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Eine faszinierende Geschichte über Mut, Loyalität und Liebe

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Academic year: 2022

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Eine faszinierende Geschichte über Mut, Loy alität und Liebe

Lee, Isabel, Rudy und Emma sind seit Jahren eng befreundet.

Gemeinsam haben sie die größten Krisen, aber auch die k omischsten, peinlichsten und bedrohlichsten Situationen ihres Lebens

durchgestanden. A ls Isabel schwer erk rank t, lernen die Freundinnen eine bittere Lek tion über die Kostbark eit ihrer gemeinsamen Zeit - und k ommen doch ihren eigenen W ünschen dabei näher.

»Ein Juwel v on einem Buch.« Nora Roberts

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Patricia Gaffney

Garten der Frauen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Caroline Einhäupl

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Die Autorin

Patricia Gaffney studierte Englische Philologie und arbeitete als Englischlehrerin und Journalistin. Heute ist sie freie Schriftstellerin und lebt mit ihrem Ehemann in Blue Ridge Summit, Pennsy lv ania. Mit ihren beiden Romanen »Garten der Frauen« und »Fluss des Lebens« landete sie einen phänomenalen Erfolg.

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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel The saving Graces.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.weltbild.de

Genehmigte Lizenzausgabe © 2021 by Weltbild GmbH & Co. KG, Werner-von-Siemens- Straße 1, 86159 Augsburg

Copyright der Originalausgabe © 1999 by Patricia Gaffney

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1999 by Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Übersetzung: Caroline Einhäupl Covergestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: iStockphoto

E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara ISBN 978-3-96377-789-9

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Für Jan, A bbey und Marti.

Und für C aroly n, Jeanne, Jamie, Jodie und Kathleen.

Und Molly .

Vor allem aber in Erinnerung an Midge.

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EMMA

W enn die Hälfte aller Ehen mit einer Scheidung enden, wie lange hält dann eine Ehe im Durchschnitt? Das ist k ein mathematisches Problem;

ich möchte es wirk lich gerne wissen. Ich wette, weniger als neuneinhalb Jahre. So lange gibt es die Rettenden Engel jetzt schon, und wir werden nicht mal unruhig. W ir reden immer noch miteinander, bemerk en, wenn eine abgenommen, einen neuen Haarschnitt oder neue Schuhe hat. So weit ich weiß, ist k eine v on uns auf der Suche nach einem jüngeren, k nack igeren Mitglied.

Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass wir so lange durchhalten.

Ich bin damals nur mitgek ommen, weil Rudy mich überredet hat. Die anderen drei waren Lee, Isabel und Joan, oder hieß sie Joanne? Sie war nicht lange dabei; ist mit ihrem Urologenfreund nach Detroit gezogen, und wir haben uns aus den A ugen v erloren. A m A nfang hätte ich nie geglaubt, dass die anderen drei meine Busenfreundinnen werden k önnten. Lee fand ich rechthaberisch, und Isabel war schon

neununddreißig. Nächstes Jahr werde ich v ierzig, sov iel zu dem Thema, und Lee ist rechthaberisch, aber sie k ann nichts dafür, weil sie eben immer recht hat. Das stimmt wirk lich; und sie v erdank t es ihrem außergewöhnlichen C harak ter, dass wir sie nicht alle dafür hassen.

Das erste Treffen war grauenhaft. Es fand bei Isabel statt – damals war sie noch mit Gary v erheiratet. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, mein Gott, sind diese Leute anständig. A nständig und reich, das hat mich wirk lich umgehauen – aber ich war gerade in eine k leine, feuchte Souterrainwohnung in Georgetown gezogen, die nur wegen der Lage elfhundert Dollar im Monat k ostete, deswegen war ich ein bisschen empfindlich. Lee sah so aus, als k äme sie gerade aus dem Fitness-Studio.

Und sie war Single, studierte noch und unterrichtete halbtags an einer Sonderschule – jeder weiß ja, wie v iel Geld man da v erdient –, und trotzdem wohnte sie in diesem v ersnobten Viertel bei Isabel um die

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Eck e, und zwar nicht zur Miete, sondern in einem eigenen Haus. Solche Leute hatten mir gerade noch gefehlt.

A uf dem Heimweg habe ich Rudy mit v iel W itz und Ironie erk lärt, warum ich unmöglich bei einer Frauengruppe mitmachen k ann, deren Mitglieder elek trische Heck enscheren besitzen, Designerk lamotten tragen, sich an Eisenhower erinnern und mit Urologen ausgehen.

»A ber sie sind nett«, beharrte Rudy . Doch darum ging es nicht. Viele Leute sind nett, aber man will nicht unbedingt jeden zweiten Donnerstag mit ihnen zu A bend essen und Geheimnisse austauschen.

Das andere war die Eifersucht. Ich k onnte es schon k aum ertragen, dass Rudy außer mir noch eine andere Freundin hatte. Einen A bend in der W oche brachten sie und Lee A nalphabeten unentgeltlich Lesen und Schreiben bei. Dabei hatten sie sich k ennen gelernt. Ich hatte nie A ngst, dass sie beste Freundinnen werden k önnten, weder damals noch heute;

wenn es zwei Menschen gibt, die nichts gemeinsam haben, dann sind es Lee und Rudy . A ber ich war wie immer unsicher und v iel zu neurotisch (das hat sich bis heute nicht geändert), um zu erk ennen, was für wunderbare Möglichk eiten die Rettenden Engel boten – ich musste sie nur ergreifen.

Damals waren wir natürlich noch nicht die Rettenden Engel. Und auch heute posaunen wir unseren Namen nicht in die Öffentlichk eit. Er ist k itschig; er k lingt wie der Titel einer Sitcom. Oder? »Die Rettenden Engel«, in den Hauptrollen Valerie Bertinelli, Susan Dey und C y bill Shepherd. A lles attrak tiv e, k luge und lustige Frauen, die zufällig ein bisschen v errück t sind. W ie dem auch sei, der Ursprung unseres Namens ist eine reine Priv atangelegenheit. Er hat k eine besondere Bedeutung – er ist irgendwie ganz witzig und passt zu uns. A ber wir reden nicht drüber. Es ist eine Priv atsache.

W ir waren auf dem W eg v om A bendessen in einem Restaurant in Great Falls nach Hause (wenn diejenige, bei der das Treffen stattfinden soll, k eine Lust hat zu k ochen, gehen wir essen), und Rudy fuhr einen Umweg, weil sie die A usfahrt v erpasst hatte. W ir waren damals seit fast einem Jahr eine Gruppe; Joan/Joanne hatte uns gerade v erlassen, und Marsha, v orübergehendes Mitglied Nummer zwei, war noch nicht dabei, deshalb waren wir nur zu v iert. Ich saß auf dem Rück sitz. Rudy drehte

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sich um, um etwas dav on mitzuk riegen, wie ich die Kellnerin nachmachte, die, wie alle fanden, wie Emma Thompson aussah. Isabel schrie: »Pass auf!«, und einen Sek undenbruchteil später haben wir den Hund überfahren. Ich sehe immer noch den Blick dieses gelben Köters v or mir, k urz bev or ihn die Stoßstange erwischte und er über die Motorhaube v on Rudy s Saab geschleudert wurde – fragend, neugierig, ein bisschen v erwirrt. A ls wollte er sagen: »Oh, das ist aber mal interessant.«

A lle haben geschrien. Ich habe immer wieder gesagt: »Er ist tot, er ist tot, er muss tot sein«, während Rudy den W agen am Straßenrand zum Stehen brachte. Um die W ahrheit zu sagen, ich glaube, ich wäre weitergefahren. Ich war mir sicher, dass der Hund tot war, und ich wollte mir das nicht ansehen. A ls ich zwölf war, habe ich mit meinem Fahrrad einen Frosch überfahren, das habe ich immer noch nicht v erk raftet. A ber Rudy stellte den Motor ab, und alle stiegen aus. Da musste ich also mit.

