der Forschungsbibliothek Gotha als Ausgangspunkt
für einige Überlegungen zum Begriff „igtihäd" in der
sunnitischen Rechtswissenschaft*
Von Lutz Wiederhold, Halle
Die Vertiefung unserer Kenntnis von historisdien Prozessen be¬
zieht ihre Impulse oft aus der Gegenüberstellung von Quellenma¬
terial und aktuellem Forschungsstand. In den letzten Jahren wa¬
ren wesentliche Beiträge zur Geschichte des Islams Ergebnis einer
solchen Konfrontation. Shmuel Moreh beispielsweise formulierte
seine Studie über Theater in der Zeit des islamischen Mittelalters
als Kritik an der bislang vorherrschenden Meinung, es hätte eine
solche Art szenischer Darstellung im islamischen Kulturraum
nicht vor Ya'qüb Sanua (st. 1912), also Ende des 19. Jahrhun¬
derts, gegeben'. Auch Fragen der Rechtsgeschichte des Islams
wurden auf diesem Wege einer Neubewertung unterzogen.
Der folgende Beitrag soll kurz die Korrektur einer Auffassung
nachzeichnen und unterstützen, die lange Zeit das westliche Bild
von der Entwicklung islamischer Jurisprudenz bestimmte.
Trotz einer großen Zahl von Arbeiten zur islamischen Rechts¬
geschichte ist unsere Vorstellung von diesem so wesentlichen
Komplex islamischer Kultur noch immer sehr diffus.
Für die Darstellung der Entwicklung der positiven Rechtsnor¬
men (/«/•« 0, die eine Vielzahl verwickelter Beziehungen zwischen
religiösem Dogma, vorislamischem Gewohnheitsrecht sowie Re-
* Im folgenden Artikel fasse ich Teile der 1990 von mir vorgelegten Diplomar¬
beit zusammen. Für die Betreuung dieser Arbeit bin ich meinen Hallenser Lehrern
Herm Doz. Dr. D. Sturm und Herrn Dr. Arafa Mustafa zu großem Dank verpflich¬
tet. Die Publizierung des Manuskriptes im zweiten Teil des Beitrags erfolgt mit
freundlicher Genehmigung der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha.
' Sh. Moreh: Live Theatre in Medieval Islam. In: Studies in Islamic History
and Civilization in Honour of Professor D. Ayalon, Jerusalem/Leiden 1986,
S. 565-611; der Leser wird sich einer Vielzahl weiterer Beispiele erinnem.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forsciiungsbibliotiiek 329
geln benachbarter Rechtskreise^ aufweisen, fehlt es bisher an Stu¬
dien, welche den tatsächlichen, den normativen Einfluß der juri¬
stischen Literatur auf den Rechtsverkehr einer örtlich und zeitlich
eingegrenzten islamischen Gesellschaft beleuchten'.
Auch der Bedeutungswandel der von westlichen Islamkundlern
oft zeitlos verwandten Rechtstermini bietet noch weiten Raum für
philologisch orientierte rechtsgeschichtliche Forschung'*.
Obwohl juristische und biographische Literatur nach as-Säfi'i
(st. 205/820) theoretische Grundlagen (Wurzeln der Jurisprudenz-
usül al-fiqh) und positives Recht (Rechtszweige-/Mn/0 unterschie¬
den', gibt es eine Reihe von Rechtsbüchern, in denen die Ver-
2 vgl. dazu z.B. S.BlALOBLOCKi : Materialien zum islamischen und jüdischen
Eherecht (mit einer Einleitung über jüdische Einflüsse auf den Hadith. Gießen 1928.
P. Grone: Roman Provincial and Islamic Law. Cambridge (u.a.) 1987; I. Goldzi¬
her : Über eine Formel in der Jüdischen Responsenliteratur und in den muhammeda¬
nischen Fatwas. In: ZDMG 53 (1899), S. 645-656.
' Anregungen bieten z. B. G. Bergsträsser: 77ie Govenors and Judges of Egypt or Kitab el Umara (el Wulah) wa Kitab el Qudah ofel Kindi ... (Rez.). In : ZDMG
68 (1914), S. 395-417. B. Johannsen: Die sündige, gesunde Amme - Moral und
gesetzliche Bestimmung (hukm) im islamischen Recht. In: Die Welt des Islams
xxviii (1988), S.264-82. Ders.: Islamic Law on Land Tax. London (u.a.) 1988; J.
VAN Ess: La liberte du Juge dans le milieu basrien du Vllle siecle. In: La Notion de liberte au Moyen Äge: Islam, Byzance, Oeeident. The Penn-Paris-Dumberton Oaks colloquia, IV. Session des 12-15 Octobre 1982, ed. G. Makdisi (et al.), Paris 1985, S. 25-35. I.Schneider: Das Bild des Richters in der „Adab al-Qädi"-Litera- tur Frankfurt a.M. 1990.
' Das Problem wird beispielsweise behandelt in: B. Johannsen, Der 'isma-Be- griff im hanafitischen Recht In: La signification du bas moyen äge dans I'histoire et la culture du monde musulman - actes du 8me congres de l'union des arabisants et islamisants - Aix-en-Provence 1976, S. 89-108. Auch muslimische Rechtsgelehr¬
te waren sich der Probleme unterschiedlicher Verwendung von Termini bewußt.
Der srit Hasan al-'Ämili (st. 1011/1602) betont in seinem Buch Ma'älim ad-din
wa maläd al-mugtahidin (Ms. Berl. Ahlw. 4421) an mehreren Stellen, daß ein
Ausdruck entgegen seiner buchstäblichen Bedeutung gebraucht wird (z. B. Bl. 11 b : wa yasir al-lafz musta'malan fi hiläf maudü'ihi). Vgl. auch das unten edierte Ma¬
nuskript B1.5a/Z.14-6.
