Differentialgleichungen f¨ ur Ingenieure WS 06/07
2. Vorlesung Michael Karow
Themen heute:
1. Explizite Differentialgleichungen 1.Ordnung 2. Geometrische Deutung:
Richtungsfelder und Integralkurven 3. Anfangswertprobleme
4. Autonome und separable DGL 5. Existenz- und Eindeutigkeitsatz 6. Literaturhinweise
In der ersten Vorlesung wurden u.a. folgende DGL vorgestellt:
DGL L¨ osungen
y
′= 1 + y
2y ( x ) = tan( x + c ) y
′= p y/x y(x) = c x
py
′= a ( x ) y y ( x ) = c e
A(x), A
′( x ) = a ( x )
Alle diese DGL sind von der Gestalt: y
′= f (x, y ).
Ausf¨ uhrlicher geschrieben: y
′( x ) = f ( x, y ( x )) . Solche DGL heissen
Explizite Differentialgleichungen 1. Ordnung
Geometrische Interpretation expliziter DGL 1. Ordnung
y ′ (x) = f (x, y(x))
↑ ↑
| |
| |
Steigung der Kurve y( · ) vorgegebene Steigung f am Punkt ( x, y ( x )) am Punkt ( x, y ( x ))
Kurve y ( · ) mit Tangenten:
x
y( ) y(x)
Richtungsfelder (Steigungsfelder)
Die L¨ osungen der DGL y
′= f (x, y ) haben am Punkt (x, y ) die Steigung f (x, y ). Man kann sich daher eine DGL veranschaulichen, indem man die Steigungen an einigen Punkten (x, y) durch kleine Strecken markiert.
Man erh¨ alt so ein Richtungsfeld.
Beispiele: Richtungsfelder (blau) und DGL-L¨ osungen (rot)
−2 −1.5 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5 2
−2
−1.5
−1
−0.5 0 0.5 1 1.5 2
Richtungsfeld zu y′ =1+y2 mit einigen Integralkurven y(x)=tan(x+c)
−2 −1.5 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5 2
−2
−1.5
−1
−0.5 0 0.5 1 1.5 2
Richtungsfeld zu y′ =x(y+y3) mit einigen Integralkurven y(x)=± (1+c ex2)1/2
y
′= 1 + y
2y
′= x ( y + y
3)
Terminologie:
Integrieren = L¨ osen einer Differentialgleichung Integralkurve= Graph einer L¨ osung einer DGL.
Bemerkung: integrare (lat.)= zu einem Ganzen zusammenf¨ugen.
Dahinter steckt folgende Vorstellung: DGL in anderer Schreibweise dy
dx = f(x, y), dy = f(x, y)dx (∗).
Man hat also eine Beziehung zwischen den Differentialen dy und dx.
Wenn man eine DGL l¨ost, dann setzt man eine Kurve y(x) aus
den Differentialen zusammen, wobei man die Beziehung (∗) beachtet.
Wenn f nicht von y abh¨angt, dann hat man eine DGL der Form y′ = f(x).
L¨osungen bekommt man durch finden einer Stammfunktion, also durch Integrieren im Sinne von Analysis I.
Isoklinen=Kurven gleicher Steigung im Richtungsfeld.
Dies sind die Kurven f ( x, y ) = c .
Beispiel:
Richtungsfelder (blau), Integralkurven (rot) und Isoklinen (gr¨ un)
−2 −1.5 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5 2
−2
−1.5
−1
−0.5 0 0.5 1 1.5 2
Richtungsfeld zu y′ =1+y2 mit einigen Integralkurven y(x)=tan(x+c)
−2 −1.5 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5 2
−2
−1.5
−1
−0.5 0 0.5 1 1.5 2
Richtungsfeld zu y′ =2y/x mit einigen Integralkurven y(x)=cx2
y
′= 1 + y
2y
′= 2 y/x
Anfangswertprobleme (AWP)
Wie die Beispiele zeigen, gibt es zu einer DGL y
′= f (x, y ) eine ganze Schar von L¨ osungen. Um eine ganz bestimmte L¨ osung zu fixieren muss man an einer Stelle x
0einen Wert y
0vorgeben.
Man spricht dann von einem Anfangswertproblem:
y
′= f ( x, y ) , y ( x
0) = y
0.