Er war nicht tot. A ber das wussten wir nicht, bis Lee sich plötzlich mitten auf dem MacA rthur Boulev ard in Florence Nightingale, den Engel der Landstraße, v erwandelte. Haben Sie schon mal gesehen, wie ein Mensch einen Hund reanimiert? Es ist lustig, aber nur im nachhinein.

W enn es passiert, ist es aufregend und ek lig, so ähnlich wie was anderes, das in weiten Teilen New Englands heute noch illegal ist. Rudy riss sich ihren schwarzen Kaschmirumhang v om Leib, um den ich sie schon immer beneidet habe, und wick elte den Hund darin ein, weil Lee meinte, er habe einen Schock . »Einen Tierarzt, wir brauchen einen Tierarzt«, jammerte Isabel, aber es war weder ein Haus in der Nähe noch irgendein Laden, gar nichts, außer einer dunk len Kirche auf der anderen Straßenseite. Isabel sprang auf und wink te einem

entgegenk ommenden A uto. A ls es anhielt, rannte sie hin und redete mit dem Fahrer. Ich stand nur da und rang die Hände.

Rudy und Lee hiev ten den Hund zwischen sich auf den Rück sitz des Saab. Seine Schnauze war v oller Blut, das war das einzige, was ich mitbek am; ich k onnte k aum hinschauen. Ich weiß nur noch, wie ich gemurmelt habe: »C urtis k riegt ’nen Nerv enzusammenbruch«, während das Blut auf die honiggelben Ledersitze des 900er Turbo tropfte. A ber

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Rudy , diejenige, die es büßen musste, wenn C urtis einen Nerv enzusammenbruch bek am, zuck te nicht mit der W imper.

»In Glen Echo gibt es einen Tierarzt«, sagte Isabel und stieg auf der Beifahrerseite ein, damit sie Rudy den W eg erk lären k onnte. Ich musste mit Lee und dem Hund hinten sitzen. Ich k ann k ein Blut sehen und halte es nicht aus, wenn jemand im Sterben liegt, da wird mir schlecht.

W irk lich. Einmal habe ich gesehen, wie ein Mann, einer meiner Nachbarn, sich mit dem elek trischen Rasenmäher über den Fuß gefahren ist, und ich musste mich auf dem Gehweg übergeben. Das ist wahr. A lso starrte ich aus dem Fenster und k onzentrierte mich darauf, wie die Scheinwerfer der A utos das Schild an der Kirche auf der anderen Straßenseite anstrahlten, KIRC HE ZUM HEILIGEN

SC HUTZENGEL – und fragen Sie jetzt bitte nicht nach der Pointe der Geschichte.

Rudy raste wie ein Formel-1-Pilot nach Glen Echo. Der Tierarzt war nicht da – es war elf Uhr nachts –, aber als der v erschlafene Nachtwächter ihn anrief, k am er sofort. Grace, wie wir den Hund tauften, hatte eine k ollabierte Lunge, ein gebrochenes Bein und eine ausgerenk te Schulter, aber sie blieb am Leben, und es k ostete nur elfhundertv ierzig Dollar. Niemand suchte nach ihr – quelle surprise! –, aber als sie aus der Tierk linik entlassen wurde, stritten sich Isabel und Lee, wer v on beiden sie behalten durfte. Ernie, Isabels alter Beagle, war gerade gestorben, deshalb hat sie gewonnen, oder v erloren, wie man’s nimmt. Sie hat Grace heute noch. Jetzt ist Grace alt und grau wie wir, die Tage, wo sie wie ein W iesel über den Highway rannte, sind v orbei, aber sie ist der süßeste Hund, den es gibt – und ich mache mir eigentlich nichts aus Hunden. Ich habe immer gedacht, sie k önnte es uns durchaus übel nehmen, dass wir sie überfahren haben, statt dessen betet sie uns an, weil wir sie gerettet haben. A n unserem Jahrestag feiern wir immer auch ihren Geburtstag und überschütten sie mit Unmengen v on Hundespielzeug und W ürstchen.

So sind wir also zu unserem Namen gek ommen. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich die einzige bin, die eigentlich nichts getan hat, die k eine noch so k litzek leine Heldentat v ollbracht hat. Die anderen sehen großzügig und wohlwollend darüber hinweg, genau wie Grace.

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Niemand hat je ein W ort darüber v erloren, nicht mal einen W itz gemacht. (Ich hätte dem bestimmt nicht widerstehen k önnen, wenigstens ein einziges Mal in neuneinhalb Jahren hätte ich mich darüber lustig gemacht.) Nein, ich werde v orbehaltlos als Rettender Engel ak zeptiert, und allein dafür halte ich der Gruppe lebenslang die Treue, selbst wenn es all die Freundlichk eit, das Mitgefühl, den Trost und die Solidarität nicht gäbe.

A ber die gibt es. Tausendfach. Und da ich nicht in ein Kloster eingetreten bin, sollte ich v ielleicht auch erwähnen, dass es natürlich auch Eifersucht, Kleinlichk eit und Starrsinn gibt und, nicht zu v ergessen, den einen oder anderen Nerv enzusammenbruch. A ber das ist alles unwichtig, und heute denk e ich mit Schreck en daran, dass meine Vorurteile gegenüber Besserv erdienenden mich fast dazu gebracht hätten, mich nach diesem ersten A bend bei Isabel mit einer höflichen Entschuldigung aus dem Staub zu machen.

Die gute alte Rudy . Sie hat dafür gesorgt, dass ich bei der Stange bleibe. W enn ich darüber nachdenk e ist das eher seltsam. Denn Rudy ist v on uns allen diejenige, die am ehesten v errück t ist. Lee ist die Normale.

W ir nennen sie sogar so – sie fasst es als Kompliment auf. Das sagt eigentlich alles über Lee.

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2

LEE

Die Frauengruppe traf sich zum erstenmal am 14. Juli 1988 in Isabels Haus in der Meadow Street. Sie hat thailändisches Huhn in Erdnusssoße mit Glasnudeln gek ocht. Damals waren wir fünf – Isabel, Rudy , Emma, Joanne Karlewsk i und ich. Nachdem v ier v on uns an diesem A bend mit einem Salat aufk reuzten, schlug ich v or, genau festzulegen, was jede in Zuk unft zum Essen mitbringen sollte. Rudy war für die Vorspeise zuständig, Emma für den Salat, Joanne für das Brot, Isabel für Obst und ich für den Nachtisch. Diejenige, bei der das Treffen stattfand, k ochte den Hauptgang. Bis auf Rudy haben sich seitdem alle daran gehalten.

(W ir mussten ihr den Nachtisch geben, weil sie nie pünk tlich ist.) Bis zum September 1991 trafen wir uns jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat, dann ging ich wieder zur Uni und bek am Probleme wegen eines Seminars am A bend. Deswegen haben wir die Treffen auf Donnerstag gelegt, und so ist es seitdem geblieben. W ir fangen um halb acht an und hören so gegen zehn, Viertel nach zehn auf. In den ersten Jahren haben wir immer halb ernst über ein Thema disk utiert, das wir in der W oche zuv or festgelegt hatten – Mütter und Töchter, Ehrgeiz, Vertrauen, Sex, diese Geschichten. Damit begannen wir gleich nach dem Essen und blieben ungefähr eine Stunde dabei. Doch inzwischen sind wir dav on abgek ommen, und ich bin die einzige, der es abgeht. Von Zeit zu Zeit schlage ich v or, dass wir es wieder einführen, doch niemand unterstützt mich. »W ir haben doch schon jedes Thema unter der Sonne durchgek aut«, findet Emma, »es ist nichts mehr übrig.« Da ist was W ahres dran, zugegeben, aber ich glaube, in W irk lichk eit ist es nur Faulheit. Es ist sov iel einfacher zu schwatzen, als seine Gedank en zu ordnen und über ein ernsthaftes Thema zu reden und dabeizubleiben.

Ich mag Tratsch genauso gerne wie alle anderen, aber ich bin ziemlich sicher, dass wir v iel bessere Disk ussionen hätten, wenn wir die Sache mehr struk turieren würden.

