• Keine Ergebnisse gefunden

DIE «MOBILMACHUNG DER MATERIE» —

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "DIE «MOBILMACHUNG DER MATERIE» —"

Copied!
9
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Wenn von Kreisläufen gesprochen wird, dann wird ein Doppeltes unterstellt:

zum einen, dass Dinge oder Stoffe in einer Bewegung begriffen sind, zum an- deren, dass diese Bewegung wieder an ihren Anfang zurückkehrt. Doch die Stoff strommetaphern und Kreislaufkonzepte und -bilder blenden in der Regel ab oder aus, dass Dinge und Stoffe erst einmal von Menschen in jene ‹Bahnen›

gebracht und gehalten werden müssen, die dann idealisierend als Kreisbahnen beschrieben werden.1 Daher zitiert der Titel dieses Aufsatzes den Begriff der Mo- bilmachung oder des In-Bewegung-Setzens. Der Begriff der Mobilmachung der Materie lässt von vornherein an machtbestimmte soziale Kontexte denken, in- nerhalb derer jenes In-Gang-Bringen bzw. In-Marsch-Setzen sich abspielt. Die Rede von ‹Stoffströmen› suggeriert hingegen ein Naturgeschehen. Stoffe wer- den jedoch im Anthropozän häufig in Handlungszusammenhängen mobilisiert;

sie werden von bestimmten Kollektiven in bestimmten politischen Lagen herge- stellt, gehandelt, transportiert, gebraucht und weggespült. In aller Regel müssen weitere Stoffe eingesetzt werden, z. B. Treibstoffe, damit jene Bewegungen auch stattfinden können. Kein Stoff bewegt sich isoliert, es werden immer mehr oder weniger zahlreiche Stoffe mitmobilisiert, deren Bewegungen aber in der Regel unerwünscht, oft auch unvorhergesehen sind. Zudem entfalten alle Stoffe eigene Aktivitäten, von denen nur ein Teil prognostizierbar ist und die erst recht jeder Kreismetaphorik spotten. Daher gilt es, jenes Mobilmachen und seine toxischen Auswirkungen, die sich in Fördergruben und Deponien materialisieren, gegen- über den idealisierten Vorstellungen des Recyclings deutlich zu machen – hierfür bietet es sich an, die stofflichen Bewegungen in Stoffgeschichten darzustellen.

Stoffgeschichten

Stoffe 2 werden dabei nicht als naturwissenschaftliche Objekte, sondern als All- tagsphänomene verstanden, mit denen alle Menschen umgehen, zumindest, aber nicht nur, beim Essen und Trinken. Beispiele sind Wasser, Salz, Mehl, Zucker usw.

1 Vgl. zur ähnlichen Metapher vom ‹Verkehrsfluss› Hugo Caviola und Andrea Sabine Sedlaczek:

Grenzenlose Mobilität und fließender Verkehr. Eine kritische Sprachreflexion, in: Gaia, Nr. 3, 2020 (im Erscheinen).

2 Jens Soentgen: Das Unscheinbare.

Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden, Berlin 1997. Siehe jetzt die kurze Übersicht in ders.: Konfliktstoffe. Über Kohlendioxid, Heroin und andere strittige Substanzen, München 2019 (Stoff- geschichten Bd. 11), 18 – 23.

J E N S S O E N T G E N

DIE «MOBILMACHUNG DER MATERIE»

Stoffströme und Stoffkreisläufe aus Sicht

der stoffgeschichtlichen Forschung

(2)

3 Um eine mündlich häufig ver- wendete Formulierung des Chemi- kers Armin Reller aufzugreifen, dem die stoffgeschichtliche Forschung wesentliche Impulse verdankt.

4 Darauf hat zuerst der Chemiker František Wald hingewiesen. Vgl.

František Wald: Die Genesis der stöchiometrischen Grundgesetze II, in: Zeitschrift für physikalische Chemie, Nr. 19, 1896, 607 – 624, hier 616 f.

5 Die Klärung des Geschichten- begriffs ist eine schwierige Aufgabe, obwohl dieser bereits in der älteren Phänomenologie, nämlich der Ge- schichtenphilosophie von Wilhelm Schapp, ausführlich diskutiert wur- de, vgl. Wilhelm Schapp: Philosophie der Geschichten, Leer 1959. Erst der Germanist und Sprachphilosoph Wilhelm Köller hat aber, aufbauend u. a. auf Schapp, die besonderen kognitiven Leistungen der Darstel- lungsfunktion von Geschichten klar unterschieden von begrifflichen Darstellungen. Siehe die gründliche und wichtige Abhandlung von Wilhelm Köller: Narrative Formen der Sprachreflexion, Berlin 2006.

Identität zu verlieren. Teilt man zum Beispiel ein Stück Schokolade in zwei Portionen, ist das Resultat immer noch Schokolade. Zerreißt man hingegen ein Ding, etwa ein Buch, in der Mitte, erhält man nicht zwei Bücher, sondern ein zerrissenes Buch bzw. ‹Papier›.

