Übungen im öffentlichen Recht I
Gruppen D–F und Q–S
Fall 6: Kreuzanhänger
Daniel Moeckli
Themen
• Schutzbereich verschiedener Grundrechte
• Abgrenzung Grundrechtsträgerschaft – Grundrechtsmündigkeit
• Religionsfreiheit
• Religiöse Neutralität der Schule
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Frage 1
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Welche Grundrechte betroffen?
Grundrechts- eingriff
Eingriff ?
Voraussetzungen für
Grundrechtseinschränkung erfüllt
Grundrecht nicht verletzt Voraussetzungen für
Grundrechtseinschränkung nicht erfüllt
Grundrecht verletzt Grundrecht lässt
sich nicht einschränken
Grundrecht verletzt Persönlicher
Schutzbereich berührt ? Lebens-
vorgang
Sachlicher Schutzbereich
berührt ?
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Allenfalls berührte Grundrechte
• Religionsfreiheit (Art. 15 BV, Art. 9 EMRK, Art. 18 UNO-Pakt II)
• Meinungsfreiheit (Art. 16 Abs. 1 und 2 BV, Art. 10 EMRK, Art. 19 UNO- Pakt II)
• Persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV)
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Religionsfreiheit
• Persönlicher Schutzbereich: Alle natürlichen Personen
• Sachlicher Schutzbereich:
• Art. 15 Abs. 2 BV: «Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung (…) allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.» = Bekenntnisfreiheit
• Das Tragen von religiöser Kleidung und religiösen Symbolen fällt in den Schutzbereich von Art. 15 Abs. 2 BV (BGE 142 I 49 E. 3.6 S. 55)
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Meinungsfreiheit
• Persönlicher Schutzbereich: Alle natürlichen Personen
• Sachlicher Schutzbereich:
• Freie Bildung, Äusserung und Verbreitung von Meinungen (Art. 16 Abs. 2 BV)
• «Meinungen»: weiter Begriff: alle Arten von Mitteilungen menschlichen Denkens und Empfindens
• Alle Ausdrucksmittel und -formen, die sich zur Kommunikation eignen;
auch Symbole
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Persönliche Freiheit
• Persönlicher Schutzbereich: Alle natürlichen Personen
• Sachlicher Schutzbereich:
• «Das Grundrecht auf persönliche Freiheit umfasst neben den in Art. 10 Abs. 2 BV ausdrücklich genannten Rechten auch das Recht auf
Selbstbestimmung und auf individuelle Lebensgestaltung sowie den Schutz der elementaren Erscheinungen der Persönlichkeits-
entfaltung.» (BGE 138 IV 13 E. 7.1 S. 25 f.)
• Umfasst «auch die Freiheit in der Auswahl der Bekleidung etwa nach den Gesichtspunkten der Ästhetik und der Praktikabilität.» (BGE 138 IV 13 E. 7.2 S. 26)
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Ein staatlicher Akt berührt mehrere Grundrechte, deren Schutzbereiche sich
nichtüberschneiden
Grundrechtskonkurrenz: Arten
Echte Konkurrenz
Ein staatlicher Akt berührt mehrere Grundrechte, deren Schutzbereiche sich
überschneiden
Unechte Konkurrenz
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Grundrechtskonkurrenz in casu
• Vorgehen bei unechter Grundrechtskonkurrenz: Geprüft wird vorab das speziellere Grundrecht; der Schutz des allgemeinen Grundrechts ist subsidiär
• Falls X. den Kreuzanhänger aus religiösen Gründen trägt:
Religionsfreiheit als spezielleres Grundrecht gegenüber Meinungsfreiheit und persönlicher Freiheit
• Falls X. eine Meinung (nicht-religiösen Inhalts) äussern will:
Meinungsfreiheit als spezielleres Grundrecht gegenüber persönlicher Freiheit
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Frage 2
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Religionsfreiheit: Sachlicher Schutzbereich
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Glaubens- und Gewissensfreiheit (BV 15)
Äussere Freiheit
Positiv
Bekenntnis- freiheit (BV 15 II)
Individuell Kollektiv
Vereinigungs- freiheit (BV 15 III)
Unterrichts- freiheit (BV 15 III)
Negativ
Freiheit von Zwang (BV 15 IV)
Religiöse Neutralität des Staates
Innere Freiheit
Gewissensfreiheit (BV 15 I)
Innere
Glaubensfreiheit (BV 15 II)
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Religiöse Neutralität des Staates
• Der Staat hat alle religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen gleich zu behandeln; der Staat soll sich nicht einseitig mit einem bestimmten Glauben identifizieren
• Mehr als ein Leitprinzip: Art. 15 Abs. 1 und Abs. 4 BV vermitteln dem
Einzelnen einen justiziablen Anspruch auf religiös neutrale Behandlung durch den Staat (BGE 123 I 296 E. 4b/bb S. 308)
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Grundrechtsträgerschaft
• Träger des Anspruchs auf religiös neutrale Behandlung können alle natürlichen Personen sein:
• A. (unabhängig von seinem Alter)
• Eltern von A.