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Die Viertelstundenregel haben wir aufgestellt, als Susan Geiser dabei war (v on Februar 1994 bis A pril 1995), und sie gilt immer noch, obwohl wir sie eigentlich nicht mehr brauchen, seit Susan weg ist. Die Rettenden Engel waren schon eine ganze W eile nur zu v iert, als Isabel v orschlug, Susan als neues Mitglied aufzunehmen. Sie hatte ein paar wunderbare Eigenschaften, Susan, meine ich, sie war interessant und k onnte sehr witzig sein. A ber sie hatte einen Fehler: Sie redete ununterbrochen. Mir hat es nicht sov iel ausgemacht, aber Emma und Rudy hat es zum W ahnsinn getrieben. Da hat Isabel auf ihre wunderbare, tak tv olle A rt – und das k ann nur sie – die Viertelstundenregel ins Spiel gebracht, und v on da an hat jede v on uns beim Essen fünfzehn Minuten lang erzählt, wie es ihr geht, was sie in letzter Zeit macht und worüber sie nachdenk t.

W ir sind nicht so streng, k eine schaut auf die Uhr oder was; es dient einfach als Richtlinie. Ich bin meistens schon nach fünf Minuten fertig, während Rudy mindestens zwanzig Minuten braucht, und so funk tioniert es prima.

Emma und Rudy behaupten immer, ich hätte die Idee mit der Gruppe gehabt, hätte alles geplant und organisiert, aber in W irk lichk eit hat Isabel mindestens ebenso v iel dazu beigetragen. Isabel und ich waren seit ungefähr eineinhalb Jahren befreundet, seit dem Halloween-A bend, an dem Terry , ihr Sohn, meine neuen Schuhe v ollgek otzt hat. Es war mein erstes Halloween in dem Haus in C hev y C hase, und es machte mir großen Spaß, die v ielen k leinen k ostümierten Bettler und Geister, die an meine Tür k amen, mit selbst gemachtem Popcorn und glasierten Ä pfeln zu v ersorgen. Es waren Dutzende v on Kindern – ich war gerade aus einem Hochhaus hierhergezogen und k onnte k aum glauben, wie v iele Kinder es in der Nachbarschaft gab. Und sie waren so süß in ihren k leinen Kostümen, die winzigen Prinzessinnen und Hexen und Power Rangers. Ich gebe zu, dass ich richtig süchtig nach Kindern bin, wie Emma es nennt. Um halb neun k lingelte fast niemand mehr, und um neun schien Halloween v orüber zu sein.

Ich machte das Licht auf der Veranda aus und wollte gerade nach oben gehen um zu duschen, da tat es einen lauten Schlag an der Tür.

Es k lang, als hätte jemand etwas dagegengeworfen. Vielleicht einen v on den Kürbissen, die ich ausgehöhlt und auf die Stufen gestellt hatte. Ich

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schaute durch den Spion und sah einen Jungen. Zwei Jungen. Einen k annte ich v om Sehen, deshalb machte ich auf.

»Süßes oder Saures.«

Das haute sie um. Die beiden – sie waren nicht k ostümiert – bogen sich v or Lachen und hielten sich aneinander fest. Sie waren betrunk en.

»Seid ihr C lowns?« fragte ich.

»Nein, wir sind Gangster«, sagte der, der Kev in hieß, wie ich später erfuhr. Das löste eine neue Lachsalv e aus. Sie hatten Kopfk issenbezüge dabei, randv oll mit Süßigk eiten: der Beweis für einen langen, erfolgreichen Halloween-A bend. W as bedeutete, dass niemand ihnen das Handwerk gelegt hatte. Und da wundern sich die Leute über die Jugend v on heute.

Jetzt waren die beiden jedenfalls an der falschen A dresse. »Dich k enne ich«, sagte ich und zeigte auf Terry . »Du wohnst in der Meadow Street. In dem weißen Haus an der Eck e. W eiß deine Mutter, was ihr, du und dein Freund, heute A bend treibt?«

»Klar«, sagte er. A ber er hörte auf zu lachen. Er hatte ganz rote W angen v on der k alten, feuchten Nachtluft, und seine Haare standen zu Berge. Damals war Terry fünfzehn, aber in seinen schlampigen, v iel zu großen Klamotten sah er jünger aus. W ie ein k leiner Junge, der sich v erk leidet hat.

Ich wandte mich brüsk an Kev in. »W o wohnst du?«

»Leland Street«, murmelte er und wich v or mir zurück . Ich habe immer so eine W irk ung auf Kinder, wenn ich streng bin. Ernüchternd.

(In diesem Fall im wahrsten Sinne des W ortes.) A ber nicht, weil ich sie einschüchtere, bestimmt nicht; ich habe so eine A rt, ihnen die Realität v or A ugen zu führen, wie ich sie sehe: v ernünftig.

»A uf welcher Seite der C onnecticut Road?«

»A uf dieser«, sagte Kev in.

»Gut.« Ich wollte nicht, dass er, betrunk en wie er war, die befahrene Straße überquerte. »Ihr geht jetzt sofort nach Hause. Und den A lk ohol lasst ihr hier.« Ich streck te die Hand aus.

Kev in machte ein Gesicht wie ein Baby , allerdings k ein besonders süßes. Er hatte fast eine Glatze und ein falsches Totenk opftattoo auf der W ange, eine A rt Nazilook , schätze ich. »Blöde Kuh«, sagte er, und:

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»Das Zeug hat sowieso Terry «, während er die Stufen

hinunterschwank te und Richtung Gehsteig tork elte. »Bis bald, T! W enn die alte Ziege weg ist!«

»Schön gesagt.«

Terry wich zurück und fiel gegen die Tür mit dem Fliegengitter. Er v ersuchte, unschuldig zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. »Kev ist ein A rschloch«, lallte er. »’schuldigung.« Der Kopfk issenbezug rutschte ihm aus den Fingern und schlug k rachend auf die Veranda.

Ich hob ihn auf. Unter den Süßigk eiten steck te eine fast leere Halbliterflasche W odk a. Ich rück te einen Kürbis beiseite und stellte die Flasche auf den Treppenpfosten.

»Schaffst du es allein bis nach Hause?«

»Logo.« A ber er rührte sich nicht v om Fleck , und nur seine v erdrehten Beine v erhinderten, dass er einfach wegrutschte.

Ich seufzte. »A lso gut, gehen wir.«

Ich fasste ihn am A rm, um ihn zum Gehen zu bewegen. W ir waren damals ungefähr gleich groß – jetzt ist er fast zwei Meter und stämmig –, aber ich war k räftiger, und so war es k ein Problem für mich, ihn beinahe zu tragen, als wir schwank end den leeren Gehweg entlangstolperten. Erst protestierte er, aber je näher wir seinem Haus k amen, desto stiller wurde er. Das Verandalicht war aus, sonst hätte ich v ielleicht bemerk t, dass Terry immer blasser und ganz grün im Gesicht wurde, und hätte die Schweißperlen gesehen, die v on seiner bartlosen Oberlippe tropften. A n der Haustür blieb er hinter mir stehen, als hätte er A ngst v or dem, was ihn erwartete.

Ich k lopfte. Isabel riss in Null Komma nichts die Tür auf, lächelte und hielt mir eine Schale mit Snick ers entgegen. Ich erk annte sie und erwiderte ihr Lächeln. Es war die sy mpathische ältere Frau, die ihren Beagle auf dem gleichen unbebauten Grundstück – wir nannten es den

»Hundepark « – ausführte, wo ich mit Lettice, meinem Spaniel, spazieren ging.

»Terry ?« Sie hatte ihren Sohn hinter mir entdeck t und runzelte v erwirrt die Stirn.

»Mom?« Eigentlich sagte er: »Mo –?« W enn er es geschafft hätte, rechtzeitig den Mund zuzumachen, wären meine Schuhe gerettet

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gewesen. A ber plötzlich erbrach er eine widerliche Mischung aus halbv erdauten M&Ms, Mars, Milk y W ay s und W odk a, und das meiste dav on landete auf meinen nagelneuen taubenblauen W ildlederschuhen v on Ferragamo.

