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Archiv "Benin: Tropenmedizin aus erster Hand" (24.10.2003)

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A2772 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4324. Oktober 2003

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ange hat Jacob überlegt, ob er wirk- lich ein Drittel seines Monatsein- kommens in die Hernienoperation investieren sollte. Bisher hatte er keine Schmerzen. Er ist nur zum Krankenhaus gegangen, um abzuklären, was die Ursa- che des wachsenden Wulstes in der Lei- stenregion war. Schnell steht seine Dia- gnose fest: eine Leistenhernie. Der Arzt rät zur Operation, damit keine Darman- teile eingeklemmt und funktionsunfähig werden. Jacob ist schließlich mit dem Eingriff einverstanden, obwohl er das Geld eigentlich für seine zehnköpfige Familie benötigt hätte. Er hätte davon zum Beispiel das Schulgeld für eines sei- ner Kinder bezahlen können.

Jacob lebt in Comis, einem kleinen Dorf im Norden Benins. Er besitzt ein Stückchen Land, wo er Obst und Gemüse anpflanzt und auf dem seine drei Hühner ihren Auslauf haben. Fällt die Ernte üppig aus, verkaufen seine zwei Frauen die Erträge auf dem Markt in Parakou, der nächstgelegenen größe- ren Stadt. Solange kein Familienmit- glied krank ist und jeder durch Gele-

genheitsarbeiten Geld verdienen kann, geht es der Familie verhältnismäßig gut.

Aber wenn Unwetter hereinbrechen und seine kleine Holzhütte demolieren, oder wenn andere unerwartete Kosten anfallen, dann ist das Überleben hier in Westafrika sehr mühsam.

Manchmal ergreift Jacob eine große Angst davor, wirklich krank zu werden, sodass die Familie nicht nur unter feh- lenden Einnahmen, sondern auch unter zusätzlichen Ausgaben zu leiden hätte.

Dieses Damoklesschwert hatte ihn auch zu der Entscheidung getrieben, die Hernie behandeln zu lassen, obwohl sie ihn noch nicht wirklich störte. Aber wenn die Operation gut verliefe, würde er schon in vier Tagen wieder seiner Ar- beit nachgehen können. Glücklicher- weise war die Ernte bereits eingeholt, sodass eine Frau als Krankenwächterin während des stationären Aufenthalts bei ihm sein, Essen kochen und Wasser vom Brunnen holen kann.

Schweren Herzens kratzt Jacob also das Geld für die Operation zusammen und kommt schon am frühen Morgen zum Krankenhaus nach Boko, um den Eingriff hinter sich zu bringen. Die Schwestern waschen und rasieren ihn, sagen, dass dies unbedingt notwendig wäre, um Wundinfektionen zu vermei- den. Anschließend geben sie ihm einen grünen Umhang und ebenso grüne Stoffschuhe und tragen ihm auf, vor dem Operationszimmer zu warten.

„Hoffentlich geht alles glatt“, denkt sich Jacob – spätestens in fünf Tagen muss er wieder fit sein, dann will er ei- nem Bruder beim Schlachten helfen.

„Kommen Sie hier herein“, sagt eine Schwester. Ihr Haar ist mit einer Baum- wollhaube und ihr Mund mit einem gleichartigen Mundschutz verdeckt. Sie betreten das Operationszimmer. Jacob muss sich auf die Liege betten. Dann legt die Krankenschwester ein Holz- brett unter seine Arme und bindet sie mit Stoff daran fest. Ebenso werden sei- ne Beine an der Liege arretiert. Jacobs Herz schlägt schneller: „Hoffentlich

Tropenmedizin aus erster Hand

Dort lernen, wo Ärzte dringend benötigt werden – die Medizinstudentin Tanja Anheier hat dieses Vorhaben verwirklicht. Ein Bericht

Benin

Jeden Mittwoch ist Impfsprech- stunde im „Hô- pital St. Jean de Dieu“ in Boko.