Beispiel: Die DGL y
′= 2 y/x hat die L¨ osungen y(x) = c x
2, c ∈ R beliebig.
Das Anfangswertproblem
y
′= 2 y/x, y(1) = 5.
hat die eindeutige L¨ osung
y(x) = 5 x
2(Anpassen des freien Parameters c an die Anfangsbedingung.)
Autonome Differentialgleichungen
Eine gew¨ ohnliche DGL heisst autonom, wenn die unabh¨ angige Variable nicht explizit in der Gleichung vorkommt.
Beispiele und Gegenbeispiele:
1. y
′= sin( y ), ausf¨ uhrlicher y
′( x ) = sin( y ( x )).
Die rechte Seite der DGL h¨ angt nur von der gesuchten Funktion y ab.
Die DGL ist autonom.
2. y
′= sin(y) + x
2, ausf¨ uhrlicher y
′(x) = sin(y(x)) + x
2.
Die unabh¨ angige Variable kommt explizit vor. ⇒ nicht autonom.
3. ¨ x = − ω
2x , ausf¨ uhrlicher ¨ x ( t ) = − ω
2x ( t ).
(DGL der unged¨ ampften freien Schwingung eines Federpendels)
In der Gleichung kommt die unabh¨ angige Variable t nicht explizit vor.
⇒ Die DGL ist autonom.
4. ¨ x = − ω
2x + f (t), f (t) nicht konstant.
(DGL der erzwungenen Schwingung mit Anregung f (t)).
Die DGL ist nicht autonom.
Eine besondere Eigenschaft autonomer DGL
F¨ ur autonome DGL y
′= f ( y ) gilt:
Wenn y(x) eine L¨ osung ist, dann ist f¨ ur jedes c ∈ R auch die Funktion y
c( x ) := y ( x + c )
eine L¨ osung. Dies gilt sinngem¨ aß auch f¨ ur DGL h¨ oherer Ordnung.
Beispiele:
1. y
′= 1 + y
2hat die L¨ osungen y
c( x ) = tan( x + c ) . 2. y
′= a y hat die L¨ osungen y
c( x ) = e
a(x+c)=
|{z}e
ce c
e
ax= c e
e ax.
3. x(t) = ¨ − ω
2x(t) hat die L¨ osungen x(t) = A cos(ω t), aber auch
x
φ(t) = A cos(ω t − φ).
Separable Differentialgleichungen
Noch einmal die Tabelle der bisher behandelten DGL 1. Ordnung:
DGL L¨ osungen
y
′= 1 + y
2y(x) = tan(x + c) y
′= p y/x y(x) = c x
py
′= a ( x ) y y ( x ) = c e
A(x), A
′( x ) = a ( x )
Alle diese DGL sind vom Typ y
′= f ( x, y ). Sie sind aber auch von einem spezielleren Typ n¨ amlich
y
′= f (x) g(y).
Solche DGL heissen
DGL mit getrennten Variablen oder separable DGL.
Ubersicht: ¨ Explizite DGL 1. Ordnung und Spezialf¨ alle y ′ = f (x, y) (explizite DGL 1. Odnung)
?
Spezialfall
y ′ = f (x)g (y) (separable DGL)
g ≡ 1 f ≡ 1
@@
@@
@@
@@
@@
@@R
y ′ = f (x) y ′ = g (y)
(autonome DGL 1. Ordnung)
(y ist Stammfkt. von f )
Das Anfangswertproblem
y
′(x) = f (x), y(x
0) = y
0( ∗ )
kann durch Integrieren im Sinne von Analysis I gel¨ ost werden.
Genauer:
1. Finde eine Stammfunktion F von f . 2. Setze y ( x ) = ( y
0− F ( x
0)) + F ( x ).
Man kann die L¨ osung von ( ∗ ) formal auch in der Form
y(x) = y
0+
Z x
x0
f (ξ) dξ
hinschreiben (wodurch allerdings so gut wie keine Information gewonnen
wird). Erl¨ auterungen dazu auf den n¨ achsten Seiten.
Einschub: Stammfunktionen und Integrale
Sei I ⊆ R ein (endliches oder unendliches) Intervall, und sei f : I → R eine stetige Funktion.