Doch das Merkmal der Portionierbarkeit macht nur die eine, die bekann- te Hälfte des Stoffbegriffs aus. Durch eine phänomenologische Analyse lässt sich nämlich aufdecken, dass Stoffe zugleich immer Eigenaktivität entfalten.

Sie verteilen sich von selbst in der Welt, mischen sich unter die Welt, und sie verwandeln sich auch sehr leicht, transformieren sich. Stoffe haben also nicht nur Eignungen, durch die sie in menschliche Handlungspläne restlos einge- fügt werden können, sondern sie haben auch Neigungen, in ihnen steckt eine autonome Aktivität, die sich zwar für eine Weile stillstellen, aber nie restlos ausschalten oder kontrollieren lässt. Dieser Aspekt ist wie erwähnt rein phä- nomenologisch nachweisbar, aber er lässt sich natürlich auch mit naturwissen- schaftlichen Theorien, insbesondere mit der Thermodynamik, in Verbindung bringen. Die Eigenaktivität der Stoffe hat mindestens zwei Aspekte. Sie führt dazu, dass nicht nur Menschen etwas mit Stoffen, sondern auch umgekehrt Stoffe etwas mit Menschen machen.3 Die Stoffe sind nicht separiert, sondern fast immer vermischt, verschmolzen oder verbunden mit anderen. Man kann sie isolieren, aber der sauber präparierte Stoff im Glas ist nur ein aufwendig hergestelltes Kunstprodukt, nicht von ‹Natur aus da›.4 Wo immer uns reine Stoffe gezeigt oder verkauft werden, seien dies Eisen, PVC, Gold, Silber, Platin, Kupfer oder Salz, ‹reine Baumwolle›, ‹reine Seide› oder auch medizinische Präparate, können wir sicher sein, dass neben jeden Krümel, Fussel oder Trop- fen eines solchen reinen Stoffes ein Eimer Abluft, Abwasser, Abfall und Abraum hingestellt werden könnte, der bei der Produktion anfiel. Schon die Alltagser- fahrung lehrt uns, dass ganz reine, isolierte Stoffe kaum vorkommen, auch kla- res Wasser enthält Kalk und Luft, wie man sofort sieht, wenn man es erwärmt.

Wo es Stoffe gibt, da haben sie die Neigung, sich miteinander zu vermischen, zu verbinden. Die stoffliche Welt ist ein unauflösliches Gewühl und Gewim- mel, welches in ständiger Umbildung begriffen ist, man kann keinen einzelnen Stoff herauslösen, ohne dabei unvermeidlich viele weitere mitzubewegen. Iso- liert bleiben die Stoffe immer nur für eine Weile, da in ihnen eine anarchische Wanderlust steckt – sowie sie können, verteilen sie sich, verkrümeln sich förm- lich, versickern und verdunsten in die Luft, in den Boden; dringen in Körper ein, gelangen in die Nahrungsketten. Stoffe sind gesellige Wesen, immer bereit sich zu mischen und zu verteilen.

Was ist gemeint, wenn wir von Geschichte oder von Geschichten im Plu- ral sprechen? Eine Geschichte ist die erzählende Darstellung von Hand- lungszusammenhängen.5 Geschichten sind das wohl älteste Medium der Dar- stellung und Vermittlung von Wissen. Vergleicht man sie mit begrifflichen,

(3)

theorieförmigen Darstellungsweisen, dann lässt sich zeigen, dass Geschichten zwar weniger präzise sind, aber dafür eine höhere Integrationskraft haben.

Sie sind daher das Medium der Wahl, wenn es um Synthesen, wenn es um die Darstellung vielschichtiger Sachverhalte geht. Zugleich beziehen sie die Hörer_innen stärker mit ein, auch emotional; sie sprechen den ganzen Men- schen an, nicht nur den Verstand.6 Für den eigentlich analytischen Aspekt der stoffgeschichtlichen Forschung ist neben dem Begriff der Eigenaktivität der Begriff der Handlung zentral. Gemeint sind Handlungen wie deuten, in- terpretieren, prospektieren, herstellen, tauschen oder verkaufen, nutzen und konsumieren, gesetzlich regulieren, verbrennen, vergraben, verklappen. Es können dabei die Handlungen einer_s Einzelnen gemeint sein, aber auch kol- lektive Handlungen, Handlungen also, an denen der_die Einzelne teilnimmt oder die er_sie mit anderen gemeinsam durchführt.7 Immer sind diese Hand- lungen sozial, denn Handlungen kann es nur innerhalb einer Handlungsge- meinschaft geben. Handlungen treten nicht isoliert auf, darauf verweist die Rede vom Handlungszusammenhang. Die eingehende Analyse von Handlun- gen (und Unterlassungen) individueller oder kollektiver Akteur_innen, die bei der Herstellung, beim Handel, bei der Nutzung und Entsorgen von Stoffen beteiligt sind, zeigt, dass die ‹Stoffströme›, die in vielen Darstellungen gera- dezu naturalisiert, meist von Süd nach Nord verlaufend dargestellt werden,8 immer gesellschaftlich vermittelt sind.

