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Archiv "Neues vom irritablen Colon" (31.05.1996)

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(1)

M E D I Z I N KURZBERICHT

E

iner neueren Definition zu- folge ist das irritable Co- lon (IBS) „eine funktionelle Darmerkrankung, bei der Bauchschmerzen mit der Defäkation oder einer Änderung des Stuhlver- haltens und mit gestörter Defäkati- on und Aufgetriebensein assoziiert sind“, wobei unter „funktionell“,

„nicht durch strukturelle oder bio- chemische Veränderungen erklärt“

zu verstehen ist (9). Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert ist es sehr ungewöhnlich, eine Krankheit an- hand von Symptomen zu definieren anstatt aufgrund von Ursache, Pa- thophysiologie, Histologie oder ähn- lichem. Die Definition suggeriert, daß eine einzige Krankheitsentität die genannten Symptome verur- sacht. Dies ist eindeutig nicht der Fall. Weiterhin ist die Art, in der

„funktionell“ definiert wird, un- glücklich. Betrachten wir zum Bei- spiel die chronische Obstipation, die fast immer von abdominellen Be- schwerden begleitet ist (4) und da- her die obige Definition des IBS er- füllt. In mehreren Studien wurden bei Patienten mit langsamem Tran- sit, die sich einer Colonresektion un- terzogen, morphologische Verände- rungen des enterischen Nervensy- stems nachgewiesen (3). Dies war vor 10 oder 20 Jahren unbekannt. Ei- ne bis dato funktionelle Erkrankung wurde somit zur organischen Er- krankung. (Eine recht „unschöne Entwicklung“, die auch anderen funktionellen Erkrankungen zu- stoßen kann: Wäre eines Tages nur die Diagnostik perfekt, gäbe es kei- ne funktionellen Erkrankungen mehr.) Und bezüglich eines indivi- duellen Patienten: Müssen wir eine transmurale Colonbiopsie durch- führen, um entscheiden zu können, ob es sich um eine organische oder funktionelle Erkrankung handelt?

Offensichtlich ist eine klare Trennung von organisch und funk- tionell sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, insbesondere wenn

„funktionell“ – wie man eigentlich

vermuten sollte – etwas mit Funkti- on zu tun hat. Was wollen wir eigent- lich mit einer solchen Unterschei- dung erreichen? Am ehesten doch eine prognostische Klassifizierung.

Wir sprechen von einer organischen

Erkrankung, wenn sie sich mögli- cherweise so verschlimmert, daß ei- ne schlechte Prognose resultiert (je- denfalls ohne Behandlung). Daher sollte man die korrekte Diagnose nicht verpassen. Dagegen kann bei einer funktionellen Erkrankung die wahre Ursache der Beschwerden un-

klar bleiben, ohne daß dies den Pati- enten gefährdet.

Geeignete diagnostische Tests mögen auch bei „funktionellen“

Störungen eine Ursache erkennen lassen (Textkasten). Selbst wenn man aber bei allen Patienten nach allen aufgelisteten Störungen suchen wür- de, bliebe die Mehrzahl ohne Dia- gnose. Das liegt einerseits daran, daß einige Störungen noch nicht identifiziert sein dürften, zum Bei- spiel Motilitätsstörungen des Dünn- darms.

Ein wahrscheinlich wichtigerer Grund ist aber, daß eine eher gering- fügige Störung, die auch bei Nicht- Patienten häufig ist, erst dann Grund zum Arztbesuch wird, wenn sie durch zusätzliche Faktoren aggra- viert wird. Der Sachverhalt läßt sich folgendermaßen illustrieren (Gra- fik 1).

Eine potentielle Patientin (IBS ist bei Frauen häufiger) ist durch eine Mauer von einem Arzt ge- trennt. Sie hat weder Grund noch Verlangen noch Gelegenheit, Kon- takt mit ihm aufzunehmen. Sie ist von Kisten umgeben, die verschiede- ne Krankheiten enthalten (repräsen- tieren). Dies können irgendwelche Krankheiten sein, in unserem Bei- spiel sind es die oben als funktionel- le Erkrankungen des unteren Gastrointestinaltrakts definierten.

Einige Kisten haben keine Auf- schrift, da ihr Inhalt bisher leider un- bekannt ist. Eine Krankheit zu be- kommen heißt, auf die entsprechen- de Kiste zu steigen (Grafik 2).

Es gibt verschiedene Möglich- keiten, wie die Patientin mit dem Arzt im Kontakt treten kann. Eine Möglichkeit ist die, daß die Krank- heit schwer genug, die Kiste also hoch genug ist, um die Patientin über die Mauer schauen zu lassen.

