Entstehung der sozialen Reaktion auf behinderte Menschen
Erkenntnis der Entwicklungspsychologie:
- Kinder bis 3./4. LJ reagieren unbefangen und neugierig auf alles Fremdartige
- ab 8 Jahre Nachweis massiver Vorurteile
Was ist passiert?
Sozialisation
1. Sozialisationsinhalte :
- Vermittlung der kulturellen und sozialen Wirklichkeit, von Einstellungen und Werthaltungen
- Verknüpfung von Abweichungen mit böse/schlecht (z.B. in Märchen, Medien, Alltagskommunikation); ganzheitliche
Denkweise der Kinder fördert Analogien wie hässlich =schlecht, minderwertig, schön = gut, reich, stark, höherwertig
2. Sozialisationspraktiken:
- setzen hohe gesellschaftliche Bewertung von Gesundheit und Normalität und entsprechend die Abwertung des
Anderen in soziales Handeln um
- Erziehungspraxis setzt Krankheit als Druckmittel zur
Erzielung konformen Verhaltens ein und stellt damit eine Verbindung zu Strafe und Schuld her
(barfuss laufen =krank werden)
3. Kontinuierliche Verstärkung:
- Vorstellungen vom Behinderten als abweichend von der Norm; z.B. missgestaltete Bösewichte wie Frankenstein, normgerechte Figuren oft positiv besetzt
Info: Der Blick von Menschen mit Behinderung auf andere Menschen mit anderen Behinderungsarten ist oft auch voller Vorurteile. Es ist ein hohes Maß an Distanzierung nachweisbar.
Exkurs 1: Kulturhistorischer Hintergrund
Moderne Einstellung zu Behinderung ist auf 5 verschiedene, historisch bedingte Ansichten und Überzeugungen rückführbar
1. Hebräische Wurzeln:
Das kranke Individuum ist selbst verantwortlich für seinen Zustand. Krankheit und Defekte als Strafe Gottes für begangene Sünden.
2. Griechische Wurzeln:
Krankheit und Behinderung bedeuten soziale Unterlegenheit.
3. Christliche Wurzeln:
Krankheit und Leiden dienen der Läuterung und sind ein Weg zur Gnade Gottes.
4. Calvinistische Wurzeln:
Fehlender materieller Erfolg, auch bedingt durch Krankheit oder Behinderung, ist sichtbares Zeichen für den Entzug göttlicher Gnade.
5. Wissenschaftliche Wurzeln:
Kranke und Behinderte können nichts für ihren Zustand, sind deutlich leistungseingeschränkt.
Exkurs 2: Interkultureller Vergleich Grundannahmen:
1. Universalität der Tendenz, auf starke Abweichung negativ zu reagieren; Ambivalenz zwischen Ablehnung – Hilfe, Ausstoßung – Attraktion verhaltensbiologisch und
soziologisch nachgewiesen 2. Interkulturelle Variabilität:
- kulturoptimistische Variante: zunehmend positivere Bewertung von Behinderten mit wachsendem Entwicklungsstand der Gesellschaft
- kulturpessimistische Variante: zunehmende Ausgrenzung und Abwertung Behinderter aufgrund zugespitzter Funktionserfordernisse mit wachsendem Entwicklungsstand der Gesellschaft
3. Kulturelle Uniformität: Sozialisierung internalisiert gleichartige Werte innerhalb einer Kultur und führt zu relativ gleichartigen Einstellungen zu Behinderung sowie
Reaktionen auf sichtbare Abweichung
4. Intrakulturelle Variabilität: verschiedene Gruppen innerhalb einer Gesellschaft
vertreten unterschiedliche Werte, z.B. schichtspezifische Abweichungen nachweisbar
Forschungsergebnisse:
1. Universalität vs. Interkultureller Variabilität
starke Funktionseinschränkungen (z.B. extreme körperliche
Deformationen, Blindheit) werden interkulturell einheitlich negativ bewertet, Andersartigkeiten mit weniger starken
Funktionseinschränkungen (z.B. zusätzliche Finger, Narben) werden interkulturell variabel bewertet
2. Universalität vs. Intrakultureller Variabilität
Andersartigkeit ist tendenziell kulturell uniform bewertet, Variabilität ist möglich, jedoch nicht zwangsläufig
Extremreaktionen meist direkt nach der Geburt, zumeist
hochvisible Behinderungen betreffend; Tötung oder Verstoßung älterer Kinder/Erwachsener nur in Ausnahmefällen
Zusammenfassung:
In den meisten Kulturen gibt es ein Spektrum mehrerer möglicher Reaktionen auf Menschen mit Behinderung.
Die Breite des Spektrums variiert von Kultur zu Kultur.
Die Reaktionen werden maßgeblich von
-der Art der Behinderung (Sichtbarkeit, Ansteckungsgefahr), - dem Zeitpunkt des Eintretens der Behinderung
(Extremreaktionen meist geburtsnah),
- der Situation der Gruppe (Anfälligkeit für Versorgungslücken) bestimmt.