* Die Mehrheit der biographischen Nachschlagewerke führt „usüli" und
,Jaqih" als unterschiedliche Spezialisierungen auf. Vgl. z.B. die Biographien des
Muhammad b. Bahädur az-Zarkasi (st. 794/1392) In: Ibn Hagar al-'Asqaläni:
ad-Durar al-kämina fi a'yän al-mFa at-tämina. Haidarabad 1359 d.H., Bd. 4,
S.487 und Ibn al-'lmäd: Sadarät ad-dahab fi ahbär man dahab. Kairo 1350 d. H.,
Bd.6 S.335. Al-Gazäli charakterisierte am Ende des 5/1 I.Jahrhunderts den Un¬
terschied zwischen Spezialisten der usül und der furü' folgendermaßen: wa V-
faqih (Spezialist der Rechtszweige) ya'hud wähidan hässan wa huwa fi'l al-mukal¬
laf fa yanzur fihi fi nisbatihi ilä hitäb as-sar' min haitu 'l-wugüb wa 'l-hazar wa
deutlichung des engen Zusammenhangs zwischen beiden Diszi¬
plinen angestrebt wurde. So stellten einzelne fuqahä'' Begriffe der
usül und der furü' in Kompendien gleichrangig nebeneinander,
wie der Säfi'it az-Zarkasi (st 794/1392) in seinem Nachschlage¬
werk über die juristischen Grundlagen {Qawä'id al-fiqhy, oder
versuchten, beide Wissenschaftszweige zu einer Einheit zu for¬
men, wie beispielsweise Gamäladdin al-Isnawi (st 772/1370) in
al-Kaukab ad-durri oder Hasan b. Zainaddin al-'Ämili (st.
1011/1602) in seinem Werk Ma'älim ad-din wa malad al-mugta-
hidin\
Diese Beispiele mögen zeigen, daß für die Darstellung der ju¬
ristischen Komponente islamischer Kultur auch die Untersu¬
chung des Verhältnisses von theoretischen Grundlagen {usül) und
den von der Jurisprudenz formulierten positiven Normen (furü)
zueinander von Bedeutung ist. Nach den bisher von mir durchge¬
sehenen Quellen scheinen mir beide Disziplinen mit ihren unter¬
schiedlichen Methoden dieselbe Einheit gebildet zu haben, aus
der auch die moderne westliche Rechtswissenschaft die Fähigkeit
zur Vermittlung zwischen Rechtsfortbildung und Konservierung
M-ibäha wa ya^hud al-usüli (Spezialist der Rechtsgrundlagen) wähidan hässan wa huwa qaul ar-rasül alladi dall al-mutakallim 'alä sidqihifi yanzur fi wagh dalälatihi 'alä 'l-ahkäm immä bi malfüzihi au bi mafliümihi au ma'qül ma'nähu wa mustan- batihi (jedoch) la yugäwiz nazar al-usüli qaul ar-rasül. Al-Gazäli: Kitäb al-Mu¬
stasfä min usül al-fiqh. Kairo (Bulaq) o.J., Bd.l, S.5. Vgl. auch die Aussage des Hanafiten as-Simnäni (st. 493/1100) in Schneider, S.231.
' Die drei Gothaer Handschriften dieses Werkes bearbeite ich zur Zeit im
Rahmen der Promotion.
' Al-Isnawi: al-Kaukab ad-durri fi mä yataharrag'alä 'l-usül an-nahwiya min al-furü'al-fiqhiya. ed. M. H. 'Awwäd. Al-'Ämili: Ma'älim ad-din. Beriin: Ms. Ahl.
4421 (Pet. 576). Einen direkten Einfluß der usül aufdie /w/ii'rekonstruierte jüngst auch Halifa bä Bakr al-Hasan am Beispiel einer Reihe von Schuldifferenzen auf dem Gebiet der Rechtszweige (furü'), die ihren Ursprung allein in unterschiedli¬
chen Methoden der Grundlagendisziplin der Rechtswissenschaft (usül) bei
Säfi'iten, Mälikiten und Hanafiten hatten (HalTfa bä Bakr al-Hasan: Manähig
al-usüliyin fi turuq dalälat al-alfäz 'alä 'l-ahkäm. Kairo 1409/1989, S. 273-8). Man
begegnet manchmal der Auffassung, die in der Rechtspraxis als qädi und mufti
tätigen fuqahä' hätten kaum praktisches Interesse an der vorwiegend philologisch orientierten Rechtstheorie (usül) gehabt. Zur Wirkung rechtstheoretischer Überle¬
gungen auf den Rechtsalltag liegen bislang jedoch noch zu wenig Studien vor. Der säfi'itische Richter und Mufti Badraddin b. Sagara (st. 787/1385) wurde von den Zeitgenossen wegen seiner Fähigkeit bewundert, die Lösung von Rechtsfällen aus rechtstheoretischen Grundlagen abzuleiten (fa a'gabanifahmuhü wa 'stinbätuhü fi 'l-fiqh wa gausuhü'alä 'stihräg al-masä'il al-hawädit min usülihä wa radduhä ilä 'l-qawä'id, Ibn Qädi Suhba: Tärih. ed. 'Adnän Darwis. Damaskus 1977, S. 177).
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek 331
gesellschaftlicher Regeln, zwischen berechenbarer Rechtsspre¬
chung und fallgemäßem Pragmatismus zu schöpfen sucht*.
Als William Montgomery Watt in einem 1974 erschienenen
Artikel äußerte, die wichtigsten Fortschritte unseres Verständnis¬
ses vom Islam könnten uns in den nächsten 50 Jahren auf dem
Gebiet der usül al-fiqh zukommen', tat er das im Zusammenhang
mit der Untersuchung des Begriffes „igtihäd", an dem auch die
soeben angesprochene enge Beziehung zwischen theoretischen
Grundlagen und praktischen Normen des fiiqh sich beispielhaft
verdeutlichen läßt.
Das Verbalnomen des achten Stammes der Wurzel g-h-d,
igtihäd, meint zunächst ganz allgemein die auf ein bestimmtes
Ziel gerichtete Bemühung.
Jedoch scheint das Wort igtihäd schon im 2./8. Jahrhundert
konkreter ein Verfahren zur Rechtsfindung beschrieben zu haben,
in welchem der Richter sich bei der Beurteilung eines Falles von
gewohnheitsrechtlichen Normen und persönlichem Rechtsemp¬
finden leiten ließ'°.
As-Säffi (st. 205/820) widmete dem Begriff „/^///jä/i" in seiner
Risäla, die als literarischer Ausgangspunkt der Lehre von den
usül gilt, mehrere Passagen. Er richtete seine Kritik gegen die
damals offenbar existierende Auffassung vom „igtihäd" als Form
der von den Quellen islamischen Rechtsempfindens vollkommen
unabhängigen Entscheidung durch den Richter, die als Meinung
(ra'/ - synonym zu igtihäd oder in Genitiwerbindung mit igtihäd
« Eine knappe Zusammenfassung rechtstheoretischer Überlegungen der Ge¬
genwart bietet Robert Alexy in seiner Studie Theorie der juristischen Argumenta¬
tion-Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt a.M. 1983.