• Das Recht der Eltern, gemäss Art. 303 Abs. 1 und 3 ZGB über die religiöse Erziehung des Kindes bis zum 16. Altersjahr zu bestim- men, ist Bestandteil ihrer Religionsfreiheit (BGE 129 III 689 E. 1.2 S. 692)
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Grundrechtsmündigkeit
• Grundrechtsmündigkeit = Prozessuale Handlungsfähigkeit bei
Grundrechtsverletzungen: Recht, eine Grundrechtsverletzung selbständig (d.h. auch ohne gesetzlichen Vertreter) geltend zu machen
• Art. 11 Abs. 2 BV: Kinder und Jugendliche üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus
• Bei der Religionsfreiheit tritt die Grundrechtsmündigkeit grundsätzlich erst mit dem 16. Altersjahr ein (Art. 303 Abs. 1 und Abs. 3 ZGB)
• Aber: In Bezug auf den inneren, persönlichen Bereich der Religions- freiheit sind auch Minderjährige grundrechtsmündig, sofern sie urteils- fähig sind (BGE 142 I 49 E. 5.3 S. 63)
• Hier: Innerer, persönlicher Bereich betroffen; A. ist wohl urteilsfähig
=> Sowohl A. als auch seine Eltern können sich auf grundrechtlichen Schutz berufen
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Frage 3
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Grundrechtsbindung
• Art. 35 Abs. 2 BV: An die Grundrechte ist gebunden, wer staatliche Aufgaben wahrnimmt
• Die Schulleitung nimmt eine staatliche Aufgabe wahr (vgl. Art. 62 Abs. 2 BV)
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Anspruch auf religiöse Neutralität des Staates
• Art. 15 Abs. 1 und 4 BV: Anspruch des Einzelnen darauf, dass der Staat alle religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen gleich behandelt;
der Staat soll sich nicht einseitig mit einem bestimmten Glauben identifizieren
• Gilt nicht absolut: verlangt nicht den Ausschluss jeden religiösen Aspekts aus jedem Bereich staatlicher Tätigkeit; z.B. Besserstellung öffentlich- rechtlich anerkannter Religionsgemeinschaften
• Wie ist vorzugehen, um zu entscheiden, ob der Anspruch auf religiöse Neutralität des Staates verletzt ist?
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Lösung von Grundrechtsfällen
Formell und materiell zulässiger Eingriff 3. Einschränkungen
gemäss BV 36
Gesetzliche Grundlage
Öffentliches Interesse
Verhältnismässigkeit
Kerngehalt
Rechtswidriger Eingriff 2. Schutz-
bereich?
2. Schutz- bereich?
2. Schutz- bereich?
2. Vergleichbare Fälle?
2. Schutzbereich? Ungleich-
behandlung?
Diskrimi- nierung?
Soziale Grundr.
Verfahrens- grundrechte
Politische Grundr.
Gleichheitsrechte Freiheitsrechte
3. Sachliche bzw. qualifizierte
Gründe?
3. Sinngemässe Anwendung der Voraussetzungen von BV 36?
1. Formell rechtmässiger Eingriff? ð Zuständigkeit
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Neutralitätsgebot: Vorgehensweise
• Eingriffe in die durch Art. 15 BV vermittelten Ansprüche sind in der Regel nach Art. 36 BV zu prüfen
• Anders beim Anspruch auf religiöse Neutralität: dieser Anspruch kann unter keinen Umständen eingeschränkt werden, der Staat darf sich nie religiös parteiisch verhalten
• Entscheidende Frage: Stellt die Weigerung der Schulleitung, X. das
Tragen des Kreuzanhängers zu verbieten, eine staatliche Parteinahme in einer religiösen Auseinandersetzung dar?