Definition: Jede differenzierbare Funktion F : I → R mit der Eigenschaft, dass F
′(x) = f (x) f¨ ur alle x ∈ I , heisst Stammfunktion von f .
Hauptsatz der Differential-und Integralrechnung:
(1) Zwei Stammfunktionen von f unterscheiden sich nur um eine Konstante.
(2) Zu jedem x
0∈ I gibt es eine Stammfunktion F von f mit der Eigenschaft F (x
0) = 0, n¨ amlich
F (x) :=
Z x
x0
f (ξ ) dξ, x ∈ I .
Erl¨ auterung zum Hauptsatz:
Die Kernaussage des Hauptsatzes kann man in Worten so ausdr¨ ucken:
Sei f : I → R eine stetige Funktion und x
0∈ I .
Dann ist die Funktion F , welche jedem x ∈ I den (vorzeichenbehafteten) Fl¨ acheninhalt der Fl¨ ache zwischen dem Graphen von f und dem
Intervall [ x
0, x ] zuordnet, eine Stammfunktion von f .
x x
F(x)
0
f
Dieselbe Aussage noch einmal in Formeln:
f : I → R stetig , F ( x ) =
Z x
x0
f ( ξ ) dξ ⇒ F
′( x ) = f ( x ) .
Zum Beweis des Hauptsatzes:
(1) Seien F1, F2 Stammfunktionen von f. Dann gilt f¨ur die Differenz:
(F1 − F2)′(x) = F1′(x)− F2′(x) = f(x) − f(x) = 0 x ∈ I
⇒ (F1 − F2)(x) = konstant = c.
(2) Sei F(x) = Rx
x0f(ξ) dξ. Dann gilt f¨ur den Differenzenquotienten, F(x + h) − F(x)
h =1
h
Z x+h x0
f(ξ) dξ − Z x
x0
f(ξ) dξ
= 1 h
Z x+h x
f(ξ) dξ.
Man hat f¨ur h > 0:
ξ∈min[x,x+h]f(ξ) ≤ 1 h
Z x+h x
f(ξ) dx ≤ max
ξ∈[x,x+h]f(ξ)
↓ h → 0 ↓ h → 0
f(x) f(x)
Der Fall h < 0 ist analog.
f
x x+h
x0
Folgerung aus dem Hauptsatz:
Berechnung von bestimmten Integralen (Fl¨ acheninhalten) mittels Stammfunktionen.
Sei F ˜ : [ a, b ] → R irgendeine Stammfunktion der stetigen Funktion f : [ a, b ] → R . Dann ist
Z b
a
f ( x ) dx = ˜ F ( b ) − F ˜ ( a ) .
Beweis: Nach dem Hauptsatz ist F ˜ von der Form F ˜ (x) =
Z x
a
f (ξ) dξ + c mit irgendeiner Konstanten c ∈ R . Es folgt:
F ˜ (b) − F ˜ (a) =
Z b
a
f (ξ) dξ + c
!
− (0 + c) =
Z b
a
f (ξ) dξ.
Anfangswertprobleme mit getrennten Variablen (separable AWP) Anfangswertprobleme mit getrennten Variablen sind von der Form
y′ = f(x)g(y) y(x0) = y0, (∗) wobei f : I1 → R, g : I2 → R stetig, x0 ∈ I1, y0 ∈ I2 vorgegeben.
Satz ¨uber AWP mit getrennten Variablen:
(1) Wenn g(y0) = 0, dann ist die konstante Funktion y(x) ≡ y0, x ∈ I1
eine L¨osung des AWP (∗).
Achtung: es kann weitere L¨osungen geben.
Siehe das Beispiel y′ = 2p
|y| am Ende dieser Vorlesung.
(2) Sei g(y0) 6= 0. Dann gibt es ein Intervall J um y0, so dass g(y) 6= 0 f¨ur alle y ∈ J. Sei G eine Stammfunktion von 1/g : J → R und
sei F eine Stammfunktion von f.
Dann gibt es ein (maximales) Intervall I um x0, so dass die Gleichung G(y) − G(y0) = F(x) − F(x0).
f¨ur jedes x ∈ I eine eindeutige L¨osung y = y(x) ∈ R hat.