Handlungen sind es also, die in den Stoffgeschichten im Mittelpunkt stehen, Handlungen in ganz konkreten sozialen Kontexten, in bestimmten historischen Situationen, Handlungen von individuellen oder kollektiven Akteur_innen, die auf Grundlage benennbarer Motive und Situationsinterpretationen tätig wer- den.9 Oft können diese Handlungen erst im historischen Abstand hinreichend präzise aufgearbeitet werden.

Die Stoffe selbst sind keineswegs jene neutralen Massen, als die sie noch in den neueren, nach wie vor sehr einflussreichen kulturwissenschaftlichen Studien Arjun Appadurais auftauchen.10 Vielmehr wirken sie zurück, werden selbst zu Akteuren. Diese Eigenaktivität der Stoffe kann etwas sein, mit dem von vornherein gerechnet wird, sie kann aber auch den Handelnden oder, sogar häufiger, Unbeteiligten widerfahren.11 Die Phänomene, mit denen sich Stoffge- schichten beschäftigen, sind nicht einfache ‹Ströme›, sondern riesige, historisch gewachsene Kooperationszusammenhänge, Netzwerke von Handelnden, Un- beteiligten, von Ökosystemen und von Stoffen, die sich ihrerseits keineswegs darauf beschränken, abzuwarten, was die Menschen tun, sondern selbst aktiv werden, wenn sie auch nicht im eigentlichen Sinne Handelnde sind. Dieses Kooperationsnetzwerk wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass jede zielge- richtete Handlung Nebenwirkungen hat, die teilweise erwünscht oder toleriert, jedenfalls aber vorhergesehen sind; die sich vielfach aber auch unvorhergesehen und unerwünscht einstellen und die sich vom eigentlich gewollten Ergebnis der Handlung häufig nicht abtrennen lassen.12

6 Vgl. ausführlich Soentgen:

Konfliktstoffe, 209 – 224.

7 Siehe die Unterscheidung von Teilnahmehandlungen und gemeinschaftlichen Handlungen bei Peter Janich: Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001, 44 f.

8 Vgl. hierzu kritisch Kijan Espahangizi: Stofftrajektorien. Die kriegswirtschaftliche Mobilmachung des Rohstoffs Bor, 1914 – 1919 (oder:

was das Reagenzglas mit Sultan Tschair verbindet), in: ders., Barbara Orland (Hg.): Stoffe in Bewegung.

Beiträge zu einer Wissensgeschichte der materiellen Welt, Zürich 2014, 173 – 208, hier 204.

9 Zum Handlungsbegriff gibt es eine reichhaltige Literatur. Siehe neben der bereits zitierten Arbeit von Janich auch die klare Darstellung von Panayotis Kondylis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozial- ontologie, Berlin 1999, insbesondere 437 – 480.

10 Siehe Soentgen: Konfliktstoffe, 39 – 44.

11 Die Kategorie des Widerfahr- nisses hat zuerst Wilhelm Kamlah in die Handlungstheorie eingeführt.

Siehe darauf aufbauend Janich:

Logisch-pragmatische Propädeutik, 37 f.

12 Hierzu ausführlich, im Anschluss an Eduard Spranger, Soentgen: Konfliktstoffe, 45 – 51.

JENS SOENTGEN

(4)

Wichtig ist bei alledem die entscheidende Feststellung, dass auch Stoffe ih- rerseits etwas tun, wenn auch nicht intentional, dass sie eine ständig spürbare Eigenaktivität entfalten, die sich beschreiben lässt und die ihrerseits mensch- liche Handlungspläne durchkreuzt, überholt und sabotiert. Die FCKW etwa diffundieren in die Atmosphäre und entfalten in der Stratosphäre unvorherge- sehene Wirkungen. Erdöl, das aus einem havarierten Tanker ausläuft, verteilt sich von selbst über die Meeresoberfläche. Auch dies ist eine Eigenaktivität, die zudem durch eine Selbsttransformation ergänzt wird, denn das Öl wird mit der Zeit klebriger. Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele finden. Die- ses Mit- und Gegeneinander von stofflicher Eigenaktivität und menschlichen Handlungen und Deutungen ist ein entscheidender Teil der Dramaturgie sehr vieler Stoffgeschichten. Nach nunmehr ungefähr 20 Jahren stoffgeschichtlicher Forschung darf man wohl sagen, dass es sich um ein produktives Forschungs- programm handelt, das längst nicht mehr nur in Augsburg verfolgt wird.13 Dies unterscheidet den stoffgeschichtlichen Ansatz möglicherweise vorteilhaft etwa vom New Materialism,14 bei dem eine gewisse Kluft zwischen den sehr allge- meinen Theorieansätzen über matter einerseits und konkreten Studien zu die- sen oder jenen Materien andererseits besteht.