Alle, die sich für einen Austausch mit Benin interessieren, können sich melden bei Tanja Anheier unter Telefon:

02 21/4 50 00 16 oder per E-Mail:TanjaAnheier@gmx.de

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geht alles gut“, denkt er. Dann hört er den Arzt hereinkommen, spürt den ste- chenden Schmerz einer Spritze in der Lendengegend. Jemand injiziert viel Flüssigkeit in diese Region. Sie wird zu- nehmend taub. Dennoch merkt Jacob, wie der Arzt einen langen, tiefen Schnitt setzt. Er beißt die Zähne fest zusammen – ein echter Bariba, so heißt die Ethnie, der er angehört, kennt keinen Schmerz.

Nach einer halben Ewigkeit kündigt der Arzt an, dass die Operation beinahe vorüber sei, lediglich die Haut müsse vollends vernäht werden. Die Schmer- zen werden unerträglich, Jacobs Körper bäumt sich auf, er hört, wie man ihm gut zuredet. Dann ist alles vorbei. Er wird aufgefordert, sich auf eine zweite Liege zu rollen. Anschließend schieben ihn zwei Schwestern in ein Krankenzim- mer. Hier liegen noch zwanzig weitere Männer, viele ebenfalls zur Nachbe- handlung einer Hernienoperation.

Jacob ist keine reale Person. Er ist so etwas wie ein Stellvertreter für das Le- ben, die Sorgen und Nöte der meisten Beniner. Etwa 70 Prozent der Bevölke- rung leben von einem Einkommen, das unterhalb der Armutsgrenze liegt. Die Geschichte seiner Operation, die in der technisierten Krankenhauswelt recht unwirklich erscheinen mag, ist für viele Bewohner Benins ebenfalls bittere Realität. Während die westlichen Indu- strienationen chirurgische Eingriffe im Detail optimieren, wird in Benin zum Abbinden von Gefäßen noch ganz nor- maler Bindfaden verwendet. Dieser wird auf dem Wochenmarkt gekauft und dann per Autoklave sterilisiert. Bis

auf ein Blutdruckmessgerät und ein Stethoskop steht häufig nichts zur Ver- fügung, um einen Operationsverlauf zu überwachen. Einen Schlauch zum Intu- bieren gibt es nicht, und Einmalhand- schuhe werden aus Mangel an Material grundsätzlich gewaschen. Mit diesen schützen sich die Krankenschwestern vor Infektionskrankheiten. Grassieren- de Infekte breiten sich in der Bevölke- rung extrem schnell aus, weil der Groß- teil vorwiegend in mangelhaften hygie-

nischen Verhältnissen lebt. Versetzt man sich in die mittelalterliche Atmo- sphäre Deutschlands, in eine Welt ohne Abwassersystem, ohne Trinkwasserlei- tungen und ohne Desinfektionsmittel, so wird verständlich, warum Ärzte vor Ort mit Amöben, Cholera und Typhus zu kämpfen haben.Aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit von ungefähr 70 Pro- zent und der Hitze kommt es schnell zu bakterieller Besiedelung von Wunden.

Neben Malaria tropica gehören Bilhar- ziose und Syphilis zur Tagesordnung.

Nicht einmal jeder Zweite kann le- sen und schreiben, dementsprechend ist es nicht überraschend, dass die Krank- heitsprävention noch sehr unterent- wickelt ist. Nur wer Geld hat, kann sich eine solide Ausbildung leisten. Da das Medizinstudium mit sechs Jahren recht lang ist, gibt es nicht viele praktizieren- de Ärzte vor Ort. Statistisch gesehen ist ein Arzt für mehr als 12 000 Einwohner zuständig. Viele von jenen, die die lange Ausbildung auf sich genommen haben, arbeiten anschließend lieber in Frank-

reich, weil dort die Gehälter um ein Vielfaches höher liegen. Ebenso bietet das Ausland mehr diagnostische Mög- lichkeiten als die heimatliche Medizin in Benin.