Isabel schoss heraus. Direk t hinter ihr tauchte Gary auf. Ich weiß nicht mehr, was ich über ihn gedacht habe, als ich ihn das erstemal sah.

Nicht v iel – ihr Mann, älter als sie, k lein und untersetzt, unauffällig.

Schließlich k ümmerte er sich um Terry , und Isabel v ersorgte mich.

Seitdem habe ich tausendmal in ihrer Küche gesessen. Isabel ist ganz anders als meine anderen Freundinnen, und am A nfang k onnte ich mir nicht v orstellen, dass wir uns jemals näher k ommen würden, obwohl ich sie mochte. Sie war älter als ich, das war das eine, zwar nur acht Jahre, aber es k am mir v iel mehr v or. Isabel sagt, sie sei eine andere Generation, aber ich glaube, es ist noch was anderes. Manche Menschen wissen v on Geburt an Dinge, die andere ihr Leben lang zu lernen v ersuchen. Und sie sah sov iel älter aus. Ihr Haar hatte graue Strähnen, und sie hatte es zu einem Pferdeschwanz

zusammengebunden. A usgerechnet zu einem Pferdeschwanz! Sie hatte überhaupt k ein Modebewusstsein. (Ich habe ihr im Lauf der Jahre geholfen, ihren Stil zu finden.) Trotzdem war sie wunderschön. Sie sah aus wie eine alternde Madonna – ich meine nicht die Sängerin. Das war 1987, da hatten die wirk lichen Probleme noch gar nicht angefangen, aber schon damals lag etwas Trauriges in Isabels Gesicht. Und

Heiterk eit, ein inneres Leuchten, das mir immer wieder außergewöhnlich v ork ommt.

Und ich ... nun, ich war v oll auf damit beschäftigt, halbtags zu unterrichten, gab jede Menge Kurse und schrieb an meiner Dok torarbeit in Erziehungswissenschaften, aber ich war trotzdem ein bisschen einsam. Ich brauchte ein bisschen ... Mütterlichk eit. Nicht, dass ich k eine Mutter hätte. Oy , und was für eine, wie mein Mann immer sagt. Ich meine, ich fing an, mich nach einem Baby zu sehnen.

Emma sagt, ich weiß nicht, was Ironie ist, aber ich glaube, genau das ist die Definition. A ußer Isabel hat k eine v on uns Kinder, und die einzige, die welche will, bin ich. Und bei mir k lappt es nicht. Dazu k ommt – und auch das ist Ironie des Schick sals –, dass ich glaube,

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Isabel und ich sind die geborenen Mütter, doch beide hatten wir ziemlich k alte Eltern. Ich sterbe v or Sehnsucht danach, Mutter zu sein, bemuttert zu werden. Und sie bemuttert jeden, aber wer bemuttert sie?

Doch wenn ich es mir recht überlege, hat es v ielleicht gar nichts mit Ironie zu tun. Vielleicht ist es nur traurig.

Sie überredete mich, meine Strumpfhose aus- und ein Paar saubere Sock en – v on Terry – anzuziehen, und sie gab mir einen Becher heißen Punsch, während sie meine Schuhe im W aschbeck en ihrer Gästetoilette säuberte. A ls sie zurück k am, haben wir uns lange und gut unterhalten.

Sie wollte alles über mich wissen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihr v on den Schwierigk eiten erzählt habe, in die meine Brüder als Teenager regelmäßig v erwick elt waren, und dass sie sich beide zu – wie man so schön sagt – Stützen der Gesellschaft entwick elt haben. Das habe ich gesagt, damit sie sich nicht allzu v iele Sorgen machte, dass Terry auf die schiefe Bahn geraten k önnte. Ich blieb nicht lange, aber als ich ging, dachte ich noch, dass sie v iel mehr über mich erfahren hatte, als ich über sie.

A m nächsten Tag k am Terry v orbei, entschuldigte sich sehr lieb und brachte mir eine Einladung zum A bendessen. So fing alles an. Isabel und ich wurden Freundinnen. W enn wir uns nicht gegenseitig besuchten, führten wir die Hunde zusammen spazieren, spielten Tennis oder erk undeten die Umgebung. Ich weinte mit ihr, als Terry beschloss, aufs C ollege nach Montreal zu gehen. Sie hörte sich jede Kleinigk eit über das lange, schüchterne W erben meines Mannes an. Nachdem sie Gary v erlassen hatte, wohnten sie und Grace drei W ochen in meinem Gästezimmer, und als sie Krebs bek am, war es, als hätte ich ihn. Ich k ann mir k aum noch v orstellen, wie mein Leben war, bev or ich Isabel k ennen lernte.

Ungefähr ein Jahr nach Terry s Halloween-Esk apade saßen wir auf dem Linoleumboden und rieben die Hunde nach ihrem letzten Bad im Sommer trock en. »Leah Pav lik «, sagte Isabel, »du v erbringst zu v iel Zeit mit mir in dieser Küche. Du solltest an die frische Luft gehen und mit Mädchen in deinem A lter spielen.« »Du solltest rausgehen und mit Mädchen in meinem A lter spielen«, erwiderte ich. W ir lachten, und dann – ich weiß nicht mehr, wer was sagte, aber ehe wir’s uns v ersahen,

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sprachen wir dav on, eine Frauengruppe zu gründen.

Mein Leben lang hatte ich immer v iele Freundinnen, und ich gebe zu, dass ich gerne organisiere. In der fünften oder sechsten Klasse habe ich einen C lub nur für Mädchen gegründet. W ir trafen uns immer in unserem Keller. Und in der High School war ich Vizek apitän der C heerleader und später Erste Vorsitzende der Studentenv erbindung im C ollege. A ber seit ich nach W ashington gezogen bin, habe ich, außer Isabel, nicht v iele neue Freundinnen dazugewonnen. Die Idee, eine Frauengruppe zu gründen, fand ich wunderbar. Es sollte weder ein Literaturk reis noch eine politische oder eine feministische Gruppe werden. Nur Frauen, die wir mochten und schätzten und v on denen wir etwas lernen k onnten. W ir wollten uns ab und zu treffen, um über Dinge zu reden, die uns interessierten. Eine ganz bescheidene Tagesordnung. W ir hatten k eine A hnung, dass wir gerade die ersten Samen für einen wunderschönen Garten gesät hatten. Das stammt v on Isabel, nicht v on mir. Jahre später sagte sie, wir hätten gesundes Gemüse für die Grundv ersorgung und zauberhafte Blumen für die Freuden gezogen. Ich fragte sie, was ich dav on wäre, und war mir sicher, sie würde sagen, ein gesundes Gemüse, aber sie sagte, ich wäre beides. »W ir sind alle beides, du Dummk opf«, waren ihre W orte.

Die ersten Eindrück e. A ls es die Gruppe ein Jahr gab, machten wir einmal zum Thema (mein Vorschlag), was wir alle übereinander gedacht hatten – diejenigen, die sich noch nicht gek annt hatten –, als wir uns zum erstenmal trafen. Ich machte den A nfang und erzählte, dass ich gedacht hatte, Emma sähe aus wie jemand aus der Kunstszene, eine Rock sängerin zum Beispiel. (Eher ein v erblassender Rock star, meinte ich eigentlich, weil Emma manchmal so eine blasierte, gelangweilte A rt an den Tag legt. In W irk lichk eit ist sie ganz und gar nicht abgek lärt, und ich habe nie v erstanden, warum es so wichtig für sie ist, immer cool zu wirk en.) Jedenfalls war sie begeistert, dass ich fand, sie sähe aus wie eine Rock sängerin. Sie wollte wissen, wem sie ähnelte, und mir fiel Bonnie Raitt ein –, weil beide so ein hübsches, mark ant geschnittenes Gesicht haben und (auch das muss angemerk t werden) v on Zeit zu Zeit denselben leicht arroganten A usdruck . A uch die Haare waren ähnlich – lang, rotblond und, um es milde auszudrück en, selbst gesty lt. (Ich

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würde Emma für mein Leben gern Harold, meinem Friseur, v orstellen, aber sie sagt, dass sie k eine Zeit hat.)