' W.M.Watt: The ciosing of the door of igtihäd. In: J.M. Barral (Hrsg.),
Orientalia Hispanica - sive studia F. M. Pareja octogenario dicata Vol. I Arabica- Islamica, Leiden 1974, S.678.
'° In diesem Sinne deutet es jedenfalls van Ess, wenn er davon spricht, daß der Qadarit 'Amr b. 'Ubaid (st. 144/761) sich durch überlieferte Entscheidungen
verschiedener Prophetengenossen nicht in seinem igtihäd einschränken lassen
wollte. Vgl. J. van Ess: Traditionistische Polemik gegen 'Amr b. 'Ubaid - zu einem Text des 'Alib. 'Umar ad-Däraqutni. Beirut 1967, S.35. Zum Verhältnis zwischen
unabhängigem Rechtsentscheid (igtiäd ar-ra'y) und auf den heiligen Quellen,
Koran und Sunna, basierendem Richterspruch im I.Jahrhundert d.H. vgl.
H. Motzki: Die Anfänge der Islamischen Jurisprudenz-Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, s. Index ra'y. Für das 2. Jh.
d. H. vgl. van Ess, liberte.
- igtihäd ar-ra'y) bezeichnet wurde. Er plädierte dafür, den ^q-
%x\{{ „igtihäd" mit neuem Inhalt zu füllen. In Fällen, für die Ko¬
ran und Sunna keine Lösung boten, sollte der Richter weiter die
Möglichkeit haben, sich in den Prozeß der Rechtsfindung einzu¬
bringen. Seine Bemühungen sollten sich jedoch künftig auf die
strengen Regeln unterworfene Interpretation von Koran und Sun¬
na richten".
Spätestens seit as-Säfi'i stellte „igtihäd" einen fest umrissenen
Terminus dar, dessen Inhalt allerdings von der Generationenfolge
religiöser Gelehrter verschiedener Schulen durch unterschiedli¬
che Beiwörter kategorisiert und präzisiert wurde.
Auch die spätere Lexikographie brachte „igtihäd" fast nur noch
in juristischem Kontext Ibn Manzür (st 711/1311), der Autor des
Lisän al-'arab, referierte das Verb igtahada vornehmlich in seiner
rechtswissenschaftlichen Bedeutung'^ ebenso wie az-Zabidi (st.
1205/1791) im Täg al-'arüs'\
In der westlichen Islamwissenschaft erfuhr „igtihäd" seit Ende
des vergangenen Jahrhunderts eine widersprüchliche Bewertung,
die aus der Absolutsetzung einzelner Quellenaussagen resultier¬
te''' und gewiß auch durch die Sicht auf ein kulturell scheinbar
stagnierendes Islamreich beeinflußt wurde.
" vgl. z.B. as-Säfi'i, ar-Risäla. Kairo o.J., S.8: wa hädä 'l-igtihäd alladiyatlu- buhu y-häkim bi 'd-daläla 'alä 'l-matal wa hädä sinf al-'ilm dalU 'alä mä wasaf tu qabla hädä 'alä anna laisa li ahad abadan an yaqülßsai' in haram illä min gihat al-'ilm wa gihat al-'ilm al-häbarß 'l-kitäb wa 's-sunna wa 'l-igmä'wa 'l-qiyäs.
" ... al-igtihäd ... wa 'l-muräd hihi al-qadiya allati ta'arrad li 'l-häkim min tariq al-qiyäs ilä 'l-kitäb wa 's-sunna wa lam yurad ar-ra ' y alladi ra 'ahu min qibal nafsihi min gair haml 'alä kitäb au sunna. Ibn Manzür: Lisän al-'arab. Kairo o.J., Bd.3, S.109.
" ... wa ß hadit Mu'äd B. Gabal igtahad ra'y al-igtihäd aiy badal al-wus'ß talab al-amr wa 'l-muräd bihi radd al-qadiya min tariq al-qiyäs ilä 'l-kitäh wa
's-sunna. az-Zabidi: Täg al-'arüs min gawähir al-qamüs. Kairo 1306-7, Bd.2,
S.330. Den Quellen folgend bringt auch E.W. Lane {an Arabic-English Lexicon.
Part 2, S.473) ausschließlich die juristische Bedeutung von „igtahada".
" Ein Beispiel dafür findet sich in der Behandlung des Themas durch Snouck
Hurgronje in seiner Rezension zu Sachaus „Muhammedanischen Recht"
(ZDMG 53 (1899), S. 141-2), in der er eine Aussage al-Bagüris (st. 1277/1861) gegen die Zulässigkeit des „igtihäd" einem von al-Bagüri selbst angeführten pro-
„igtihäd" Zitat des Traditionariers Ibn Daqiq al-'Id (st. 702/1302) (GAL, Bd.2, S.66) ohne vermittelnden Kommentar gegenüberstellt (vgl. dazu auch E.Sachau:
Muhammedanisches Recht nach schäß'itischer Lehre. Berlin 1897, S. 683 ff). Es
muß an dieser Stelle nochmals hervorgehoben werden, daß die folgenden Ausfüh¬
rungen sich auf die Bewertung des „igtihäd" in den sunnitischen Rechtsschulen
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek 333
Als ein Resultat der gegensätzlichen Bewertung von „igtihäd"
beschrieb die Behauptung, das „Tor des igtihäd" sei einst von
muslimischen Gelehrten geschlossen worden, in der Orientalistik
den Zustand der beginnenden Erstarrung des Normengefüges
und der Rechtswissenschaft im Kulturgebiet des Islams. Der Ge¬
danke vom „Torschluß" half dem westlichen Betrachter über
mehrere Jahrzehnte, sich den scheinbaren Stillstand islamischen
Rechtsdenkens seit dem 3. /9. Jahrhundert zu erklären oder die
jahrhundertelange Unfruchtbarkeit dieser Wissenschaftsdisziphn
zu postulieren". Er stützte die These von der geradlinigen Ent¬
wicklung islamischer Jurisdiktion vom Arbitrarium der gähiliya
zum siegreichen Traditionalismus des 3. /9. Jahrhunderts.
Unkommentierte und deshalb mißverständliche Übersetzungen
des Begriffes spiegelten die Unsicherheit bei der Behandlung des
Phänomens.
In Sachaus Übertragung der Glosse des Ibrähim al-Bagüri (st.