Für Ärzte, die den riesigen diagnosti- schen und bürokratischen Apparat westlicher Gesundheitssysteme ken- nen, ist es dagegen eine ganz neue Er- fahrung, nur auf die Sinne angewiesen zu sein. Zwar gibt es in den größeren Städten auch die Möglichkeit, eine Ul-

traschalluntersuchung oder Ähnliches machen zu lassen, doch als Arzt muss man sich mehrmals überlegen, ob man seinen Patienten diese Untersuchung auch empfiehlt. Die Preise sind hoch, und unnötige Diagnostik kann eine Fa- milie finanziell ruinieren. Darüber hin- aus sind auch die therapeutischen Mög- lichkeiten sehr begrenzt. Häufig muss man erst schauen, welche Medikamente zur Verfügung stehen, um anschließend neben einem Malariamittel ein Breit- bandantibiotikum und ein paar Vitami- ne zu verschreiben.

Im Gegensatz zu vielen anderen afri- kanischen Ländern herrscht in Benin schon lange Frieden, obwohl mehr als 42 Ethnien das Land besiedeln. Diese Ethnien haben oft einen völlig unter- schiedlichen traditionellen Hintergrund und sprechen dementsprechend ver- schiedene Sprachen, die weder gram- matikalisch noch semantisch Ähnlich- keiten aufweisen. Daher benötigt man als Arzt trotz der französischen Amts- sprache die Schwestern, die bis zu fünf T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4324. Oktober 2003 AA2773

Tägliche Visite im Krankenhaus von Boko

Markt in Boko

Fotos:Tanja Anheier

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einheimische Sprachen beherrschen. Sie übersetzen, was der Patient zu erzählen hat, und übermitteln ihm anschließend die Diagnose. Es ist eine neue Erfah- rung, an einem Krankenhaus zu arbei- ten, das keine Hektik ausstrahlt, bei dem nicht auf jede Sekunde geachtet wird. Es ist erstaunlich, Patienten zu se- hen, die trotz einer Wartezeit von mehr als einer Stunde zufrieden darauf har- ren, zum Arzt gehen zu dürfen. Oft schallt schon von weitem das Lachen der Schwestern herüber.

Doch die Idylle wird überschattet von der manchmal überwältigenden Hilflosigkeit. Die Säuglingssterblich- keit liegt auch heute noch bei fast zehn Prozent. Kinder, deren Bäuche durch Unterernährung aufgetrieben sind, werden mit Spezialnahrung im Kran- kenhaus versorgt. Manchmal erschei- nen diese Maßnahmen, die häufig vom Westen gesponsert sind, wie ein Tropfen auf den heißen Stein.Trotzdem ist es ein gutes Gefühl, im Kleinen helfen zu kön- nen, Menschen zu erklären, dass sie ein Moskitonetz kaufen sollen, um die dau- ernde Malariaerkrankung zu umgehen.

Es ist schön zu sehen, wie Dutzende Mütter 50 Cent investieren, um ihre Säuglinge gegen Gelbfieber, Diphtherie und Tetanus impfen zu lassen.

Voneinander lernen

Wichtig ist die Kommunikation zwi- schen Ärzten dieser zwei völlig ver- schiedenen Welten. Während die beni- nischen Ärzte zahlreiche Krankheiten auf den ersten Blick erkennen, brau- chen viele deutsche Ärzte aufwendige Aufnahmen. Bei anderen Krankheiten, denen Ärzte in Deutschland bei Früh- symptomen mit Eile begegnen, lassen sich manche Beniner Zeit – oft mit ver- heerenden Folgen. Darüber hinaus ist der Erfahrungsschatz mit chronischen Krankheiten in Benin noch sehr gering.

Doch auch Diabetes mellitus oder chro- nischer Hypertonus nehmen im Zuge der Entwicklung zu. Entsprechend ist es sinnvoll, Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen. Ebenso be- reichernd ist das Kennenlernen völlig fremder Kulturen – damit man Jacob und seine Lebensart vielleicht besser verstehen kann. Tanja Anheier

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nders als aus der früheren Sicht- weise werden Herz- und Gefäß- krankheiten heute als systemi- sche Erkrankungen eingestuft. Die Be- teiligung von mehreren (mindestens zwei) Gefäßregionen (Gefäßmultimor- bidität) ist häufig und kommt bei 30 Prozent (KHK) bis 70 Prozent (AVK) der Betroffenen vor. Der Hauptrisi- kofaktor der Gefäßmultimorbidität ist Diabetes mellitus Typ 2.

