zum Vollbild einer akuten Leukämie ist in der Regel kurz. Innerhalb von sechs Monaten entwickelt sich bei etwa ei- nem Drittel der Patienten eine akute Leukämie, innerhalb von zwölf Mo- naten bei 40 bis 50 Prozent und in- nerhalb von zwei Jahren bei 50 bis 74 Prozent (6, 9). Einzelne Beobach- ter konnten Latenzzeiten von 11 bis 34 Jahren ermitteln (11 ). Die Median- überlebenszeit ab Diagnosestellung beträgt 18,9 Monate (3) bis 2,5 Jahre (6). Nach Ausbruch der Leukämie ist die Prognose infaust. Die über einen präleukämischen Zustand sich ent- wickelnde akute myeloische Leuk- ämie ist besonders therapieresistent (12).
Therapie
Gemäß heutiger Kenntnis und heuti- gem Erfahrungsstand gibt es in der Phase der Präleukämie keine befrie- digende Therapie (Tabelle ·6) (8, 11 ).
Vitamin B12 oder Folsäure werden häufig gegeben, vor allem wegen der megalabiastären Veränderun- gen. Diese Therapie ist ineffektiv. ln
vielen Fällen wurden Androgene ver- sucht; eine kontrollierte Studie zeig- te jedoch ebenfalls keinen Effekt dieses Hormons (12). Einzelbeob- achtungen über Erfolge mit hochdo- siertem Pyridoxin (Vitamin B6 ) wur- den berichtet (8). Bei etwa 9 Prozent der Patienten sollen Glukokortiko- ide wirksam sein (1 ). Doch ist die Dauer bis zum Ausbruch der akuten Leukämie nicht wesentlich verlän- gert. Es muß eine relativ hohe Dosie- rung von 60 bis 100 mg Prednison pro Tag, über 3 bis 4 Wochen ge- wählt werden. Wenn nach vier Wo- chen keine Besserung eintritt, sollte man die Therapie unterbrechen. Ei- ne ln-vitro-Testung mittels Zellkultur kann eventuell eine Voraussage über den Therapieeffekt erlauben.
Die Wirkung von Zytostatika ist zwei- felhaft. Die Erfolgsraten bisheriger Studien sind schlecht (8, 12).
Die neuere Möglichkeit der allo- genen Knochenmarktransplantation dürfte wegen des in der Regel hohen Alters der meisten Patienten dieses Leukämietyps entfallen. Bei jünge- ren Patienten (< 40 Jahre) und bei Vorhandensein eines Geschwister mit identischem Human-Lympho- zyten-Antigen-System (HLA-System) soll jedoch diese Behandlungsmög- lichkeit angestrebt werden (12).
Literatur
Greenberg, P.; Mara. 8.: The preleukemic syn- drome, Gorrelation of in vitro parameters of granulopoiesis with clinical features, Am J.
Med. 66 (1979) 951-958- Gross, R.; Hellriege I, H. P.; Heller, A.: Zur Definition der "Präleuk- ämie" und zur Differentialdiagnose früher leukämischer Veränderungen, Dtsch. med.
Wschr. 98 (1973) 895--900- Heimpel, H.; Bau- ke, J.: Präleukämie, Med. Klin. 67 (1972) 997-1003- Koeffler, H. P.; Golde, D. W.: Hu- man preleukemia, Ann. Intern. Med. 93 (1980) 347-350- Schmalz!, F.; Hellriegel, K. P. (Eds.):
Preleukemia, Springer-Verlag, Berlin/Heidel- berg/New York (1979)
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Anthony-Dick Ho Professor Dr. med.
Werner Hunstein
Medizinische Universitäts-Poliklinik Hospitalstraße 3
6900 Heidelberg 1
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FÜR SIE GELESEN
Lungenfunktion nach überlebtem
Adult-Respiratory-Distress- Syndrom (ARDS)
Das ARDS ist gekennzeichnet durch Dyspnoe, diffuse pulmonale Infiltra- te, verminderte Compliance und ei- ne schwere Störung des transpul- monalen 02-Transfers. Während der akuten Phase besteht eine erhebli- che arterielle Hypoxämie, deshalb ist die Prognose bei diesen Patien- ten zurückhaltend zu stellen. Bei Überlebenden ist eine Normali- sierung des Lungenbefundes wahr- scheinlich.
Die Autoren überprüften die Lun- genfunktion bei 13 Patienten nach überlebtem ARDS:
~ Bei allen Patienten normalisier- ten sich die Röntgenbefunde
~ bei 6 dieser Patienten waren nach 2 Monaten die FVC und TLC noch deutlich erniedrigt
~ bei den anderen 7 Patienten wa- ren diese Parameter nach 6 oder mehr Monaten im Normbereich
~ die Diffusionskapazität der Lun- ge für CO (DLco) war nach 6 Mona- ten noch signifikant erniedrigt
~ bei 11 Patienten lag die alveolo- arterielle 02-Differenz unter Ruhe- bedingungen im Normbereich, bei jedem Überlebenden erhöhte sie sich aber unter Belastung; bei 2 Pa- tienten fiel der p02 um mehr als 2 mmHg ab.
Die Autoren folgern aus ihren Unter- suchungen, daß sich die Atemme- chanik 4 bis 6 Monate nach über- standenem ARDS normalisiert und Störungen des pulmonalen Gasaus- tausches bestehenbleiben. Sie
Elliott, C. G.; Morris, A. H.; Cengiz, M.: Pulmo- nary Function and Exercise Gas Exchange in Survivors of Adult Respiratory Distress Syn- drome, Am. Rev. of Resp. Dis. 123 (1981) 492-495, Dr. C. Gregory Elliott, Pulmonary Div., LDS Hosp., 325 8th Av., Salt Lake City, Ut 84143, USA