Der stoffhistorische Ansatz ist zwar wissenschaftlich, aber nicht diszipli- när. Wissenschaftlich ist er, weil die Begriffe wissenschaftlich geklärt werden und die Aussagen zu den Handlungskontexten, in die dieser oder jener Stoff eingebunden ist, empirisch, etwa durch Archivstudien, ethnologische Studien oder Augenzeugenberichte, abgesichert sind und weil zudem Stoffgeschichten durch ihre synoptische Zusammenschau zwei zentrale wissenschaftliche Funk- tionen erfüllen, nämlich Erklären und Vorhersagen. Stoffgeschichten können erklären, weshalb Substanzen an diesen oder jenen Stellen zu dieser oder jener Zeit auftauchen, z. B. das Mikroplastik am Strand oder das DDT in der Leber des Weißwales (Beluga). Sie erklären dies, indem sie bestimmte Handlungen und Unterlassungen im Zusammenhang mit der Eigenaktivität der Substanz darstellen, kurz: indem sie die Geschichte des Stoffes erzählen. Wenn man aber die Geschichte eines Stoffes kennt, ist man in der Lage, und sei es nur recht allgemein und für eine bestimmte Zeit, vorherzusagen, wie es mit ihm weitergehen wird.15

Man kann die stoffgeschichtliche Forschung, wenn man will, sub- oder su- perdisziplinär nennen. Ich würde vorziehen, sie transdisziplinär zu nennen. Da- bei schließe ich an Jürgen Mittelstraß an, der den Begriff der Transdisziplinari- tät geprägt hat. Mittelstraß sieht in der Transdisziplinarität eine Vertiefung der Interdisziplinarität und kennzeichnet sie als Forschungsprinzip: «Transdiszi- plinarität […] stellt, und sei es auch nur in bestimmten Problemlösungszusam- menhängen, die ursprüngliche Einheit der Wissenschaft – hier als Einheit der wissenschaftlichen Rationalität, nicht der wissenschaftlichen Systeme verstan- den – wieder her.»16 In einer neueren Publikation betont Mittelstraß, mit Blick auf die inzwischen sehr umfangreiche Literatur zur Transdisziplinarität, es gehe

13 Siehe etwa das DFG-Netzwerk

«Stoffgeschichte», gepris.dfg.de/gepris/

projekt/416706624?context=projekt

&task=showDetail&id=416706624&

(28.2.2020).

14 Vgl. hierzu Ulrike Tikvah Kissmann, Jost van Loon (Hg.):

Discussing New Materialism, Berlin u. a. 2019; darin v. a. Reiner Keller:

New Materialism? A View from The Sociology of Knowledge, 151 – 169.

Vgl. zum Begriff der Materialität auch Jens Soentgen: Materialität, in: Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert, Hans Hahn (Hg.):

Handbuch Materielle Kultur. Bedeutun- gen – Konzepte – Disziplinen, Stuttgart 2014, 226 – 230.

15 Zur Geschichte und Zukunft des Kohlendioxids auf dieser Grundlage siehe Jens Soentgen:

Am Ende des Zwei-Grad-Ziels. Für ein neues Denken im Klimadiskurs, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, Bd. 74, Nr. 849, 2020, 22 – 33.

16 Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissen- schaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt / M. 1989, 77.

(5)

im Begriff der Transdisziplinarität nicht um ein Theorie- oder Methodenprinzip, sondern um ein durch die Wissenschaftsentwicklung selbst nahegelegtes For- schungsprinzip, das dort wirksam wird (werden sollte), wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist beziehungsweise wo die wissenschaftliche Arbeit über derartige Definitionen hin- ausgeführt wird.17

Dem Wissen, das die stoffgeschichtliche Forschung erarbeitet und erzählend vermittelt, fehlt die disziplinäre Spezialisierung, ähnlich wie auch die mensch- liche Hand nicht-spezialisiert, aber eben dadurch vielfältig einsetzbar ist.

Analog eignet sich der transdisziplinäre Charakter der Stoffgeschichten ganz besonders für produktive interdisziplinäre Projekte,18 die sich dann, wie das Beispiel der Ressourcenstrategie zwischen Geografie und Ökonomie zeigt,19 zu neuen disziplinären Forschungslinien verstetigen können. Stoffgeschichten bleiben also anschlussfähig an disziplinäre Forschung und können zudem dis- ziplinäre Konzepte integrieren und auch neue Theorie- und Konzeptentwick- lungen anstoßen. Resultat ist, zumindest idealerweise, kein buntes Nebenein- ander von disparaten Begriffen und Informationen, sondern eine integrierte Geschichte, wie etwa in dem Buch des Schweizer Wissenschaftshistorikers Christian Simon über das DDT.20

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Stoffgeschichten analysieren (1) die historisch gewachsenen Handlungszusammenhänge, durch die Stoffe gezielt oder ungezielt auf den Weg gebracht wurden und werden, sie berücksichtigen (2) die Eigenaktivität der Stoffe, die Teil dieser Handlungszusammenhänge ist, diese trägt, aber oft auch durchkreuzt, und sind (3) ein transdisziplinärer For- schungsansatz, der (4) seine Ergebnisse als integrierte Geschichte darstellt.