Rudy und Emma sagten beide, dass sie Isabel auf A nhieb mochten, sie fanden sie wunderbar, wenn auch v ielleicht ein bisschen altmodisch und eine Spur k onserv ativ . »Damenhaft, aber im positiv en Sinn«, meinte Emma, und Rudy fügte hinzu: »Nein, mütterlich.« Ich erinnere mich noch, dass Isabel bei dem ersten Treffen eine rote Leinenschürze trug – sie hat sie den ganzen A bend anbehalten, hat sie einfach v ergessen.

Daran sieht man, dass sie überhaupt nicht eitel ist. A ber k onserv ativ ? Nein. Nein, nein. Das ist der beste Beweis, wie falsch und ungenau der erste Eindruck sein k ann.

Isabel sagte, Rudy sei eine der schönsten Frauen, die sie je zu Gesicht bek ommen hat, und natürlich stimmten Emma und ich ihr zu. W ir anderen sind durchschnittlich attrak tiv , meiner Meinung nach. A ber Rudy ist etwas Besonderes. Sie fällt auf; wir k önnen nirgendwo hingehen, ohne A ufmerk samk eit zu erregen. Sie hat eine Haut wie ein Engel, die Figur eines Topmodels, glänzendes blauschwarzes Haar, das immer so sitzt, wie sie es will. W enn sie nur ein bildschönes Gesicht hätte, k önnte man sie v ielleicht hassen, aber hinter ihren k lassischen Zügen v erbirgt sich sov iel Süße, sov iel Unschuld und Verletzlichk eit, dass sie in jedem den Beschützerinstink t weck t. Jeder möchte Rudy retten – v or allem Männer, sagt sie. A ber, so leid es mir tut, bis jetzt ist es noch k einem gelungen.

A ls die Reihe an mir war, behauptete Emma, ich sähe auch aus wie ein Rock star. W ie wer denn, fragte ich beflissen. (Ein alternder Beau hat mir einmal gestanden, ich erinnerte ihn an Marie Osmond; ›die Kluge‹, hatte er gesagt.) A ber Emma sagte: »Sinéad O’C onnor.« W as? »Oh, nicht wegen der Glatze, obwohl deine Haare damals ziemlich k urz waren, Lee.

Eher wegen deiner humorlosen, rechthaberischen A rt.« Na v ielen Dank ! Ich war beleidigt, aber Emma fügte hinzu: »Nein, Sinéad O’C onnor ist wunderbar – hast du nie ihre A ugen bemerk t?« Nein. »Sie ist wunderschön, Lee, das sollte ein Kompliment sein.« A ch wirk lich? Das bezweifle ich. W ie auch immer, ich sehe Sinéad O’C onnor k ein bisschen ähnlich. Ich sehe aus wie meine Mutter: k lein, drahtig, dunk elhaarig und ausdruck sv oll. Und ich bin nie rechthaberisch, obwohl es stimmt,

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dass ich meistens recht habe.

Sov iel zu den ersten Eindrück en.

A ls ich Henry heiratete, ging mir durch den Kopf, dass ich die Gruppe in Zuk unft v ielleicht nicht mehr so sehr brauchen oder dass meine Begeisterung nachlassen würde und ich nicht mehr sov iel Zeit und Energie haben würde. Nichts v on alledem geschah. Es gab eine Zeit v on sieben oder acht Monaten, in der ich so darauf fixiert war, mit Henry zu schlafen, dass mein Bewusstsein fast gar nichts anderes mehr registrierte, aber das war ein allgemeines Phänomen und hatte nichts mit den Rettenden Engeln zu tun

Emma und Rudy k onnten sich während dieser Zeit k östlich über mich amüsieren. Ich weiß nicht, wofür die beiden mich hielten, bev or ich Henry k ennen lernte – für prüde wahrscheinlich. W as ich nicht bin und auch nie war. Zufällig fluche ich nicht und behalte manche

Überlegungen lieber für mich, anstatt sie herauszuposaunen. Oder wenn, formuliere ich sie so, dass sie für gewisse Leute altmodisch, ja beinahe wunderlich k lingen. Und als ich Henry k ennen lernte und meine bek anntermaßen v ernünftigen und phantasielosen Gedank en nur noch um Sex k reisten, fanden sie das natürlich zum Totlachen.

Ich hätte ihren Späßen ein Ende bereiten k önnen, wenn ich einfach den Mund gehalten hätte, aber irgendwie k onnte ich nicht aufhören, darüber zu reden. W ahrscheinlich spielten meine Hormone v errück t. So was war mir noch nie in meinem Leben passiert, und ich war

siebenunddreißig. A n einem Donnerstag A bend machte ich den Fehler, der Gruppe zu erzählen, wie Henry in seinem blauen Ov erall aussah.

A uf der Brusttasche prangte in Gold sein Name, und quer über dem Rück en stand PA TTERSON & SOHN HEIZUNG & SA NITÄ R. Und er trug einen W erk zeuggürtel. Einen W erk zeuggürtel. W er wusste schon, was das war? Rudy und Emma behaupteten, sie wüssten alles über W erk zeuggürtel – ich spreche über diese ultimativ en männlichen Reize, diese unwiderstehliche Kombination aus Sexualität und der

offensichtlichen Fähigk eit, Probleme zu lösen –, und sogar Isabel gab zu, dass der Zusammenhang nichts Neues für sie war. Ich frage mich, wo ich bis dahin gelebt habe. Dann machte ich einen noch größeren Fehler. Ich erzählte ihnen, wie er das erstemal in mein Haus k am (nur

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um eine v erstopfte Toilette zu reparieren; da hatte ich ihn noch nicht beauftragt, die alten Rohre zu erneuern und neue Heizk örper zu installieren) und er mir in einem Buch für Installateure ein Diagramm zeigte, mit dessen Hilfe man genau erk ennen k onnte, wo das Problem lag und wie man es beseitigen k onnte. »Das gehört zum Serv ice«, erk lärte er mir mit seiner tiefen Stimme und dem aufregenden Südstaatenak zent. »Ein informierter Kunde ist ein zufriedener Kunde.«

Er hatte die Ä rmel hochgek rempelt, und in der Sonne, die durch das Badezimmerfenster hereinschien, leuchtete jedes einzelne Haar golden auf seinen – in diesem Fall k ann man wirk lich sagen, sehnigen – Unterarmen. Man muss das Diagramm sehen, um zu v erstehen, was ich meine, aber glauben Sie mir, die Zeichnung dieses »Klosettbohrers«, der sich seinen W eg durch die lange Röhre in die engen Tiefen des schräg nach hinten v erlaufenden Überlaufrohres der Toilette bahnt, sah genauso aus, wirk lich genauso, wie ein Penis in der Vagina einer Frau.

Sie k önnen sich v orstellen, was für W itze ich über meinen

»Rohrv erleger« in den letzten v ier Jahren ertragen musste.

Und noch eine Ironie am Rande. Zusätzlich zu der k laren, befreienden Lust, die ich für Henry beinah v om ersten A ugenblick an empfand, wusste ich genau, dass er der wunderv ollste Vater der W elt sein würde.

Meine Gene schreien geradezu nach seinen Genen, sagte ich immer schmunzelnd. Zusammen würden wir süße jüdisch/protestantische, intellek tuell/tatk räftige Baby s haben (wobei die intellek tuelle Seite v on meinem Vater stammt, nicht v on mir; mein Vater lehrt Quantenphy sik an der Univ ersität, und meine Mutter ist Börsenmak lerin). A ber bis heute stehen die Baby -A k tien nicht besonders gut. Irgend etwas scheint mit dem Rohr meines Rohrv erlegers nicht zu stimmen. Oder liegt es an mir?

Sie wissen es nicht.

Ich v ersuche, nicht an das Schlimmste, was uns zustoßen k ann, zu denk en: Kinderlosigk eit. So ein v erzweifeltes W ort. Bis jetzt habe ich es noch nie mit mir in Verbindung gebracht. Ich k omme mir lächerlich v or, wegen all der Jahre, in denen ich die Pille genommen, Schaum, eine Spirale oder ein Diaphragma benutzt und sk rupellos dafür gesorgt habe, dass auch ja nichts passiert.