Die zunehmende Spezialisierung der Medizin in getrennte Fachbereiche verhindert ein ganzheitliches Manage- ment von gefäßmultimorbiden Patien- ten. Diese benötigen eine fachübergrei- fende Therapie, um einen optimalen Therapieerfolg zu erzielen. Im kli- nischen Alltag gibt es immer noch Mehrfachuntersuchungen und kompli- zierte Behandlungswege. Dies belastet nicht nur den Patienten, sondern auch das Gesundheitssystem. Mehrfache Vorhaltungen von teuren Geräten, ih- re geringe Auslastung und der wach- sende Druck zur Anschaffung moder- nerer Technologien sind auf Dauer nicht finanzierbar. Die Lösungsansätze durch limitierte interdisziplinäre Ko- operationen und Expansionsbestre- bungen einzelner Fachdisziplinen sind nicht ausreichend. Sie führen im klini- schen Alltag eher zur Verstärkung als zum Abbau der interdisziplinären Kon- kurrenz.

Das panvaskuläre Versorgungskon- zept von Patienten mit Gefäßmulti- morbidität beruht auf der fachüber- greifenden Integration der verschiede- nen Fachdisziplinen mit dem Ziel, die medizinische Qualität und Wirtschaft- lichkeit zu verbessern. Um eine inter- nistische, interventionelle und operati- ve Komplettversorgung von Herz- und Gefäßkranken unabhängig von der Lo- kalisation und Schweregrad der Er-

krankung zu erzielen, werden Teams von Spezialisten mit komplementärer Qualifikation gebildet. Die interdiszi- plinäre Zusammensetzung der panvas- kulären Teams orientiert sich an der re- gionalen Bedeutung und Häufigkeit einzelner kardiovaskulärer Krank- heitskonstellationen an der lokal ver- fügbaren Expertise und an der medi- zintechnischen Ausstattung. Das typi- sche panvaskuläre Team besteht aus konventionell und interventionell tä- tigen Kardiologen und Angiologen, Herz- und Gefäßchirurgen und Radio- logen. Die Beteiligung von Diabetolo- gen, Nephrologen und Neurologen ist notwendig, um das medizinische Profil abzurunden.

Die Behandlung von gefäßmulti- morbiden Patienten wird von demjeni- gen Teammitglied initiiert, dessen Fachbereich für das Leitsymptom der Erkrankung am ehesten infrage kommt. Bei Verdacht auf Gefäßmulti- morbidität wird jeweils nach der Schwere der Erkrankung und in Ab- hängigkeit von der geplanten Behand- lung entweder ein komplettes oder ein begrenztes nichtinvasives Gefäß-Or- ganscreening durchgeführt. Nach Dia- gnosestellung werden die relevanten Teammitglieder in die Planung und Ausführung der Behandlung mit einbe- zogen. Durch das fachübergreifende Vorgehen des Behandlungsteams wird das individuell optimale Vorgehen ge- wählt, und die Behandlungsrisiken werden bereits im Vorfeld deutlich verringert. Daneben induziert eine in- terdisziplinär abgestimmte Behand- lungsstrategie wichtige Synergieeffekte durch gemeinschaftliche Nutzung der Ressourcen. Mehrfachdiagnostik und unvollständige Therapien entfallen. Der direkte interdisziplinäre Austausch am Krankenbett sorgt für Transparenz in der Ablauforganisation und fördert die fachübergreifende Standardisierung und Kompetenz.

Die Grundlagen der Panvaskulären Medizin wurden kürzlich im Lehrbuch- format dargelegt, das erste Deutsche Panvaskuläre Kompetenzzentrum wur- de bereits gegründet.

Dr. med. Peter Lanzer Klinik für Kardiologie und Angiologie Herz-Zentrum Coswig

Lerchenfeld, 106869 Coswig

Kompetenzzentren

Fachübergreifende Integration

Erstes deutsches Panvaskuläres

Zentrum gegründet

Referenzen

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