Mit Blick auf die Rolle toxischer Mobilisierungen und Im-Mobilisierungen im Anthropozän ist mit diesem Forschungsansatz eine doppelte Präzisierung möglich. Zum einen lässt sich aufgrund der Eigenaktivität der Stoffe zeigen, dass jede Stoffmobilisierung immer von unbeabsichtigten Co-Mobilisierun- gen, oft sogar von toxischen Mobilisierungen begleitet wird, die dann auf- wändige und meist nur für begrenzte Zeit erfolgreiche Versuche der Still- stellung, der Im-Mobilisierung dieser unbeabsichtigt in Bewegung gesetzten Substanzen herbeiführen. Zum anderen hat das methodische Prinzip der Stoffgeschichten, die Handlungen (und Unterlassungen) konkret benennba- rer Akteur_innen in deutlich bestimmbaren politischen Situationen herauszu- arbeiten, den aufklärenden Effekt, dass die Herrschaftskontexte am Rand der vermeintlich friedlich, isoliert und geräuschlos dahinfließenden ‹Stoffströme›

sichtbar werden.

Diese Besonderheiten der stoffgeschichtlichen Forschung möchte ich ver- deutlichen, indem ich von Beschreibungen des russischen Chemiker Vladimir Vernadsky und seiner Schule ausgehe. Vernadsky, dessen Familienname in latei- nischer Transliteration oft auch als Vernadskij oder Wernadski wiedergegeben wird, gilt als wichtigster Vordenker der modernen Anthropozänforschung.

17 Jürgen Mittelstraß: Forschung und Gesellschaft. Von theoretischer und praktischer Transdisziplina- rität, in: Gaia Nr. 2, 2018, 201 – 204, hier 201.

18 Siehe etwa die Projekte zu Stickstoff und Kohlendioxid.

Gerhard Ertl und Jens Soentgen (Hg.): N – Stickstoff. Ein Element schreibt Weltgeschichte, München 2015. Jens Soentgen und Armin Reller (Hg.): CO2 – Lebenselexier und Klimakiller, München 2009.

In Planung ist derzeit ein Projekt zum Phosphor.

19 Vgl. Armin Reller, Luitgard Marschall, Simon Meißner, Claudia Schmidt (Hg.): Ressourcenstrategien.

Eine Einführung in den nachhaltigen Um- gang mit Ressourcen, Darmstadt 2013.

20 Christian Simon: DDT. Kultur- geschichte einer chemischen Verbindung, Basel 1999.

JENS SOENTGEN

(6)

Die Mobilisierung der Stoffe in der industriellen Moderne

Die Bewegung von Stoffen auf planetarer bzw. globaler Ebene wurde von Vernadsky, der den modernen Begriff der Biosphäre geprägt hat, in den 1930er Jahren untersucht.21 Vernadsky fragte sich, durch welche Prozesse Substanzen aller Art auf der Erde in Bewegung gesetzt werden. Er stellte fest, dass es in der bisherigen Evolution neben dem Wasser vor allem die lebenden Organismen auf der Erdoberfläche sind, die für Stoffbewegungen und Stofftransformatio- nen sorgen. Er schreibt: «Wir kennen in der Biosphäre zwei wichtige Quellen für die Beweglichkeit der chemischen Elemente: die lebende Substanz und die natürlichen Gewässer.»22

Doch dann kommt mit der Industrialisierung etwas Neues hinzu. In dem Kapitel über die «Geochemische Betätigung der Menschheit», das sich gegen Ende der vom Autor erweiterten deutschen Übersetzung seines Werkes Geo- chemie aus dem Jahre 1930 findet, identifiziert er einen neuen geologischen Faktor, nämlich die Menschheit:

In der jetzigen geologischen Epoche – dem Psychozoikum, in der Ära des Geis- tes – kommt ein neuer Faktor von allergrößter geochemischer Bedeutung hinzu.

Die geochemische Betätigung der Menschheit hat sich in den letzten Jahrtausen- den vermittelst des die grüne lebende Substanz erfassenden Ackerbaus in außeror- dentlichem Maße und in mannigfaltiger Weise entwickelt. Und diese geochemische Betätigung wächst vor unseren Augen auch weiterhin mit unglaublicher Geschwin- digkeit. Der Einfluss des Geistes und des kollektiven Verstandes des Menschen tritt in den geochemischen Prozessen immer deutlicher zutage. […] In früheren Zeiten beeinflussten die Organismen nur die Geschichte derjenigen chemischen Elemente, die zu ihrem Wachsen, ihrer Ernährung, Atmung sowie Vermehrung erforderlich waren. Der Mensch hat diese Grenze erweitert, indem er in seinen Kreis auch noch solche Elemente mit einbezog, die für die Technik und zur Aufrechterhaltung und Entwicklung zivilisierter Lebensbedingungen nötig sind.23

Vernadsky spricht nicht vom Anthropozän; dieses Wort hat erst der Atmosphä- renchemiker Paul Crutzen 2002 popularisiert.24 Ebenso wie Crutzen weist Ver- nadsky aber bereits auf das zentrale Merkmal dieser neuen geologischen Epoche hin, dass nämlich durch die menschliche Tätigkeit immer mehr Stoffe in die Welt und in Bewegung gesetzt werden. Zuvor waren, wie gesagt, in der Ge- schichte des Planeten das Wasser einerseits und die Lebewesen andererseits die- jenigen Agenten, welche Stoffe bewegt und umgebildet haben. Nun tritt eine neue Kraft hinzu. So fährt Vernadsky fort:

[V]on diesem Einfluss der Menschheit werden alle chemischen Elemente betroffen.