Es ist mir gelungen, meine schlimmsten Ä ngste v or der Gruppe zu

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v erbergen, besser jedenfalls als meine ach so amüsante Libido, aber lange werde ich das wahrscheinlich nicht mehr durchhalten. Und warum sollte ich? Um das Bild v on der nüchternen, v ernünftigen Lee mit dem k ühlen Kopf, das sie v on mir haben, nicht zu zerstören, v ermute ich.

A ber Isabel weiß es sowieso schon. W ie immer. Einmal hat sie mir gesagt, dass sie die Scheidung, den Krebs, die C hemotherapie ohne mich nie überstanden hätte – was sehr nett, ja ty pisch für sie ist, aber es stimmt nicht. Doch in meinem Fall wird es so sein. W enn das Schlimmste geschieht, wenn Henry und ich k eine Kinder bek ommen k önnen, werde ich das ohne Isabel nicht ertragen.

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3

RUDY

Ich weiß nicht, warum sich meine Freundinnen mit mir abgeben. Ich würde v or mir dav onlaufen. A ber sie sind immer so geduldig und hilfsbereit. Sie legen ihren A rm um meine Schulter und sagen: »Mensch, Rudy , du machst das wirk lich gut.« Das ist ein Kode; ich meine, bis jetzt hat mich noch niemand in eine Zwangsjack e gesteck t, also muss es mir ja gut gehen. Das stimmt schon, aber ich habe immer das Gefühl, ich sollte auf Holz k lopfen, wenn sie das sagen.

W as ich niemandem erzähle, nicht einmal Emma, die glaubt, sie weiß alles über mich, ist, was für eine Rolle Trimipramin und Valium für mein geistiges W ohlbefinden spielen. Und dav or Protripty lin und A lprazolam.

Und Meprobamat. Ich k önnte noch v iele Psy chopharmak a aufzählen.

Niemand weiß das, außer C urtis, meinem Mann, und Eric, meinem Therapeut. Über alles andere rede ich offen, über das Desaster in meiner Familie, die Jahrzehnte, die ich in Therapien v erbracht habe, meine Kämpfe gegen Melancholie, Depression und Manie. Die halbe W elt nimmt Tranquilizer und A ntidepressiv a, das schock t niemanden mehr.

Es ist k eine Schande, wie Emma es formulierte, mit Hilfe v on C hemie besser drauf zu sein.

A ber ich behalte es für mich. Ich will, dass meine Freundinnen glauben, dass das, was ich tue, wie ich mich benehme, echt ist. Das ist es auch – aber wenn sie v on meiner geheimen A rmee v on

Psy chopharmak a wüssten, wäre alles, was ich tue, »wegen der Medik amente«, egal ob es richtig oder falsch ist. A n mir wäre nichts mehr authentisch. In ihren Köpfen gäbe es k eine echte Rudy .

Ich weiß jetzt schon, wie sie reagieren werden, wenn ich ihnen erzähle, was ich heute gemacht habe: Emma wird lachen, Isabel wird mitfühlend sein und mich trösten, und Lee wird es missbilligen (sanft).

Und alle werden sie denk en: W as haben die sich auch dabei gedacht, als sie sie eingestellt haben? A ber nicht v or ihrem Urteil habe ich A ngst.

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Sondern v or C urtis’.

Passiert ist folgendes: Man hat mich bei der Krisen-Hotline

rausgeschmissen. Zu meiner Schande muss ich hinzufügen, dass ich nur eine W oche dort war. Mrs. Phillips, meine Superv isorin, sagte, ich sei im Gespräch mit einer A nruferin zu persönlich geworden und hätte die Richtlinien absolut übertreten. Ich weiß, dass ich falsch gehandelt habe, ich weiß, dass es Regeln geben muss, aber wenn dieses Mädchen – Stephanie – noch einmal anriefe, würde ich es wieder tun.

Man hat uns erk lärt, dass man am A nfang v orsichtig sein soll, und ich hatte bereits mehrere Teenager am Telefon gehabt, die mir einen Streich gespielt haben. A ber Stephanies junge, dünne, angespannte Stimme hat sie so schnell v erraten. Ich war mir bereits nach ein paar Minuten sicher, dass das k ein Spiel war.

»Krisen-Hotline, mein Name ist Rudy . Hallo? Hier spricht Rudy – wer ist denn da?«

»Hallo, ja. Ich – äh – ich rufe für eine Freundin an.«

»Hallo. Ok ay . W ie heißt deine Freundin?«

Lange Pause. »Stephanie.«

»Stephanie. Hat Stephanie ein Problem?«

»Ja, das k önnte man sagen. Sie hat ’ne Menge Probleme.«

»Eine Menge? Gut, welches ist das größte? W elches macht sie am unglück lichsten?«

»O Gott, ich weiß nicht. Sie weint v iel. Verstehen Sie, über alles mögliche. Ihre Familie, ihre Freunde.«

»W as stimmt denn nicht mit ihrer Familie?«

Schniefen. »A lles.«

Ich wartete.

»A lso ihre Mutter, die ist eine Katastrophe.«

»W arum?«

Schweigen.

»W arum ist sie eine Katastrophe?«

Keine A ntwort.

»Ich wette, sie trink t zu v iel.«

»W as?«

»Trink t Stephanies Mutter zu v iel?«

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»O Mann, ja, tut sie – haben Sie das jetzt geraten?«

»Na ja, meine Mutter trink t auch. Ja, ich schätze, ich habe einfach geraten.« W arum habe ich das gesagt? W arum?

»W irk lich? Dann ist sie A lk oholik erin? Meine Mutter ist total abhängig, es ist so schreck lich, und ich weiß nicht, wie ... Oh, Scheiße.«

»Nein, warte, das ist schon ok ay . Hey , Stephanie? Hör zu, es ist ok ay , wirk lich. Ungefähr neunzig Prozent der Leute, die hier anrufen, erzählen erst mal, dass sie für einen Freund oder eine Freundin anrufen.

A ber weißt du was? Ich finde es gut – wahrscheinlich würdest du doch auch für eine Freundin anrufen, so nett, wie du bist.« (Normalerweise rede ich nicht so; ich meine, nicht mit dieser Stimme. A ber egal, mit wem ich bei der Hotline spreche, es passiert – passierte – mir immer wieder, dass ich in den Tonfall meines Gesprächspartners v erfalle. Mrs. Phillips war der Meinung, das sei eine meiner besten Strategien – bev or sie mich gefeuert hat.)

»Kann sein«, sagte Stephanie sk eptisch.

»Nein, wirk lich, das bist du, das weiß ich.«

»W ie alt sind Sie?«

»Ich? Einundv ierzig.«

Spöttisches Schnauben. »A ha. Und was wissen Sie über Ä ngste v on Teenagern?«

»Ä ngste v on Teenagern.« Ich lachte, und Stephanie fing an mitzulachen – dachte ich, aber dann merk te ich, dass sie weinte.

»O Mann ...« Ich hörte, wie ihre Finger über den Hörer strichen – gleich würde sie auflegen.

Hastig sagte ich: »Ja, meine Mutter war A lk oholik erin, sie hat v ersucht, sich umzubringen, als ich zwölf war. A ls ich elf war, hat mein Vater sich umgebracht.«

Langes Schweigen. Ich hatte v iel Zeit, darüber nachzugrübeln, warum mir das herausgerutscht war. Ich wusste, dass es gegen die Regeln v erstieß, aber in dem A ugenblick ist mir nichts anderes eingefallen, um sie daran zu hindern aufzulegen.