1277/1861)'* zum Abü Sugä' (st. 590/1194)" - Kommentar des
Ibn Qäsim (st. 918/1512)'* schloß die Forderung des Originaltex¬
tes, ein Richter müsse fähig zum „igtihäd" sein", in der deut¬
schen Fassung die aktive Rolle des qädi bei der Rechtsentschei¬
dung ein^". Im Artikel ,Jatwä" der zweiten Edition der Enzyklo¬
pädie des Islam erschien „igtihäd" dagegen nicht als Handlung,
sondern als „Gesetzeskenntnis", die den qädi zur individuellen
Entscheidung (personal reasoning) befähigen solF'. Freilich resul¬
tierte diese Ungleichheit in der Übersetzung zu Teilen aus unter¬
beziehen. Für den si'itischen Islam wurde die Möglichkeit des „igtihäd" von der
westlichen Islamwissenschaft niemals angezweifelt. Vgl. dazu N.Calder: Doubt
and Prerogative: The Emergence of an Imami Si'i Theory of Ijtihäd. In: SI Ixx
(1989), S. 57-78 und die darin angegebene Literatur.
Dieser Gedanke fmdet sich auch in Rudolph Peters' Rezension zu B. Jo¬
hannsen: Islamic Law on Land Tax and Rent. London 1988, in: Die Welt des
Islams, XXX (1991), S.245.
" vgl. C. Brockelmann: Geschichte der Arabischen Litteratur (GAL), Bd.2, S.487, Suppl. 2, S.741.
" Ahmad b. al-Hasan b. Ahmad al-lsfahäni, GAL, Bd.l, S.392, Suppl. 1,
S.676.
" M.B.al-Qäsim al-Gazzi, GAL, Bd.l, S.398.
" la yagüz an yali- al-qadä ' illä man istakmalat fihi hamsa 'asrat haslat al-isläm (minhä) ... ma'rifat turuq al-igtihäd (Sachau, Anhang S.21).
^° Sachau, S.687: Der Richter muß kundig der Methode der Anwendung
der Rechtssätze" sein.
" Encyclopaedia of Islam New Edition (EI, N.E.), Leiden 1954-, Bd.2, S.866.
schiedlichen Auffassungen von „igtihäd", die von den Verfassern
islamischer Rechtskompendien selbst immer wieder formuliert
wurden^^.
W. B. Hallaq und L Schneider versuchten die Lösung des Pro¬
blems durch kommentierende Darstellung der von einzelnen fu¬
qahä' gebrauchten Klassifizierungen des „igtihäd"^^.
Niemand weiß heute den Urheber des „Torschlußgedankens"
zu benennen^''. Wenn auch die Formulierung vom „Torschluß"
nur in wenigen rechtshistorischen Studien vor Anfang unseres
Jahrhunderts verwendet wurde, so machte doch eine Vielzahl von
Orientalisten sich den mit ihr intendierten Standpunkt zu eigen,
daß ab einer bestimmten Zeit kein faqih mehr die Berechtigung
zu unabhängigem Rechtsentscheid (igtihäd) für sich hatte bean¬
spruchen können, statt dessen alle Rechtswissenschaftler und
" s.u. Anm. 69, 70 und 71.
" Die wichtigste Klassifizierung des „igtihäd" im Zusammenhang mit dem
„Torschluß"-Gedanken ist die Unterscheidung zwischen vollkommen unabhängi¬
gem „igtihäd" (mutlaq) und auf einen madhab begrenztem (muqayyad). Fähigkeit zu unabhängigem „igtihäd" wurde, auch von vielen Befürwortern individuellen Rechtsentscheids, nur den vier „Schulgründern" zugesprochen, wie Hurgronje (ZDMG 53 (1899), S. 138-9) richtig sagt. Zu den Begriffen igtihäd mutlaq -unbe¬
grenzter „igtihäd" und igtihäd muqayyad - begrenzter „igtihäd" vgl. W. B. Hallaq:
Was the gate of ijtihäd closed? In: IJMES 16 (1984), S.3-41, bes. S.17ff. und Schneider, S. 216-7 sowie Snouck Hurgronje, S. 143. Der Säfi'it Ibn as-Saläh (st. 642/1244) bestimmte den vollkommen unabhängigen Rechtsentscheid (igtihäd mutlaq) als ein Verfahren, Rechtsnormen aus vorhandenen Indizien abzuleiten, ohne dabei die Lehre eines früheren Gelehrten zu kopieren (wa daragat al-igtihäd al-mutlaq yuhsal hi tamakkunihi min ta'arruf al-ahkam as-sar'iya min adillatihä
'stidlälan min gair at-taqlid. Ibn as-Saläh : Fatäwä wa masä '// Ibn as-Saläh fi V- tafsir wa 'l-hadit wa H-usül wa 'l-fiqh wa ma'ahü adab at-mufti wa 'l-mustafti. ed.
'Abdalmu'tI Amin Qal AgT, Beirut, 1986, S.203). Bedeutenden Gelehrten, wie
dem Imäm al-Haramain al-Guwaini (st. 478/1085), al-Gazäh (st. 505/1111) oder
as-Siräzi (st. 476/1083), sprach er nur die Qualifikation zu begrenztem (muqayyad)
„igtihäd" zu, weil sie nicht die Grenzen ihres madhab überschritten, ibid. S.203:
Eine andere Sicht auf beide Kategorien findet sich im unten edierten Manuskript B1.5a/8-19.
" Vgl. T.Nagel, Die Festung des Glaubens-Triumph und Scheitern des islami¬
schen Rationalismus im 11. Jahrhundert. München 1988, S.9. Auch Hallaq kann
keinen Quellenbeleg für das Aufkommen des Wortes vom „Schließen des Tores
des igtihäd" bringen, (vgl. Hallaq, Was the gate, S.21 -2 und Hallaq, On the origins of the controversy about the existence of mujtahids and the gate of ijtihäd.
In: SI Ixiii (1986), S. 129-42, bes. S. 134, Anm.21). Von einer offenen Frage spricht mit Bezug auf den „Torschluß" auch E. Chaumont: La problematique classique de l'ijtihäd et la question de l'ijtihäd du prophete: Ijtihäd, Wahy et'Isma. In SI Ixxv (1992), S.l 13, Anm. 29.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliotliek 335
-praktiker zu kritikloser Übernahme der Rechtsmeinung früherer
Gelehrter {taqlid) übergegangen seien. Snouck-Hurgronje stütz¬
te diesen Gedanken auf die Äußerung des Säfi'iten al-Bagüri,
„igtihäd" („das Ableiten gesetzlicher Bestimmungen aus dem Bu¬
che (dem Qur'än) und dem Beispiel des Propheten (der Sunnah)"
- S. H.) hätte ungefähr seit dem Jahr 300 d. H. „zu existieren auf¬
gehört"^'. Äuch D. B. McDonald verzichtete in der ersten Äusga¬
be der Enzyklopädie des Islam auf die Formulierung vom Tor¬
schluß, vertrat jedoch die damit verbundene Auffassung, indem
er ausführte, die Rechtskundigen späterer Jahrhunderte seien
„anerkanntermaßen muqallids" gewesen - Gelehrte, die Reehts-
entscheidungen früherer Generationen übernehmen, ohne deren
Ursprung zu kennen, die taqlid (hier als Antonym zu „igtihäd"
im Sinn von „kritikloser Übernahme überlieferter Rechtsauffas¬
sungen" gebraucht) betrieben^''.