Er verändert die Geochemie sämtlicher Metalle und läßt neue Verbindungen entste- hen, und zwar in Mengen, die der Größenordnung nach denjenigen der Mineralien und Naturprodukte gleich kommen. Diese Tatsache ist für die Geochemie aller Ele- mente von außerordentlicher Bedeutung. Zum ersten Mal können wir in der Ge- schichte unseres Planeten neue Verbindungen sich bilden sehen; es handelt sich also um eine noch nie dagewesene Wandlung im Antlitz der Erde.25

21 Vgl. zur Biosphäre (und auch zum Konzept der Noosphäre) die sehr gute Dissertation von George Levit: Biogeochemistry – Biosphere – Noosphere. The Growth of the Theoretical System of Vladimir Ivanovich Vernadsky, Berlin 2001.

22 Vladimir Vernadsky: Geochemie in ausgewählten Kapiteln, Leipzig 1930, 74 f.

23 Vernadskij: Geochemie, 231.

24 Paul Crutzen: Geology of man- kind, in: Nature, Nr. 415, 2002, 23.

25 Vernadskij: Geochemie, 231.

(7)

Wenn auch der geologische Epochenbegriff des Anthropozäns erst mit den Pu- blikationen des Nobelpreisträgers Paul Crutzen, der sich übrigens auf Vernadsky bezieht, größere Popularität erlangte, kann man also sehr wohl feststellen, dass dieses Konzept bereits in den 1930er Jahren klar formuliert worden war.26 Ver- nadskys Diagnose steht dabei übrigens keineswegs isoliert, vielmehr finden sich mehrere parallele Skizzen, die ähnlich sind, etwa Ernst Jüngers Überlegungen zur totalen Mobilmachung, die bekanntlich erheblichen Einfluss auf das ge- schichtsphilosophische Denken Martin Heideggers hatten.27 Jünger prägte die treffende Formulierung einer «Mobilmachung der Materie», die der «parallel laufenden Mobilmachung des Menschen» entspricht.28 Diese Mobilmachung hat, wie er sagt, «planetarische Dimension»,29 bezieht sich also auf den gesamten Globus. Diese «totale Mobilmachung» ist bei Jünger ein destruktiver Prozess, weil sie «alles zerstört, was sich dieser Mobilmachung widersetzt».30

Deponien und Lager

In direkter Linie von Vernadsky herleiten lassen sich die Beschreibungen der pla- netaren Wirksamkeit des Menschen durch den Geochemiker Alexander Fersman, der ein Schüler Vernadskys war und dessen mineralogische Kompetenz für die Ressourcenversorgung der stalinistischen Sowjetunion erhebliche Bedeutung hat- te. Was bei Vernadsky abstrakt abgehandelt wird, das wird bei Fersman deutlich konkreter besprochen. In einem populärwissenschaftlichen Buch zur Geochemie, dessen deutsche Übersetzung erst nach seinem Tode publiziert wurde, konkre- tisiert Fersman die Gedanken von Vernadsky an einem anschaulichen Beispiel.

Ausgangspunkt ist das «sowjetische Automobil SIS 110», eine sowjetische Limousine, die ab 1946 gebaut wurde und mit folgenden Worten beschrieben wird: «Hier besteht […] eine Verbindung von Atomen, die lediglich zu dem Zweck vereinigt worden sind, einen unermüdlichen, starken, geräuschlosen und schnellen Wagen zu liefern. 3000 Einzelteile aus 65 Atomarten und mehr als 100 Metallsorten: das ist der ‹SIS 110›».31

Fersman erklärt, dass hier keinesfalls eine natürliche oder auch nur naturnahe Nutzung vorliegt, denn er selbst sagt: «In der Erde sind vor allem die leichten Elemente verbreitet: fünf von ihnen – Sauerstoff, Silizium, Aluminium, Eisen und Calcium – machen 91 Prozent der Erdrinde aus. Wenn man noch sieben hinzunimmt – Natrium, Kalium, Magnesium, Wasserstoff, Titan, Chlor und Phosphor – dann machen diese zwölf Elemente zusammen 99,51 Prozent aus.

Auf die übrigen 80 Elemente entfallen demnach gewichtsmäßig noch nicht ein- mal 0,5 Prozent.»32 Die menschliche Versammlung der 65 Atomarten in der sowjetischen Limousine hat in der Natur keine Parallele. Fersman wischt daher die natürliche Verteilung der Atome beiseite:

Diese Verteilung gefällt dem Menschen aber nicht recht; hartnäckig sucht er nach den Elementen, die selten anzutreffen sind, entreißt sie der Erde unter manchmal unwahrscheinlich großen Schwierigkeiten, erforscht auf jede Art und Weise ihre

26 Zu weiteren Vorläufern siehe Hermann Häusler: Did anthropo- geology anticipate the idea of the Anthropocene?, in: The Anthropocene Review, Bd. 5, Nr. 1, 2018, 69 – 86.