• Erfordert eine Identifizierung und Abwägung der betroffenen Interessen
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Identifizierung der Interessen
• A.
• Grundrechtlich geschütztes Interesse, nicht durch seine Lehrerin in seiner weltanschaulichen Überzeugung beeinflusst zu werden
• Eltern von A.
• Grundrechtlich geschütztes Interesse, nicht in ihrem religiösen Erziehungsrecht gegenüber A. tangiert zu werden (SV offen)
• Schulleitung
• Interesse, religiöse Konflikte in der Schule zu verhindern (vgl. Art. 72 Abs. 2 BV)
• Interesse, Grundrechte der Lehrerinnen und Lehrer zu schützen
• X.
• Interesse an uneingeschränkter Ausübung ihrer Grundrechte
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Abwägung der Interessen
• Religiöse Neutralität der Schule
• Pflicht der Lehrerschaft zur Zurückhaltung in religiösen Fragen
«Der Grundsatz der Neutralität verbietet daher die Ausrichtung des Unterrichts zugunsten oder zuungunsten einer oder mehrerer
Religionen, da Überzeugungen der Lehrerin oder des Lehrers einen gewissen Einfluss auszuüben vermögen (…). Ein Verstoss gegen das Neutralitätsgebot liegt jedoch erst dann vor, wenn die religiöse
Äusserung seitens der Schule bzw. der Lehrerschaft eine gewisse Intensität erreicht, sodass Auswirkungen auf die geistige Entwicklung der Kinder und auf ihre religiösen Überzeugungen nicht auszuschliessen sind.» (BGer 2C_897/2012 vom 14. Februar 2013, E. 3.2)
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Argumente für das Vorliegen einer Verletzung
• Obligatorischer Schulunterricht betroffen (vgl. Art. 62 Abs. 2 BV) => dem Neutralitätsgebot kommt besondere Bedeutung zu (BGE 116 Ia 252 S.
260 E. 6 (Kruzifix-Fall); BGE 123 I 296 E. 4b/bb S. 309 (Genfer Kopftuch-Fall))
• Offene Zurschaustellung des Kreuzanhängers durch X. (BGE 123 I 296 E. 4b/bb S. 310: «L’attitude des enseignants joue un rôle important.
Même par leur seul comportement, ceux-ci peuvent avoir une grande influence sur leurs élèves.»)
• Verbot des Kreuzanhängers würde die Grundrechte von X. nicht
unbedingt stark beeinträchtigen (z.B. könnte Tragen unter der Kleidung erlaubt werden)
• Neutralitätsgebot heute strenger zu verstehen als früher (vgl. z.B. neues Laizitätsgesetz GE; Personalreglement der Gerichte BS (BGer
2C_546/2018 vom 11.03.2019))?
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Argumente gegen das Vorliegen einer Verletzung
• Neutralität bedeutet nicht Ausgrenzung von allem Religiösen
• Unvermeidlich, dass Überzeugungen der Lehrerschaft einen gewissen Einfluss auf Schülerinnen und Schüler haben (BGE 123 I 296 E. 4b/bb S. 310)
• Für Verletzung erforderliche Intensität ist nicht erreicht, wenn keine
Beeinflussung im Übermass und keine Bekehrungsabsicht vorliegt (BGer 2C_724/2011 vom 11. April 2012, E. 3.1 f.)
• Hier sind nicht (wie im Kruzifix-Fall und im Genfer Kopftuch-Fall) Primar- schüler betroffen, sondern Sekundarschüler: reifer und somit immuner
• Heute ist die Schülerschaft stärker unterschiedlichen religiösen Ideen ausgesetzt als zur Zeit des Kruzifix-Urteils (1990) und des Genfer Kopftuch-Urteils (1997)
• Verhängung eines Verbots bedürfte einer expliziten gesetzlichen Grundlage
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Verletzung von Art. 9 EMRK
• Art. 9 EMRK stimmt mit Art. 15 BV weitgehend überein => grundsätzlich finden die gleichen Überlegungen Anwendung
• Aber: Der EGMR räumt den Vertragsstaaten in religiösen Fragen einen weiten Ermessensspielraum ein
• Beispiel: EGMR, Lautsi v. Italy, 18. März 2011, Nr. 30814/06: Kruzifix verletzt die Religionsfreiheit nicht
• Der EGMR käme deshalb mit grosser Wahrscheinlichkeit zum Schluss, dass die Religionsfreiheit nicht verletzt ist
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