Egal, es funk tionierte. Sie begann zu reden. »Meine Mutter ... fast jeden Tag, wenn ich aus der Schule k omme, ist sie besoffen. Oder sie k otzt. Und ich muss mich um sie k ümmern. Ich k ann niemanden mit

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nach Hause bringen, deshalb habe ich k eine Freundin. Doch, eine Freundin habe ich. Jill. A ber sie ist nicht ... Verstehen Sie, ihr k ann ich nicht erzählen, was los ist, deshalb ...«

»Ich weiß, wie das ist. Ich hatte als Kind auch k eine Freunde. A ber das war ein Fehler. Ich habe diesen Fehler gemacht.«

»W ie meinen Sie das?«

»Na ja, ich meine, ich habe mir das selbst angetan, weil ich mich immer so geschämt habe. A ls wäre ich diejenige, die das Problem hat.

A ber hör mir zu, Stephanie, du hast nichts getan, du k annst nichts dafür. Du bist ein Kind. Du hast es nicht v erdient, dass dir so etwas geschieht.«

Da brach sie in Tränen aus. Und ich auch. Eine ganze W eile k onnten wir beide nichts sagen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, an dem Punk t hat sich Mrs. Phillips eingeschaltet.

»A ber das ist im Moment gar nicht das Schlimmste«, fuhr Stephanie fort, als sie wieder sprechen k onnte. »Obwohl es irgendwie immer da ist, v erstehen Sie?«

»Ich weiß.«

»A ber jetzt ist es was anderes, v iel ...«

»W as, Stephanie? W as?«

»O Gott.« Sie fing wieder an zu weinen. Ich wartete einfach. Ich weinte jetzt auch, aber leise. Ich dachte an Eric, meinen Therapeuten.

Er weint nie, egal wie sehr ich in seiner Praxis zusammenbreche. Und doch ist er nie k alt oder unbeteiligt – o nein, eher das Gegenteil. A ber er weint nicht. Und das ist gut so. Mein Gott, irgend jemand muss ja die Übersicht behalten.

A lso v ersuchte ich, mich für Stephanie zusammenzureißen. »W as ist geschehen?« fragte ich sie schließlich. »Ich weiß, dass es etwas Schlimmes ist.«

»Es ist schreck lich. Ich hab was getan.«

»Mit einem Jungen?«

Verblüfftes Schweigen. Dann: »A ch Mist.«

Ich musste wieder lachen. »Mach dir k eine Gedank en, ich habe nur mal wieder geraten. W as hast du getan? W enn du willst, k annst du es mir erzählen.«

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»Sind Sie v erheiratet? W ie heißen Sie noch mal?«

»Rudy . Ob ich v erheiratet bin? Ja.«

»W ie lange?«

»Viereinhalb Jahre, fast fünf.«

»Dann waren Sie siebenunddreißig?«

»Ja. A lt«, sagte ich, ehe sie es sagen k onnte. Ich wusste genau, was sie dachte.

»Haben Sie schon mal etwas getan ... mit einem Jungen ...«

»W ofür ich mich nachher geschämt habe?«

»Ja.«

Es ist uns nicht erlaubt, Geschichten aus dem eigenen Leben zu erzählen. W ir sollen zuhören und Fragen stellen und die A nrufer an eine geeignete Hilfsorganisation weiterleiten. A lso sagte ich – und ich fand es wirk lich nicht so tragisch: »Steph, ich habe Dinge mit Männern gemacht, die ich nicht mal meinem Therapeuten erzähle.«

Sie lachte nerv ös, aber erleichtert auf. »Heißt das, Sie gehen zu einem Psy chiater?«

»Er heißt Eric Greenburg. Ich werde dir seine A dresse geben. Er ist drüben in Mary land.«

»Hey , warten Sie ...«

»Nein, schreib sie dir auf. Für alle Fälle.« Ich gab ihr auch die Telefonnummer. Ich glaube, sie hat sie aufgeschrieben. Ich brauche nicht zu sagen, dass auch das zu den Dingen gehört, dir wir nicht dürfen.

»Ok ay «, sagte Stephanie und räusperte sich. »Da ist dieser Ty p aus meinem Mathek urs. Er heißt George, aber alle nennen ihn Spider Man.

Ich weiß nicht, warum. Ich mag ihn nicht mal besonders, ich meine, er ist nicht mein Freund oder so, aber er war gestern A bend mit ein paar anderen Ty pen in diesem Eink aufszentrum, und ich war mit Jill dort. W ir haben ein bisschen geredet, und dann hat Spider gesagt, wir sollen doch mit rausk ommen zu seinem A uto, da hat er so’n Zeug, und wir k önnten was rauchen. Jill hat gesagt, k ommt nicht in Frage, wir gehen, und – na ja, das war wirk lich ziemlich blöd v on mir – ich habe gesagt, sie soll doch gehen, aber ich würde bleiben.«

»Hmm.«

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»Dann ist sie gegangen, und ich bin mit Spider und zwei anderen Ty pen auf den Park platz gegangen, und wir haben gek ifft.«

»Hmm.«

»Ich hab schon mal geraucht, ich meine, es war nicht das erstemal oder so. Vielleicht lag es an meiner Stimmung oder so. Und ...«

»Du wolltest nicht nach Hause gehen.«

»Genau.«

»W olltest etwas erleben. A usbrechen.«

»Ja. O Gott, Rudy .«

»Ich weiß. Dann...«

»Dann wissen Sie, was ich danach getan habe?«

»Ich k ann es mir v orstellen. W ie war es?«

Sie k icherte – aber dann fing sie wieder an zu weinen. Mein Telefon steht auf einem Tisch, der auf drei Seiten in Kinnhöhe v on einer W and aus Plexiglas umgeben ist. W enn ich nicht beobachtet werden will, muss ich mich zusammenk auern und mein Gesicht prak tisch auf die

Tischplatte legen. Ich stützte den Kopf in die Hände. Stephanie hörte nicht auf zu weinen. »Es ist nicht schlimm. Es ist nicht schlimm. Es ist alles in Ordnung«, sagte ich wieder und wieder. »Du bist immer noch du selbst. Du bist immer noch Stephanie.«

»Es war schreck lich, Rudy , es war so schreck lich. Mann, und ich mag ihn nicht einmal. Und er wird es allen erzählen, all seinen Freunden, und dann ...«

»Na und? Du bist nicht so, und du weißt das. Vergiss sie.«

»Jill redet nicht mehr mit mir!«

»Sie ist wahrscheinlich sauer, aber ...«

»Nein, sie hasst mich, meine beste Freundin hasst mich.«

»Nein, das tut sie nicht.«

»Doch, sie hasst mich.«

»Sie ist v erwirrt und sie ist sauer auf dich, aber sie hasst dich nicht, Steph. Ist sie wirk lich deine beste Freundin? Seit wann?«

»Seit der fünften Klasse. Seit v ier Jahren.« Sie sagte das so, wie ich v ierzig Jahre sagen würde. »W as soll ich jetzt tun?«

»Ich schätze, du musst mit ihr reden.«

»Sie wird nicht mit mir reden. Und ich k ann es ihr sowieso nicht

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erzählen.«

»Doch, das k annst du. Du hast es mir erzählt. Es ist v erdammt schwer, aber es geht.«

»Ich k ann nicht. Sie ist so anständig. Und gut. Sie war immer gut.

Manchmal denk e ich, wenn ich eine Schwester hätte, wäre alles nicht so schlimm. Oder einen Bruder, irgend jemanden.«

»Das muss nicht unbedingt so sein.«

»Ich meine, wenn ich eine Schwester oder so hätte, gäbe es wenigstens jemanden, mit dem ich den ganzen Mist teilen k önnte.«

»Das sollte man meinen.«

»Ich glaube, es wäre v iel leichter. A lles. Sie wissen schon, die Einsamk eit und überhaupt ...«

Da tat ich es wieder. Ich sagte: »A lso, ich will dir was sagen. Ich habe Geschwister, und sie haben alles nur noch schlimmer gemacht. A ls ich so alt war wie du.«

»Das v erstehe ich nicht.«

»Du fühlst dich doch wie ein Versager, weil deine Mutter trink t?«

»Ja.«

»Nun – überleg mal, wie es wäre, wenn du eine Schwester oder einen Bruder hättest und auch noch ihretwegen das Gefühl hättest, ein Versager zu sein. Plötzlich musst du dir nicht nur um einen Menschen, sondern um drei Sorgen machen. Ich will nur sagen, dass mit Geschwistern nicht in jedem Fall alles besser wird.«

»Trotzdem wünschte ich, ich hätte welche.«

W arum k onnte ich es nicht einfach so stehen lassen? »Hör mal, Stephanie – C laire, meine Schwester, ist mit achtzehn v on zu Hause weggelaufen. Da war ich sechzehn. Sie ist einer Sek te beigetreten. Da ist sie immer noch.«

»Nein.«

»Doch. Bei dieser Sek te v erehren sie Katzen, weil sie glauben, dass Katzen direk te Nachk ommen v on Jahwe sind. Katzen.«

»Von wem?? Jahwe?«

»Gott – Jahwe heißt Gott.«

Stephanie brach in schallendes Gelächter aus.