Vernadsky selbst bezieht sich u. a.

auf Georges-Louis Leclerc de Buffon.

27 Zu Jüngers Essay «Die totale Mobilmachung» vgl. zuletzt Oliver Müller: Selbst, Welt und Technik. Eine anthropologische, geistesgeschichtliche und ethische Untersuchung, Berlin 2014, 129 – 134. Siehe auch Søren Riis: Zur Neubestimmung der Technik.

Eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, Tübingen 2011, 96.

28 Ernst Jünger: Der Arbeiter, in:

ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8, Stutt- gart 1963 [1932], 9 – 329, hier 186.

Vgl. Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, 374 f.

Vgl. Uwe-K. Ketelsen: «Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Vorausset- zungen.» Zu Ernst Jüngers ‹Die totale Mobilmachung› (1930) und ‹Der Arbeiter› (1932), in: Hans-Harald Müller und Harro Segeberg (Hg.):

Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, Mün- chen 1995, 77 – 95. Jüngers Begriff wurde u. a. von Peter Sloterdijk aufgegriffen.

29 Jünger: Der Arbeiter, 239.

30 Ebd., 166.

31 Alexander Fersman: Unterhalt- same Geochemie, Berlin 1953. Das rus- sische Original muss vor 1945 – dem Todesjahr Fersmans – entstanden und publiziert worden sein.

32 Ebd., 32.

JENS SOENTGEN

(8)

Eigenschaften und nutzt diese aus, wo es ihm als notwendig und zweckmäßig er- scheint. Deshalb befinden sich im Automobil auch Nickel, von dem es in der Erde nur zwei hundertstel Prozent gibt, Kobalt, das mit einem tausendstel Prozent vertre- ten ist, Molybdän, dessen Anteil weniger als ein tausendstel Prozent ausmacht, und sogar Platin, von dem es nur zwölf milliardstel Prozent gibt! 33

Wir hatten gesehen, dass Fersman einen heroischen Umgang mit Stoffen be- obachtet und feiert, der «die Materie» scheinbar vollkommen einem hochdy- namischen menschlichen Willen unterwirft. Vernadsky ist vorsichtiger, jedoch sieht auch er in den menschlichen Eingriffen in die natürlichen Stoffströme die Vorzeichen eines kommenden Zeitalters der Vernunft und des Geistes, das er in Analogie zur Biosphäre als Noosphäre bezeichnet.34

Fersman konkretisiert diese Gedanken: «Überall gibt es Atome, und der Mensch ist ihr Gebieter! Mit mächtiger Hand ergreift er sie, mischt sie, wirft die weg, die er nicht braucht, verbindet diejenigen, die er benötigt …»35

Vom Standpunkt der Stoffgeschichten wäre hier zu fragen, wer dieser

«Mensch» eigentlich ist. Oder anders: Innerhalb welcher Handlungskontex- te, in welchen sozialen Ordnungen sind es welche Menschen, die diese Atome

«ergreifen»? Hier kommen wir zu einem grundsätzlichen Punkt: Alle Prozes- se des Mobilmachens und Herstellens geschehen im Rahmen von bestimmten sozialen und politischen Handlungskontexten.36 In diesen kann es so sein, dass diejenigen, die mit Hacke und Schubkarre an der Mobilmachung der «Atome», die Fersman feiert, beteiligt sind, vollkommen entrechtet sind.

Und damit stößt man auf eine Realität, die Fersman, und nicht nur er, aus- blendet. Tatsächlich wurden die meisten jener Atome in der Stalinzeit von der

«mächtigen Hand» hungernder und frierender Sklavenarbeiter_innen gebor- gen, die in den verschiedenen Lagern des Gulag, insbesondere in Magadan und an der Kolyma, inhaftiert waren. Wie es dort zuging, hat der russische Schrift- steller Varlam Schalamov, der selbst 18 Jahre lang in solchen Lagern arbeitete, eindringlich beschrieben:

Die Kolyma brachte schon Gold, die Leitung bekam schon Orden. All diese Milliarden Kubikmeter gesprengter Felsen, all diese Straßen, Auffahrten und Wege, der Bau von Waschvorrichtungen, die Errichtung von Siedlungen und Friedhö- fen – all das wurde von Hand geschaffen, mit Schubkarre und Hacke.37

Es war gerade nicht eine «mächtige Hand», sondern es waren vor Hunger zittern- de, von Ekzemen übersäte, erfrierende, bisweilen an die Schubkarren angekettete Hände, die die Arbeiten vollbrachten. Die Handlungskontexte jener historischen Mobilisierungen der Materie sind nicht nur in der dokumentarischen Prosa Scha- lamows beschrieben, sie sind heute auch in der umwelthistorischen Forschung aufgearbeitet.38 Und es hat nicht den Anschein, dass es sich hier nur um ferne Ver- gangenheiten handelt. Auch heute noch sind ähnliche Lager Realität,39 wie man an den Kontexten, in denen in der Demokratischen Republik Kongo das High- Tech-Metall Kobalt bzw. dessen Erz gefördert wird, sehen kann.40

33 Ebd., 32 f.

34 Vladimir I. Vernadskij: Einige Worte über die Noosphäre, in:

ders.: Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft, hg. von Wolfgang Hofkirchner, Frankfurt / M.