Ich vermute, daß auch der wiederholte Rückgriff islamischer
Reformer des 19. Jahrhunderts auf diesen Begriff die westliche
Sicht auf „igtihäd" beeinflußte. Im Kontext erwachenden mus-
limschen Selbstbewußtseins stand „igtihäd" für die Fähigkeit der
islamischen Lehre, sich den Anforderungen der neuen Zeit erfolg¬
reich zu stellen. Bei Sayyid Ahmad Hän (st. 1315/1898), der im
Koran die einzige Quelle der sari'a sah und die normative Kraft
des //a^/i7materials anzweifelte", avancierte von Koran und .vmaj-
unabhängiger „igtihäd", den qiyäs ersetzend, zu einer der vier
usül des Rechts und beschrieb eine von hemmenden Dogmen
freie, modernen Ansprüchen genügende Entscheidung. Er rief zur
Öffnung des Tores des „igtihäd" auf, was ja den Gedanken, es
sei irgendwann einmal geschlossen worden, still voraussetzt. Die
" Hurgronje, S. 141-2.
" Vgl. Enzyklopädie des Islam (El), Leiden/Leipzig 1927, Bd.2, S. 447-8.
" Vgl. J. Schacht und C.E. Bosworth (Hrsg.): Das Vermächtnis des Islam.
München 1983, Bd.l, S. 171. Allerdings kollidiert mit meiner Vermutung die Tat¬
sache, daß S. Hurgronje schon bei al-Bagüri (st. 1277/1861) den Gedanken vom
Torschluß gefunden hat (Hurgonje, S. 141-2). Über die Bedeutung des
„/g///iärf"-Verständnisses in der Kontroverse um das Verhältnis von Neuerung und
Tradition in einem zeitgemäßen Islam zwischen Sayyid Ahmad Hän und
Gamäladdin al-Afgäni vgl. A.Ahmad: Ahmad Khan, ai,-Afghani and Muslim
India. In: SI xiii (1960), S.60 u. 70. AL-ÄFgäni war, wie später auch sein Schüler
ÄBÜ 'l-Kaläm Äzäd, der Meinung, die Abbasiden hätten zuerst die Pflichten des
igtihäd, der Bemühung um Anpassung islamischer Werte an die Erfordernisse der Zeit, vernachlässigt (ibid. 75).
1876 unter Mehmet II. verabschiedete Mecelle stellte „igtihäd"
als reehtsfortbildende Weisung des Sultans dar, ohne in irgendei¬
ner Form Bezug auf den „Torschluß"-Gedanken zu nehmen^*.
Seine langanhaltende Wirkung unter westlichen Islamkundlern
verdankt das Wort vom „Torschluß" offenbar der Autorität Jo¬
seph Schachts, des bedeutendsten Kenners islamischer Rechts¬
lehre in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts.
Schacht setzte in seinem Artikel für die neue Edition der En¬
zyklopädie des Islam den Zeitpunkt des „Torschlusses" auf dem
Gebiete der Jurisprudenz um das Jahr 900 n. Chr. (286 d. H.)^' an.
Quellen für seine Aussage nannte er nicht.
Die Rechtsgelehrten aller Schulen, so führte Schacht aus, hät¬
ten damals gespürt, daß alle essentiellen Fragen gründlich disku¬
tiert und endgültig gelöst worden seien. Schrittweise habe sich
Konsens darüber gebildet, daß von jener Zeit an keiner mehr für
ausreichend qualifiziert zum unabhängigen Rechtsentscheid ge¬
halten werden könne und daß jede zukünftige Rechtssprechung
auf die Deutung, Anwendung und Interpretation der ein für alle
Mal geformten Doktrin zu begrenzen sei'".
Später fügte Schacht dieser Aussage die anhand der Quellen
eher nachvollziehbare Bemerkung hinzu, bis zur Mitte des dritten
Jahrhunderts d.H. (ca. Mitte des 9. Jh. n.Chr.) habe niemand die
Befähigung der Spezialisten des göttlichen Rechts zu eigener Lö¬
sung eines juristischen Problems bezweifelt. Nach dieser Zeit sei je¬
doch die Diskussion über die Zulässigkeit des „ igtihäd " und die da¬
für notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten begonnen worden".
Die Ausführungen Schachts zum „igtihäd" fügten sich ohne
Schwierigkeiten in die allgemeine Vorstellung von der Stagnation
" Vgl. T.Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. München 1980,
Bd.2, S.l 89.
" Hat Schacht diese Jahreszahl aus den oben erwähnten Aussagen al-BagürTs (vgl. Anm. 27) übernommen? G. L. Guellil bringt in ihrer Studie zum Damaszener
Aktenwesen im 8./14.Jh., ebenfalls ohne Quellenangabe, einen anderen Termin
für den Torschluß in Umlauf: „Seit Qädihän (st. 1096) gilt das häb al-igtihäd als geschlossen." Sie macht jedoch auf den Widerspruch zwischen diesem Postulat
und der von ihr benutzten Quelle aufmerksam. G.L. Guellil: Damaszener Akten
des 8./1 4. Jahrhunderts nach at-Tarsüsis Kitäb a/-/Väm.Bamberg 1985, S.331,
Anm.lO.
" EI, N.E., Bd.3, S.1026.
" J.Schacht: An Introduction to Islamic Law. Oxford (University Press) 1964, S.70.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forsciiungsbibliotiiek 337
islamischer Jurisprudenz nach Ende ihrer formativen Phase".