Die Funktion y : I → R ist die eindeutige L¨osung des AWP (∗).
Zum Beweis des Satzes ¨uber separable AWP Behauptung (1) ist klar.
Beweisidee zu (2): Angenommen y : I → R l¨ost das AWP
y′(x) = f(x) g(y(x)), y(x0) = y0.
Wenn g(y(x)) 6= 0, dann ist Division durch g(y(x)) m¨oglich:
y′(x)
g(y(x)) = f(x), y(x0) = y0. Ersetze hierin x durch ξ (aus Notationsgr¨unden) und integriere:
Z x
x0
y′(ξ)
g(y(ξ)) dξ = Z x
x0
f(ξ)dξ, y(x0) = y0.
Anwenden der Substitutionregel mit u = y(ξ), du = y′(ξ)dξ, ergibt:
Z y(x) y(x0)
1
g(u) du = Z x
x0
f(ξ)dξ, y(x0) = y0.
Also ist
G(y(x)) − G(y0) = F(x)− F(x0),
wobei G Stammfunktion von 1/g, und F Stammfunktion von f ist.
Beispiel 1 zu separablen AWP
Aufgabe: L¨ose das AWP y′ = cos(x)(1 +y2), y(7) = 4 (∗) L¨osung:
Eine Stammfunktion von cos(x) ist F(x) = sin(x).
Eine Stammfunktion von 1/(1 + y2) ist G(y) = arctan(y).
Die L¨osung y(x) des AWP (∗) erf¨ullt
G(y) − G(4) = F(x) − F(7), also
arctan(y) − arctan(4) = sin(x) − sin(7)
⇒
arctan(y) = sin(x) − sin(7) + arctan(4).
⇒ ( Tangens anwenden)
y = tan(sin(x) − sin(7) + arctan(4))
Beispiel 2: Eine alte Klausuraufgabe
Aufgabe: L¨ose das AWP (1 + x)y′ + y2 − 7 = 0, y(0) = 2√ 7
L¨osung: Gleichung umformen, y′ isolieren:
y′ = 1
1 + x (7 − y2).
Eine Stammfunktion von 1/(1 + x) ist F(x) = R
1/(1 + x)dx = ln|1 + x| Berechnung von G(y) = R
1/(7 − y2)dy mit Partialbruchzerlegung:
1
7 − y2 = 1 (√
7 + y)(√
7 − y) = A
√7 + y + B
√7 − y = 1 2√
7
1
√7 + y + 1
√7 − y
⇒
G(y) = 1 2√
7
ln|√
7 + y| −ln|√
7 − y|
= 1 2√
7ln
√7 +y
√7 − y Die L¨osung des AWP erf¨ullt G(y) − G(2√
7)=F(x) − F(0), also
1 2√
7 ln
√7 + y
√7 − y −
1 2√
7 ln
√7 + 2√
√ 7
7 − 2√ 7
| {z }
=3
=ln|1 +x| −ln| |1 + 0{z }|
=0
Hieraus folgt:
ln
√7 + y
√7 − y
= 2
√7 ln|1 + x| + ln 3 = ln ( 3|1 +x|2√7) Aufl¨osen nach y f¨ur |x| < 1, |y| < √
7 ergibt:
y = √
7 3(1 + x)2√7 + 1 3(1 + x)2√7 − 1.
Wichtiger Spezialfall: Bei autonomen DGL, d.h. solchen vom Typ y′ = g(y)
(keine Abh¨angigkeit von x) handelt es sich um eine separable DGL y′ = f(x)g(y),
wobei f(x) ≡ 1. Eine Stammfunktion von f ist nat¨urlich F(x) = x.
Beispiel: L¨ose das AWP y′ = 1 + y2, y(7) = 4 (∗) L¨osung:
Wegen y′ = 1· (1 +y2) handelt es sich um eine separable DGL, wobei f(x) ≡ 1.
Eine Stammfunktion von f ist F(x) = x.
Eine Stammfunktion von 1/(1 + y2) ist G(y) = arctan(y).
Die L¨osung von (∗) erf¨ullt
G(y) − G(4) = F(x) − F(7), Also:
arctan(y) − arctan(4) = x − 7 Auf¨osen nach y ergibt
y = tan(x − 7 + arctan(4)).