»Das ist k ein W itz. Und das ist nur eines der Dinge, an die sie glauben.

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Und mein Bruder A llen ist sowieso v erloren. Er ist ziemlich abgedriftet.

Das ist meine Familie, Steph. Mein Vater hat sich umgebracht, und meine Mutter säuft, meine Schwester ist Mitglied einer Sek te, und mein Bruder ist eine v erlorene Seele – und hier bin ich, an diesem Krisentelefon, und benehme mich wie ein ganz normaler Mensch! Nein – hör zu ...« Sie k icherte immer noch. »Ich glaube, als erstes sollest du Dr. Greenburg anrufen und dann Jill. W eil du sie jetzt wirk lich brauchst.«

»Ja, aber ich weiß nicht ...«

W enn der Superv isor sich einschalten will, beginnt am Telefon ein k leines rotes Lämpchen zu blink en. Die A nweisung lautet, den A nrufer in die W arteschleife zu legen und herauszufinden, was der Superv isor will. Mein rotes Licht blink te seit zwei Minuten.

»Ich denk e, du solltest Jill einfach anrufen. Ich würde es tun, wenn ich du wäre. Magst du sie wirk lich?«

»Ja, ich glaube schon.« Sie fing wieder an zu weinen. Jetzt schluchzte sie richtig. W as für einen Nerv hatte ich diesmal getroffen?

»Hey , Stephanie, beruhige dich. Komm, Baby , alles wird gut, schsch.

Du bist in Ordnung.« Das rote Lämpchen blink te hek tisch.

»Rudy ?«

»W as ist, Kleine?«

»Geht es Ihnen heute wirk lich gut?«

»Ja, es geht mir richtig gut.«

Es ist erlaubt zu lügen. Und wenn nicht, sollte es erlaubt sein.

»A ber ... was ist mit Ihrer Mutter?« fragte Stephanie mit zittriger Stimme.

»Sie k ommt zurecht. W ir haben es beide überlebt. Sie wohnt mit meinem Stiefv ater in Rhode Island, und manchmal telefonieren wir.« Ich musste ihr ja nicht erzählen, dass ich sie seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen habe. Seit meiner Hochzeit. »Sie sagt, dass es ihr leid tut.

Einmal hat sie das gesagt.«

»W irk lich?«

»Ja. Das bedeutet mir v iel.«

»Gott, Rudy .« Sie seufzte. »Das k lingt, als wäre Ihre Familie noch k aputter als meine. Oh, tut mir leid – darf ich das sagen?«

Süße Stephanie. »Meine Familie, Steph, ist eine Katastrophe. W enn ich

(31)

anfange, dir dav on zu erzählen, k ommst du morgen zu spät zur Schule.« Kichern am anderen Ende der Leitung. Sie war mir so sy mpathisch. »Hey , wohnst du in der Stadt?«

»Ja, am Tenley C ircle. Ich gehe in die W ilson High School.«

»W eißt du was? W enn du Lust hast, k önnen wir uns mal treffen und miteinander reden. W illst du? Es ist nur so eine Idee...«

»Ja, gute Idee. Vielleicht an einem Samstag?«

»Samstag wäre super. Mein Mann arbeitet normalerweise am Samstag, wir k önnten uns zum Mittagessen treffen ...«

»A ch, Mist, ich hab ganz v ergessen, dass Sie v erheiratet sind.«

»Ja, ich bin v erheiratet.«

»Und? Ist das cool?«

»Verheiratet zu sein? Ziemlich cool. Du weißt schon. Meistens.«

»Ja, meistens.« Ihre Stimme sank um eine ganze zy nische Ok tav e. Es brach mir das Herz.

»A lso«, sagte ich, »wie wär’s mit nächstem Samstag? Sollen wir uns treffen?«

»Das wäre...«

Klick .

»Hallo? Steph? Stephanie? Hallo?«

Ich starrte den stummen Hörer in meiner Hand an. A n meinem Telefon blink ten sechs oder sieben grüne Lämpchen, die anzeigten, dass auf anderen Leitungen Gespräche geführt wurden. Hatte man Stephanie mit einem anderen Ehrenamtlichen v erbunden? Ich drück te wahllos auf einen Knopf.

»... mein coming out zu diesem Zeitpunk t war v öllig unpassend, und diese Tunte wusste das...«

Klick .

»Mrs. Lloy d.«

Ich fuhr hoch. Mrs. Phillips nannte mich nie ›Mrs. Lloy d‹ – ich sagte Mrs. Phillips zu ihr, und sie nannte mich Rudy . Sie ist schwarz, groß und wunderschön wie ein Statue, und sie jagt mir schreck liche A ngst ein.

Drohend stand sie hinter mir, schwer und einschüchternd wogte ihr großer Busen über meinem Kopf. Ich k onnte nichts anderes tun, als v oller Schuldbewusstsein, wie ein unartiges Kind, zu ihr heraufstarren.

(32)

»Mrs. Lloy d, legen Sie den Hörer auf, holen Sie Ihre Sachen, und v erschwinden Sie aus diesem Büro.«

»W arten Sie, ich weiß, dass ich ...«

»Raus.« Sie zeigte aus dem Fenster auf die Straße. Ihre lack ierten Fingernägel waren bestimmt zwei Zentimeter lang, sie trug Unmengen Ringe und k limpernde A rmbänder. Sie erinnerte mich an eine Göttin, eine A mazone.

»Bitte, Mrs. Phillips, k ann ich bitte nur noch zwei Minuten mit dem Mädchen reden. Ich glaube, sie ...«

»Hören Sie«, sagte sie ungläubig, »Sie sind gefeuert. W as denk en Sie sich eigentlich?« Sie war nicht ungehalten, sie war fuchsteufelswild. Bis jetzt hatte ich noch nie gehört, dass sie die Stimme hob.

»Mrs. Phillips, ich habe einen Fehler gemacht, das weiß ich, und ich werde es nie wieder ...«

»W ir sind ein Dienstleistungsunternehmen, Mrs. Lloy d. Glauben Sie, wir sind Ihre Therapeuten?«

»Nein, ich ...«

»Sie k önnen v on Glück sagen, wenn ich k eine A nzeige gegen Sie erstatte.«

»Eine A nzeige!«

A lle meine A lpträume wurden wahr. Lassen Sie Ihre W ut zu, sagt Eric immer – aber wenn ich jetzt wütend war, saß die W ut zu tief, v ergraben unter einem Berg v on Schuld und Gewissensbissen, Elend und Kränk ung. Das hier war – es war das k lassische Versagen in meinem Leben.

A rme Stephanie, warf ich mir auf dem Heimweg v or. W as würde jetzt aus ihr werden? W enn sie nun zu Spider Man zurück ging? W enn ich sie doch nur irgendwo finden k önnte – sie wohnte am Tenley C ircle, ging in die W ilson High School, sie war fünfzehn...

W ie k am ich nur auf die Idee, dass ich ihr helfen k önnte? Die ganze Zeit hatte ich nur v on mir geredet, hatte ihr v on meiner trink enden Mutter erzählt, meiner k aputten Familie. Mrs. Phillips hatte v öllig recht.

Ich v erdiente die Schmach v oll und ganz.

Und ich würde noch mehr Schande ertragen müssen. Die schlimmste Strafe stand mir noch bev or. Sobald ich v ersuchte, C urtis alles zu

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erk lären.

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