1997, 239 – 249, hier 247.

35 Fersman: Unterhaltsame Geochemie, 33.

36 Grundlegend dazu Heinrich Popitz: Technisches Handeln, in:

ders.: Phänomene der Macht. Autori- tät – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1992, 160 – 185, hier 164 f.

37 Warlam Schalamow: Die Schubkarre II, in: ders.: Die Aufer- weckung der Lärche. Erzählungen aus Kolyma 4, Berlin 2012, 383 – 403, hier 403.

38 Siehe Paul Josephson u. a.: An Environmental History of Russia, Cam- bridge 2013, insbesondere 100 – 106.

39 Vgl. auch die umstrittene These von Giorgio Agamben, für den das Lager der «nomos» der Moderne ist. Giorgio Agamben: Homo sacer.

Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 2005, 185.

40 Siddarth Kara: Is your phone tainted by the misery of the 35,000 children in Congo’s mines?, in:

The Guardian, 12.10.2018, www.the guardian.com/global-development/2018/

oct/12/phone-misery-children-congo- cobalt-mines-drc (25.5.2020).

(9)

Diese Tatsache weist erneut darauf hin, dass die Mobilmachung der Mate- rie zwar ein Prozess ist, der mit naturwissenschaftlichen Begriffen genauer be- schrieben werden kann,41 dass dabei aber methodische Vorsicht walten muss.

Abstrakte Begriffe wie ‹der Mensch›, der ‹im Anthropozän› in ‹Stoffkreisläufe›

eingreift, sind nur mit Vor- und Umsicht zu verwenden. Eine Umsicht, die im Diskurs eher die Ausnahme ist, die aber einzelne Autor_innen durchaus erken- nen lassen, insbesondere Paul Crutzen, der Wiederentdecker des Konzepts.

Gerade wenn man die Grundeinsicht von Vernadsky aufnimmt, dass wir in ei- nen neuen planetaren Zustand eingetreten sind, in dem Stoffe nicht nur, wie zuvor, hauptsächlich vom Wasser und von Lebewesen mobilisiert werden, son- dern dass inzwischen die kollektive Arbeit von Menschen immer mehr in die Migration der Substanzen eingreift, bleibt es wichtig, genau herauszuarbeiten, welche Akteur_innen 42 innerhalb welcher Handlungskontexte und Machtver- hältnisse tätig sind oder waren. Nur auf solcher Grundlage können dann auch Vorschläge für eine verbesserte Praxis gemacht werden, die über Konzepte wie das ‹Geoengineering› oder das ‹Stoffstrommanagement›, die die politische und kulturelle Dimension komplett ausblenden, hinausgehen.43

41 Vgl. Vaclav Smil: Making the Modern World. Materials and Demateri- alization, Chichester 2014.

42 Christophe Bonneuil, Jean-Baptiste Fressoz: L’événement Anthropocène, Paris 2013, 134 – 140.

43 Für ihre konstruktive, detail- lierte Kritik an einer früheren Version dieses Textes danke ich zwei anony- men Reviewer_innen, der Redaktion der Zeitschrift für Medienwissenschaft und Ute Tellmann.

JENS SOENTGEN

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Welche Auswir- kungen dies auf Entwicklungsländer haben wird, hängt maßgeblich von den Reaktionen der anderen Han- delsmächte, vor allem der Europäischen Union (EU) und

In ihren kostenfreien Informationsbroschüren und Mitgliedszeitschriften informieren die DGB­Gewerkschaften ihre Mitglieder laufend über aktuelle Sachthemen und bieten

haben informieren, damit der Personalrat die Interessen der Beschäftigten wahrnehmen und durchsetzen kann. Der Personalrat ist daher die beste Anlaufstelle, wenn es

Nachwuchstalente im Bereich elektronikbasier- ter Systeme (EBS) haben eine neue attraktive Option, interessante Dissertationsthemen im regen Austausch mit den EBS-Playern zu bear-

Ein unter Leitung der TU Graz entwickelter Euro- päischer Führerschein für Robotik und künstliche Intelligenz (KI) macht Menschen fit für die digita- le Zukunft.. Das Institut

Ganz besondere Verdienste um das Entstehen dieses Gebäudekomplexes erwarb sich Rudolf Gebauer, der 1955 an die Lehrkanzel für Ex- perimentalphysik der Technischen Hochschule

Wilhelm heyne, der von 1874 bis 1876 auch als selbstständiger Bauunternehmer tätig war, wurde 1876 als ordentlicher Professor für Wasserbau und enzyklopädie der

Gespendet wurde das Preis- geld aus dem großen Josef krainer-Preis, den die Rektoren der beiden NAWI Graz-Universitä- ten – Alfred Gutschelhofer und Hans Sünkel – letztes Jahr