Hinweis: Die DGL in den Hausaufgaben sind von obigem Typ.
Direkter Rechenweg f¨ur separable AWP
DGL: y′ = f(x)g(y) lautet in anderer Schreibweise:
dy
dx = f(x)g(y).
’Multiplizieren’ mit dx ergibt
dy = f(x)g(y)dx
⇒ (Variablen trennen)
dy
g(y) = f(x)dx
⇒ (integrieren)
Z dy g(y) =
Z
f(x)dx + c
Nun muss man die Integrale (Stammfunktionen) bestimmen, nach y aufl¨osen, und die Integrationskonstante c an die Anfangsbedingung anpassen.
Beispiel zum direkten Rechenweg
Aufgabe: L¨ose das AWP y′ = ey sin(x), y(2) = 5 (∗) L¨osung:
dy
dx = ey sin(x) ⇒ dy
ey = sin(x)dx ⇒
Z dy ey =
Z
sin(x)dx + c.
Stammfunktionen berechnen:
⇒ −e−y = −cos(x) + c (∗∗) Nach y aufl¨osen:
−e−y = −cos(x) +c ⇒ e−y = cos(x) − c ⇒ −y = ln(cos(x) − c) ⇒ y = −ln(cos(x) − c)
Konstante c berechnen (d.h. Anfangsbedingung in (∗∗) einsetzen):
−e−5 = −cos(2) + c ⇒ c = cos(2) − e−5.
−4 −3 −2 −1 0 1 2 3 4
−2
−1 0 1 2 3 4
Einige Integralkurven zur DGL y′ = ey sin(x):
In der Literatur findet man zahlreiche Tricks um eine DGL von einem gegebenen Typ in eine DGL von einem anderen Typ umzuwandeln, f¨ur den man ein L¨osungsverfahren kennt. Hier ein Beispiel.
Beispiel f¨ur eine Substitution: Die ¨Ahnlichkeitsdifferentialgleichung Die ¨Ahnlichkeitsdifferentialgleichung lautet
y′ = f y x
(∗).
Sie l¨asst sich mit Hilfe der Substitution u = y/x auf eine separable DGL zur¨uckf¨uhren. N¨amlich so:
u = y
⇒ x
u′ = y′x − y · 1
x2 = y′
x − u
⇒ x
xu′ = y′ − u = f(u) − u
⇒
u′ = 1
x(f(u) − u) (∗∗)
Um (∗) zu l¨osen, l¨ost man erst die separable DGL (∗∗) und setzt dann y = xu.
Existenz und Eindeutigkeit der L¨ osung eines AWP Gegeben sei ein AWP
y
′= f ( x, y ) , y ( x
0) = y
0.
Fragen: 1. Gibt es eine L¨ osung ?
2. Ist die L¨ osung eindeutig ?
In den meisten praktischen F¨ allen ist die Antwort auf beide Fragen positiv. Genauere Auskunft geben die
Existenz- und Eindeutigkeitss¨ atze
Existenzsatz von Peano
Gegeben sei ein offenes Gebiet G ⊆ R
2und eine stetige Funktion f : G → R . Sei ausserdem (x
0, y
0) ∈ G.
Dann existiert zu dem AWP
y
′= f (x, y), y(x
0) = y
0mindestens eine Integralkurve, die nicht innerhalb von G endet.
G
x y0
0
Giuseppe Peano 1858-1932
Wichtig: Selbst bei einem unendlich augedehnten Gebiet hat die L¨osung eines AWP m¨oglicherweise nur ein endliches Existenzintervall. Beispiel: y′ = 1 + y2, y(0) = 0.
Die L¨osung, y(x) = tan(x), existiert nur im Intervall −π/2 < x < π/2.
Gegenbeispiel zur Eindeutigkeit der L¨ osung eines AWP Das (autonome und somit auch separable) AWP
y
′= 2
q| y | , y (0) = 0
besitzt offensichtlich die Nullfunktion y ( x ) ≡ 0 als L¨ osung.
Es gibt aber unendlich viele weitere L¨ osungen,
n¨ amlich die durch Fallunterscheidung definierten Funktionen y
a( x ) =
0 f¨ ur x < a
(x − a)
2f¨ ur x ≥ a. , a ≥ 0 .