Dann wird sie sehen, daß ärztliche Hilfe greifbar ist, und zum Arzt ge- hen. Man weiß nicht, wie oft eine einzelne funktionelle Störung allein so ausgeprägt ist. Dies trifft sicher auf einige Patienten mit langsamem A-1469 Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 22, 31. Mai 1996 (51)

Neues vom

irritablen Colon

Stefan Müller-Lissner

Mögliche Ursachen von Symp- tomen, die vom unteren Gastro- intestinaltrakt ausgehen (Status, Laboruntersuchungen zum Aus- schluß neoplastischer, infektiö- ser und entzündlicher Erkran- kungen, abdominelle Sonogra- phie und Koloskopie o. B.) l Malabsorption von Laktose,

Fruktose, Sorbit l andere Nahrungsmittel-

intoleranzen

l ballaststoffreiche Diät l ballaststoffarme Diät l Medikamente

(zum Beispiel versteckte Laxantien, Antihypertensiva, Analgetika, Antidepressiva) l „clustered contractions“

des Dünndarms (Manometriebefund) l langsamer Colontransit l Rektozele

l Innerer Rektumprolaps l Anismus

l idiopathische

Gallensalzmalabsorption l kollagene Colitis

Abteilung für Innere Medizin (Chefarzt: Prof.

Dr. med. Stefan Müller-Lissner) des Kranken- hauses Weißensee, Berlin

(2)

A-1470

M E D I Z I N KURZBERICHT

(52) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 22, 31. Mai 1996 Ballaststoffreiche

Kost Laktose- malabsorption

Langsamer Colontransit Gallensalz-

?

Innerer Prolaps Patientin

Arzt

Medikamenten-

Nebenwirkung Ballaststoff- arme Kost Grafik 1

Ballaststoffreiche Kost

Laktose-

malabsorption Innerer Prolaps

langsamer Colontransit

Gallensalz-

?

Patientin

Arzt

Medikamenten-

Nebenwirkung Ballaststoff- arme Kost Grafik 2

Ballaststoffreiche Kost

Laktose-

malabsorption Innerer Prolaps

Langsamer Colontransit Gallensalz-

?

?

Patientin

Arzt

Ballaststoff- arme Kost

Medikamenten- Nebenwirkung Grafik 3

Ballaststoffreiche Kost

Innerer Prolaps Langsamer

Colontransit Gallensalz-

Angst

Patientin Arzt

Laktose- malabsorption

Medikamenten-

NebenwirkungKrankheitsverhalten

Grafik 4

Ballaststoffreiche Kost

Niedrige Schwelle

Langsamer Colontransit

Gallensalz- Innerer Prolaps

Patientin Arzt

Laktose- ?

malabsorption Medikamenten-

Nebenwirkung Ballaststoff- arme Kost Grafik 5

Ballaststoffreiche Kost Laktose- malabsorption

Niedrige Schwelle

Langsamer Colontransit Gallensalz-

Krankheitsverhalten

Innerer Prolaps

Patientin Arzt

? Ballaststoff- arme Kost Medikamenten-

Nebenwirkung Angst

Grafik 6

(3)

Colontransit zu, die trotz ballast- stoffreicher Kost harte Stühle ha- ben, die sich schwer entleeren las- sen (7).

Auf die Laktoseintoleranz trifft es wahrscheinlich meist nicht zu, da die meisten Patienten Laktulose ver- tragen. (Laktulose simuliert die Lak- toseintoleranz, da in beiden Fällen ein Disaccharid ins Colon gelangt und dort bakteriell in kurzkettige Fettsäuren und Gas metabolisiert wird.) Auch klagen Patienten mit IBS-Symptomen, die auf eine Lakto- seintoleranz zurückgeführt wurden, nach Laktulose über mehr Be- schwerden als Kontrollen (6) (Gra- fik 3).

Unsere Patientin muß daher wahrscheinlich auf mehr als eine Ki- ste steigen, um über die Mauer schauen zu können. Dies kann zum Beispiel eine Laktoseintoleranz bei einem Vegetarier sein, der durch die ballaststoffreiche Kost ohnehin ei- nen weichen Stuhl hat und seinen Proteinbedarf über eine hohe Zu- fuhr von Milchprodukten deckt, die viel Laktose enthalten. Es kann auch auf eine Patientin mit funktioneller anorektaler Obstruktion zutreffen, die wenig Ballaststoffe ißt. Innerer Rektumprolaps und Rektozele wer- den nur dann wirksam, wenn die Patientin zum Stuhlgang pressen muß (5).

Im Gegensatz zu Patienten mit langsamem Transit profitiert die Mehrheit dieser Patienten von einer ballaststoffreichen Diät (10). Ein an- deres Beispiel mag ein Patient mit ballaststoffarmer Kost sein, der mit einem potentiell obstipierenden Me- dikament behandelt wird. Eine Störung kann auch die Folge einer anderen sein, wenn diese lange be- steht. Eine Rektozele kann zum Bei- spiel Folge langjährigen Pressens bei langsamem Transit sein.