Trotz mehrerer nach Schacht erschienener Studien zur Entwick¬
lung islamischen Rechtsdenkens, die das Wort vom „Torschluß"
indirekt in Frage stellten, wirkte im Bewußtsein vieler westlicher
oder westlich geprägter Islamkundler die Behauptung vom Ende
des „igtihäd" teilweise bis in unsere Tage nach. In seinen Outhnes
of Muhammadan Law beispielsweise übernahm Asaf A. A. Fyzee
die Thesen Schachts für die Darstellung des „igtihäd" in den
sunnitischen Rechtsschulen nur unwesentlich modifiziert''. Ähn¬
liches läßt sich über Noel J. Coulson und sein Buch A history of
islamic law^'*, über den Artikel Ernst Klingmüllers Entstehung
und Wandel rechtlicher Traditionen im islamischen Recht^^ und
über eine Reihe weiterer Beiträge zur islamischen Rechtshistorie
sagen. Jüngst noch gründete Vardit Rispler sein Plädoyer für
ein neues Verständnis des Begriffes bid'a auf die „Torschluß"-
Theorie'*.
Die oben bereits angesprochene Widersprüchlichkeit bei der
Interpretation von „igtihäd" entfaltete sich meist in der Konfron¬
tation mit konkretem Quellenmaterial, aus dem hervorging, daß
die Aussage von der Erstarrung der islamischen Rechtsauffassung
weder für die literarische Tätigkeit noch die Sphäre der Rechts¬
praxis" absolut zutreffen konnte. Schacht relativierte so z. B. die
" vgl. Z.B. Carl Heinrich Becker: Islamstudien (Bd.l), Leipzig 1924, S.193 oder Paul Horster: Zur Anwendung des Islamischen Rechts im lö.Jahrhundert- Die juristischen Darlegungen (ma'rüzät) des Schejch ül-Islam Ebu Suud (gest 1574) herausgegeben, übersetzt und untersucht Stuttgart 1935, S.8.
" A.A. A. Fyzee: Outlines of Muhammadan Law (Second Edition). (Oxford
University Press), London, New York, Bombay 1955, S.25-6.
" N.J. Coulson: A History of Islamic Law. Edinburgh 1964, S.80.
" E. Klingmüller: Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen im islami¬
schen Recht: In: W. Fikentscher, H.Franke und O. Köhler (Hrsg.): Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen (Veröffentlichungen des Instituts für histori¬
sche Anthropologie E.V. Bd.2). Freiburg/München 1980, S.400).
" V. Rispler: Towards a New Understanding of the Term bid'a. In: Isl. 68 (1991), 320-8. H.A.R. Gibb und H. Bowen: Islamic Society and the West. London-
New York-Toronto 1957, Bd.l, S.22. W.M. Watt: Islamic Fundamentalism and
Modernity. New York 1989, S.29. K. Dilger: Islamisches Recht. In: A.Schimmel u. a. : Der Islam. III. Islamisehe Kultur - Zeitgenössische Strömungen - Volksfröm¬
migkeit. Stuttgart/Berlin/Köln 1990, S.63. J.Chr. Bürgel: Allmacht und Mäch¬
tigkeit im Islam. München 1990, S. III. Zu weiteren Beispielen vgl. Hallaq, Was the gate, S. 34, Anm. 3.
" Zur Praktizierung von igtihdd/ra'y auch nach Abschluß der formativen Pha¬
se des islamischen Rechts vgl. das kurze Fazit in Schneider, S.250. Schneider
Behauptung vom „Torschluß" selbst, indem er Taqiaddin as-
Subki (sL 771/1370), den Autor des bekannten mjm/- Werkes Garn'
al-gawämi'^^, und Galäladdin as-Suyüti (st 909/1511) als zentrale
Figuren der späteren Diskussion über „igtihäd" ebenso hervorhob
wie die Hanbaliten Ibn Taimiya (st. 728/1328) und Ibn Qayyim
al-Gauziya (st 751/1351)''. Die Rechtspraxis betreffend schrieb
er an anderer Stelle, in Wirklichkeit sei auch die spätere juristi¬
sche Tätigkeit immer noch rechtsschöpferisch gewesen, die An¬
wendung der tradierten Regeln auf neue, vom Leben dargebotene
Sachverhalte hätte beständig die Bewertung von Fällen mit Hilfe
des überlieferten Apparates islamischer Jurisprudenz und zu¬
gleich die Modifikation ihrer Regeln verlangt"".
Auch andere Autoren stellten das Postulat vom Torschluß indi¬
rekt in Frage, zum Teil jedoch ohne auf Schachts Aussagen ein¬
zugehen"'.
Nachdem W.M.Watt 1974 in der bereits erwähnten kurzen
Abhandlung"^ die ambivalenten Assoziationen, die der Terminus
„igtihäd" beim Islamwissenschaftler hervorruft, zusammengefaßt
und erste Anregungen zu neuer Untersuchung des Gegenstandes
weist zugleich darauf hin, daß es stets Autoren gab, die davon überzeugt waren, ihre Zeit verfüge nicht über zum igtihäd befähigte Gelehrte (mugtahid) und sei somit zum taqlid, zur kritiklosen Übemahme der Entscheidungen früherer Gelehr¬
ter, verpflichtet. Als Beispiel führt sie eine entsprechende Aussage des Säfi'iten Ibn Abi 'd-Dam (st. 624/1244) an (Schneider S.208, 215). In seinen Fatäwä gibt Ibn as-Saläh (st. 642/1244) an einer Stelle zu verstehen, daß er den Richtern seiner Zeit die Berechtigung zum „igtihäd" abspricht (... hukkäm hädihi 'z-zamän fa innahum la yaUamidünßahkämihim 'alä 'l-igtihäd la mutlaqan wa la muqayyadan U kaunihim muqallidin ...: Ibn as-Saläh, Fatäwä, S.480).
GAL Bd.l, S.89.
" Schacht, Introduction, S.72 und El N.E., Bd.3, S.1027. Ibn Qayyim be¬
mühte sich in seinem Buch I'läm al-muwaqqi'in um genaue Eingrenzung der
Freiheiten des Juristen in der selbständigen Rechtsfindung. Wenn ein Rechtsgut¬
achter (mufti) in Ermangelung einer passenden Stelle aus Koran und Sunna selb¬
ständig entscheiden mußte, sollte er das dem Fragesteller ausdrücklich mitteilen.
Die Worte des Mälik b. Anas zur Kennzeichnung persönlicher Ansicht gab Ibn
Qayyim als Vorbild an: in nazunn illä zannan mä nahnu bi mustaiqinin. Ibn
Qayyim al-Gauziya: / 'läm al-muwaqqi'in an rabb al-'älamin. ed. Muhammad
MuhyIaddIn 'Abdalhamid, Beirut 1987, Bd.l, S.43.