−1 −0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
−1
−0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
L¨osungen des AWP (rot):
Der Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard-Lindel¨ of Gegeben sei ein offenes Gebiet G ⊆ R
2und eine stetige
Funktion f : G → R , die folgende Bedingung erf¨ ullt:
Zu jedem (˜ x, y) ˜ ∈ G gibt es eine Umgebung U ⊂ G und eine Konstante L > 0, so dass f¨ ur alle x, y
1, y
2∈ U gilt
| f (x, y
1) − f (x, y
2) | ≤ L | y
1− y
2| . (Lipschitz − Bedingung).
Dann gibt es zum AWP
y
′= f (x, y ), y(x
0) = y
0, (x
0, y
0) ∈ G
genau eine (maximale) Integralkurve. Sie endet nicht innerhalb von G.
Bemerkungen:
1. Die Lipschitzbedingung ist erf¨ullt, wenn f stetig partiell nach y differenzierbar ist.
Eine lokale Lipschitzkonstante ist dann L = max(x,y)∈U |(∂f /∂y)(x, y)|.
2. Der Satz gilt auch f¨ur Systeme von DGL. Man muss nur statt des Betrags | · | die euklidische Norm nehmen.
E. Picard (1856-1941) E. Lindel¨of (1870-1946)
Auf den folgenden Seiten finden sich Erl¨ auterungen zum Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard-Lindel¨ of.
Der volle Beweis des Satzes ist zu kompliziert, um ihn hier zu bringen.
Er ist Standard-Stoff in den Lehrb¨ uchern ¨ uber DGL und in den DGL-Vorlesungen f¨ ur Mathematiker.
Ingenieure m¨ ussen sich (nur) folgendes merken:
Wenn
die rechte Seite f der DGL y
′= f (x, y) stetig und stetig partiell nach y differenzierbar ist,
dann
existiert auf jedem hinreichend kleinen Teilgebiet U
des Definitonsbereichs G von f eine Lipschitz-Konstante L , so dass
| f (x, y
1) − f (x, y
2) | ≤ L | y
1− y
2| und dann
haben die zugeh¨ origen AWPs alle eine eindeutige L¨ osung.
Dies gilt auch, f¨ur Systeme von DGL, d.h. wenn f und y Vektoren sind. In diesem Fall muss man den Betrag in der Lipschitz-Bedingung als euklidische L¨ange eines Vektors interpretieren.
Als Ableitungen sind dann die partiellen Ableitungen nach allen y-Komponenten zu nehmen.
Zur Frage: Was besagt die Lipschitz-Ungleichung anschaulich?
Die Lipschitz-Ungleichung
|f(x, y1) − f(x, y2)| ≤ L|y1 − y2|
sagt etwas dar¨uber aus, wie stark sich die Steigungen im Richtungsfeld ¨andern, wenn man sich in y-Richtung bewegt:
Die Differenz der Steigungen ist bei fesgehaltenem x nicht gr¨oßer als das L-fache der Differenz der y-Werte.
x y
y
2
y
1
Differenz der y−Werte Steigung
Steigung
2
f(x,y )1
f(x,y )
Zur Frage: Wieso folgt die Existenz einer Lipschitz-Konstante L aus der stetigen partiellen Differenzierbarkeit der rechten Seite?
Angenommen, die Menge U ⊂ R2 enth¨alt die Punkte (x, y) mit y ∈ [y1, y2].
(Verbindungsstrecke von (x, y1) und (x, y2)). Dies ist z.B. der Fall, wenn U ein Rechteck wie im Bild ist.
U
x y
y
2
y
1
Verbindungsstrecke
Dann hat man die Absch¨atzung
|f(x, y1) − f(x, y2)| =
Z y2
y1
∂f
∂y(x, y)dy
≤ |y2 − y1| y∈max[y1,y2]|
∂f
∂y(x, y)|
≤ |y2 − y1| max
(x,y)∈U |∂f
∂y(x, y)|
| {z }
=:L
Das Maximum, durch welches L definiert ist, existiert, wenn die partielle Ableitung stetig ist, und die Menge U beschr¨ankt und abgeschlossen ist.