Es gibt eine lange Diskussion um Persönlichkeitsmerkmale von Patienten mit funktionellen Darm- symptomen. Eindeutig psychiatri- sche Erkrankungen sind selten die Ursache der Symptome. Das „psy- chopathologische Profil“ der Patien- ten mit IBS unterscheidet sich nicht von dem von Patienten mit „organi- schen“ gastrointestinalen Erkran- kungen (8). Ein Merkmal allerdings

hat sich bei „funktionellen“ Patien- ten häufiger gefunden, nämlich das sogenannte erlernte Krankheitsver- halten (12). Dieser Begriff be- schreibt die Tatsache, daß ein Teil der Patienten mit IBS geneigt ist, schon bei geringfügigen Beschwer- den einen Arzt zu konsultieren, zum Beispiel bei Erkältungen. Man nimmt an, daß dieses Verhalten da- durch anerzogen wurde, daß dem Patienten, wenn er als Kind krank war, besondere Aufmerksamkeit ge- schenkt wurde (Grafik 4).

Da unsere Patientin aus Erfah- rung weiß, daß sich Ärzte hinter Mauern verbergen, könnte sie sich also angewöhnt haben, eine Leiter zu benutzen, so daß sie den Arzt schon bei leichteren Beschwerden kontaktieren kann. (Erlerntes Krankheitsverhalten kann natürlich auch bei Patienten mit organischen Erkrankungen vorkommen und eventuell positive Effekte haben, zum Beispiel zur Frühdiagnose eines Malignoms führen). Auch andere Faktoren mögen als Leiter taugen, zum Beispiel die Angst, daß hinter den Symptomen eine ernste Erkran- kung steckt.

Es ist nicht ungewöhnlich, daß Patienten mit einer negativen „orga- nischen“ Diagnostik zufrieden sind, obwohl die Symptome weiterhin vorhanden sind. Auch eine „kosme- tische Leiter“ ist denkbar: So fand sich bei Patientinnen mit IBS eine meßbare Zunahme des Bauchum- fangs über den Tagesverlauf (6). Da eine solche Umfangszunahme zu- mindest von jungen Frauen als un- vorteilhaft empfunden wird, kann sie schon bei leichteren Obstipati- onsbeschwerden Anlaß zum Arztbe- such sein (Grafik 5).

In mehreren Studien ließ sich zeigen, daß die Schwelle für Wahr- nehmung und Schmerz bei Dehnung von Sigma oder Rektum bei einigen Patienten mit IBS erniedrigt ist (11).

Diese Überempfindlichkeit könnte der Grund sein, warum IBS-Patien- ten mit Laktosemalabsorption mehr Beschwerden angeben als Nicht-Pa- tienten mit Laktosemalabsorption (2). Nach einer Hypothese führt eine Entzündung der Darmschleimhaut zur Hypersensitivität (1). Dies könn- te erklären, warum dem Auftreten

des IBS in manchen Fällen eine Darminfektion voranging, zum Bei- spiel in Form einer Reisediarrhoe.

Ich bezweifle, daß viele Patien- ten ihre Symptome ausschließlich deshalb haben, weil ihre Schmerz- schwelle so niedrig ist, daß schon phy- siologische Dehnungsreize schmerz- haft sind. Immerhin könnte die Kom- bination aus einer Leiter wie erlern- tem Krankheitsverhalten und einer niedrigen Schwelle ansonsten Gesun- de zu Patienten machen (Grafik 6).

Obwohl es also keine Krank- heitsentität „irritables Colon“ gibt, kann man den Begriff gebrauchen, um nach Ausschluß einer organi- schen Erkrankung bei unklaren Symptomen, die man dem unteren Gastrointestinaltrakt zuschreibt, dem Patienten eine Diagnose zu ver- schaffen.

Auch wäre es nicht angemessen, bei geringfügigen Beschwerden eine aufwendige Diagnostik durchzu- führen, und dem Patienten ist mit der „Diagnose“ irritables Colon mehr gedient. Bei der Einschätzung solcher Patienten verdienen Psyche und sozialer Hintergrund ähnlich viel Aufmerksamkeit wie möglicher- weise meßbare Veränderungen der Darmfunktion.

Die Behandlung kann sich ge- gen den Inhalt der Kisten richten, die Wahrnehmungsschwelle beein- flussen (zum Beispiel durch Medika- mente, die sich noch in der Entwick- lung befinden) oder kann den Pati- enten (zum Beispiel durch Auf- klärung) davon abhalten, eine Leiter zu benutzten und die Symptome überzubewerten.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1996; 93: A-1469–1471 [Heft 22]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Stefan Müller-Lissner Abteilung für Innere Medizin Krankenhaus Weißensee Schönstr. 87

13086 Berlin

A-1471

M E D I Z I N KURZBERICHT

Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 22, 31. Mai 1996 (53)

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