" J.Schacht: G.Bergsträssers Grundzüge des islamischen Rechts. Berlin und Uipzig 1935, S.l 8.
" s. Anm.lO, Watt, Was the gate. T.Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft, Bd.l, S.21, 36 und 81. B. Weiss: Interpretation in Islamic Law - Ihe Theory of IjtihM. In: The American Journal of Comparafive Law 26 (1978), S.207.
" Watt, The Closing, S. 675-8.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek 339
gegeben hatte, übernahm es W. B. Hallaq, den falschen Mythos
vom „Torschluß" zu zerstören. Anhand umfangreichen Quellen¬
materials zeigte Hallaq, daß seit Mitte des 5. /II. Jahrhunderts in
den m5m/- Büchern vor allem des säfi'itischen madhab die zum
„igtihäd" notwendigen Fähigkeiten regelmäßig Gegenstand der
Erläuterung waren"', daß seit Beginn des 6./12. Jahrhunderts
über die Schulgrenzen hinweg eine Diskussion über Abwesenheit
oder Präsenz von zum „igtihäd" fähigen Gelehrten in einem be¬
stimmten Zeitalter geführt wurde"" und daß die Qualifikation zum
„igtihäd" eine zentrale Rolle in der Diskussion um den mugad¬
did, den zu Beginn jedes Jahrhunderts von Gott gesandten No¬
vator der Religion, spielte"^
Einen Beleg für die anhaltende Bedeutung des „igtihäd"-^e-
griffes im Gelehrtendisput des islamischen Mittelalters, der mir
Anlaß zu näherer Untersuchung des Themas gab, fand ich in der
Handschrift Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek Gotha"^
Das Manuskript enthält einen zehn Seiten füllenden Traktat,
dessen Autor es um die Rechtfertigung des „igtihäd" als Mittel
zur Rechtsfindung geht.
Die Handschrift ist anonym. Da der jüngste zitierte Rechtsge¬
lehrte, Muhammad b. Bahädur az-Zarkasi im Jahr 794/1392
starb, läßt sich die Schrift mit Sicherheit in die Zeit nach Ende
des 8./14., Anfang des 9./1 5. Jahrhunderts datieren.
Die Apologie des „igtihäd" wird hauptsächlich an zwei Gedan¬
ken festgemacht, deren Richtigkeit durch Zitate bedeutender Ju¬
risten und Traditionskenner bekräftigt werden soll.
Erstes wesentliches Argument ist die Notwendigkeit des
„igtihäd", die sich aus der quantitativen Begrenztheit koranischer
Hallaq, Was the gate, S. 5-6.
" Hallaq, On the origins, S.129. Hallaq, Was the gate, S.21 -2.
ausführlicher in: E. Landau-Tasseron: The ..cyclical reform"-A study of the mujaddid-tradition. In: SI LXX (1989) 79-117.
" Die Handschrift Ms. orient. A 918 enthält nicht allein eine Abhandlung über den „igtihäd", wie von Pertsch irrtümlicherweise angegeben (Vgl. W. Pertsch:
Die arabischen Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Gotha. Bd. 1, Nr. 918).
Der Traktat über „igtihäd" bricht auf Folio 5b ab. Ihm folgen auf den Blättem 6 a bis 7 b ein Fragment zu Problemen der //a</i/wissenschaft und auf den Blättern 8a bis 10a ein weiteres Bruchstück, das die Offenbarung an die Propheten schil¬
dert und die Frage erörtert, ob die Eigenschaft des Prophetentums nach erfüllter Aufgabe von den Gottesgesandten abfällt oder nicht. Keines der beiden Fragmen¬
te konnte ich bisher einem Autor zuordnen.
und der Sunna entnommener Regeln gegenüber einer unzählba¬
ren Menge von möglichen rechtsrelevanten Fällen ergibt. Dieser
Gedanke wird der Häresiographie as-Sahrastänis entnommen,
der im Abschnitt über die „Männer der Folgerungen" (Haar-
brücker's Übersetzung von ahi al-furü') wörtlich sagt: „Und ge¬
nerell wissen wir, daß Ereignisse und Fälle in der Glaubenspraxis
und den weltlichen Handlungen etwas von dem sind, was durch
Zahlen nicht erfaßbar ist. Wir wissen auch, daß nieht zu jedem
Rechtsfall ein Gesetzestext aufgeführt wurde. Das wäre ja auch
unvorstellbar. Und wenn die Gesetzestexte endlicher Zahl und die
(verschiedenen) Fälle unendlicher Zahl sind, und man (zugleich
bedenkt,) daß, was unendlich ist, sich nicht von Endlichem be¬
greifen läßt, steht fest, daß der igtihäd und der qiyäs für Mei¬
nungsbildung (und Rechtsentscheid) notwendig sind, so daß je¬
dem Rechtsfall ein igtihäd gegenüberstehe""'. Die Unverzichtbar¬
keit des „igtihäd" wird dem Leser noch um einiges bestimmter
vor Augen geführt durch dem Hadit entnommene Visionen vom
Übel, das als Folge von Vernachlässigung des „igtihäd" zu belie¬
biger Zeit über die Muslime kommen würde. Unterlassung des
„igtihäd" sei Sünde"*. Eine andere Prophetentradition stellt gar
die Verbindung zwischen Ende des „igtihäd" und dem Weltenen¬
de her"'. Der Gedanke wird bekräftigt durch ein dem Taqiaddin
b. Daqiq al-'Id (st 702/1302) zugeschriebenes Zitat'".
Der größte Teil des Textes ist dem zweiten Hauptgedanken
gewidmet, der die Zulassung ausschließlich befähigter Gelehrter
zur Praktizierung des „igtihäd" betont, „igtihäd" ist ,Jard al-
kifäya" - Pflicht aller Befähigten. Auch dieser Gedanke erscheint
wiederum in einem Zitat aus dem Sektenbuch as-Sahrastänis. Er
Ms. orient. A 918, Bl. lb/7-11, vgl. den arabischen Text in der Edition am Schluß des Beitrages.
" ibid. B1.1b/14 (Auch hierbei handelt es sich um ein Zitat aus der Häresio¬
graphie as-Sahrastänis. Vgl. as-Sahrastäni: Kitäb al-Milal wa 'n-nihal (am Rande von Ibn Hazm: al-Faslß 'l-milal wa V-ahwä'wa 'n-nihal.) Beirut 1406/1986, Bd.2,
S.44. Übers, ins Deutsche von Th. Haarbrücker: Abü-'bPath Muhammad asch-
Schahrastäni's Religionspartheien und Philosophen-Schulen /. u. 2. Teil. Halle 1850. Vgl. das Kapitel „Die Männer der Folgerungen, S.230ff.).