(abgeschlossen bedeutet: alle Randpunkte geh¨oren zur Menge).
Zur Frage: ’Wieso folgt die Eindeutigkeit der L¨osung aus der Lipschitz-Bedingung ?’
Sei y(x) eine L¨osung des AWP y′(x) = f(x, y(x)), y(x0) = y0. Schreibt man die DGL mit ξ statt x als Variable, dann hat man y′(ξ) = f(ξ, y(ξ)). Integrieren von x0 bis x ergibt y(x) − y(x0) = Rx
x0f(ξ, y(ξ))dξ. Umstellen ergibt wegen y(x0) = x0 die Integralgleichung
y(x) = y0 + Z x
x0
f(ξ, y(ξ))dξ. (∗)
Angenommen, ye ist eine weitere L¨osung desselben AWP. Dann gilt also ebenfalls e
y(x) = y0 + Z x
x0
f(ξ,y(ξ))e dξ (∗∗)
Zieht man die Gleichungen (∗) und (∗∗) voneinander ab, dann bekommt man f¨ur x ∈ [x0, x1] wegen der Lipschitzbedingung die obere Absch¨atzung
|y(x) − ye(x)| =
Z x x0
f(ξ, y(ξ)) − f(ξ,ye(ξ)) ≤
Z x x0
|f(ξ, y(ξ)) − f(ξ,ye(ξ))|dξ
≤
Z x x0
L|y(ξ)− ye(ξ)|dξ
≤
Z x1
x0
L|y(ξ) − y(ξ)e |dξ
≤ L(x1 − x0) max
ξ∈[x0,x1]|y(ξ) − ye(ξ)|
| {z }
=:M
Die impliziert M ≤ L(x1 − x0)M.
Wenn nun x1 so nah an x0 ist, dass L(x1 − x0) < 1, dann folgt M = 0.
Also y(x) = ye(x) f¨ur x ∈ [x0, x1].
Zur Frage:
’Wieso folgt aus der Lipschitz-Bedingung die Existenz einer L¨osung des AWP ?’
Diese Frage l¨asst sich nur mit ’h¨oherer Mathematik’ beantworten (Stichwort: Banachscher Fixpunktsatz).
Grundlage des Beweises ist folgende Idee: Das AWP
y′(x) = f(x, y(x)), y(x0) = y0
hat dieselbe(n) L¨osung(en) wie die Integralgleichung y(x) = y0 +
Z x
x0
f(ξ, y(ξ))dξ
Man definiert nun rekursiv eine Folge von Funktionen y0(x), y1(x), y2(x) . . . durch die Vorschrift
y0(x) := y0, yk+1(x) := y0 + Z x
x0
f(ξ, yk(ξ))dξ k = 1,2,3. . .
Dann zeigt man, dass diese Funktionenfolge gegen eine Grenzfunktion y(x) konvergiert, falls f die Lipschitz-Bedingung erf¨ullt. Die Grenzfunktion ist L¨osung des AWP.
Dieses Verfahren, die L¨osung anzun¨ahern, heisst
Picardsches Iterationverfahren.
Es wird in der VL an Beispielen demonstriert. Leider ist es zu rechenaufwendig, um praktisch brauchbar zu sein. Es gibt wesentlich bessere numerische Verfahren, um eine DGL n¨aherungsweise (vom praktische Standpunkt aus sogar exakt) zu l¨osen.
Siehe Numerik-VL.
Literaturhinweise:
1. Das Ferus-Skript auf der Isis-Seite und die Literaturhinweise darin.
2. Eine leicht verst¨andliche Einf¨uhrung mit vielen Anwendungsbeispielen ist Harro Heuser: Differentialgleichungen
3. Sehr anschaulich ist auch
J¨anich: Analysis f¨ur Physiker und Ingenieure
4. Zum Rechnen¨uben:
Frank Ayres: Differentialgleichungen (aus der Schaum-Reihe) Peter Furlan: Das Gelbe Rechenbuch 3
5. H¨oheres Niveau:
z.B. B¨ucher von Wolfgang Walter und Lothar Collatz 6. Zum Nachschlagen und Wiederholen:
Taschenb¨ucher der Mathematik (Bronstein etc.), Timmann: Repititorium Der Gew¨ohnlichen DGL