" Ms. orient. A 918, B1.2a/15, la tazäl tä'ifa min ummati zähirin 'alä 'l-haqq hattä ya'ti amr alläh, (Vgl. J. A. Wensinck: Concordance de la Tradition Musulma¬
ne. Leiden 1936-88, Bd.4, S.53).
" ibid. Bl. 2b: innahü la yagüz hulüwuhü (einer Epoche) 'an mugtahid mä lam yatadä'a 'z-zamän hi tazalzul al-qawä'id bian tä'ti asrät as-sä'at al-kubrä.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek 341
wird mit einer Vielzahl von Aussagen as-Sahrastänis und anderer
Autoren unterlegt, die die zum „igtihäd" notwendigen Kenntnisse
und Fertigkeiten zusammenfassen.
Der mugtahid muß zunächst die arabische Sprache beherr¬
schen.
Weiterhin wird vom mugtahid solide Korankenntnis, speziell
die Fähigkeit zur Interpretation der im Buch der Bücher veran¬
kerten Gesetzesregeln, verlangt.
Drittens sollte der mugtahid ebenso sicher mit dem Traditions¬
manual zu arbeiten wissen, vor allem die einschlägigen Klassifi¬
kationen der Hadite, die spätestens seit Ibn as-Saläh die Tradi¬
tionswissenschaft bestimmten, beherrschen.
Viertens wird von ihm Kenntnis der rechtlichen, von Koran und
Sunna nicht berührten, Sachverhalte verlangt, zu denen Muham¬
mads Gefährten und ihre Nachfolger sich im Konsens {igmä')
fanden.
Und fünftens und letztens ist nur ein Gelehrter, der den Ana¬
logieschluß {qiyäs) aus autoritativen Texten {nass) auf Fälle der
Rechtspraxis zu praktizieren imstande ist, auch zum „igtihäd"
zugelassen.
Die vier Wurzeln der islamischen Rechtswissenschaft {usül al-
ßqh) und Sprachgelehrsamkeit werden auch in mehr oder weni¬
ger ausführlichen Zitaten aus Werken von Abü Mansür 'Ab¬
dalqädir at-Tamimi (st. 429/1037)", ar-Räfi'i (st. 623/1226)« und
dessen Kommentator an-Nawawi (st. 676/1276)" als unverzicht¬
bare Qualifikationsmerkmale für den „igtihäd" gekennzeichnet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß al-Gazäli, der in
unserem Traktat mit Zitaten aus dem Buch al-Manhül ß l-usül
vertreten ist, vom mugtahid nehen den erwähnten auch Kenntnis¬
se auf dem Gebiete der Psychologie fordert, zugleich aber betont,
die Fähigkeit zu psychologischer Betrachtung sei angeboren, und
könne nicht erworben werden'".
Die Vermutung W.M.Watts, vom Ende des „igtihäd" über¬
zeugte Säfi'iten und hanbalitische Fürsprecher zeitloser Pflicht
zum „igtihäd" hätten sich in nahezu geschlossenen Reihen gegen-
" Bl.Sb, vgl. GAL Bd.l, S.385. ,
" B1.4b, GAL Bd.l, S.393.
" B1.4b, vgl. GAL Bd.l, S.396.
" Bl. 5 b/5 : vcfl la budda ... min fiqh an-nafs wa huwa gariza (sie !) lä yata 'allaq bi 'biktisäb.
übergestanden", findet in unserem Traktat keine Bestätigung. Die
hauptsächlich säfi'itischen Quellen, die vom Autor zur Verteidi¬
gung des „igtihäd" ins Feld geführt werden, befmden sich im
Gleichklang mit Hinweisen auf die angebliche „/^//ÄäJ"-Freu dig¬
keit der Hanbaliten'*. Andere Quellen bringen eine Vielzahl von
Anhaltspunkten dafür, daß es in jeder der vier sunnitischen
Rechtsschulen Gelehrte gab, die „igtihäd" für nicht praktikabel
hielten, wie andererseits auch Gruppen, die für die Ausübung von
„igtihäd" plädierten". Dabei könnte neben der Zugehörigkeit zu
einem madhab auch das unterschiedliehe Verhältnis zum Tradi¬
tionsmaterial die Ansieht der Gelehrten in dieser Frage geprägt
haben. Hallaq'* schreibt, daß Traditionalisten {ahi al-hadit) zu
den entschiedenen Gegnern des „igtihäd" gehörten, vergißt aber
daraufhinzuweisen, daß es in allen Rechtsschulen Verfechter des
Traditionsgedankens gegeben hat. Wie Generalisierung auch in
diesem Fall zu Fehleinschätzungen führen kann, zeigt das Bei¬
spiel des dem säfi'itischen madhab zuzuordnenden Traditionsge¬
lehrten Ibn Daqiq al-'Id (st. 702/1302), der immer wieder als
Befürworter des „igtihäd" zitiert wurde".
Möglicherweise spielt in diesem Zusammenhang auch die In¬
differenz eine Rolle, mit der in späterer Zeit zunehmend Fragen
der Zugehörigkeit zu einem madhab behandelt wurde. Ibn Hagar
(st 852/1449) kannte, wie auch andere Biographen und Chroni¬
sten seiner Zeit, im letzten Viertel des 8./1 4. Jahrhunderts eine
Reihe von Gelehrten, die sich gleichzeitig zwei Rechtsschulen
verbunden fühlten*". Daneben zeigt die Tatsache, daß die bedeu¬
tendsten Autoren der säfi'itischen Schule spätestens seit al-
Mäwardi (st. 460/1068) in den /«rü'-Kompendien die Fähigkeit
zum „igtihäd"''^ zu den Eigenschaften zählten, die ein qädi mit
ins Amt bringen sollte, daß von einer ausgeprägten „igtihäd" -
" Watt, The ciosing, S. 676.
" Bl. 2 a/1 3 ff.
" Schneider, S.212, spricht von Fraktionen in dieser Frage.
" Hallaq, Was the gate, S.7f
" Vgl. auch den Traktat Bl. 3 a.
'° z. B. Diyä'addln al-Qazwini, der Hanafit und zugleich Säfi'it war (vgl. Ibn Hagar: Inbä' al-gumar bi anhä' al-'umar. Kairo 1969, Bd.l, S. 183. Andere Bei¬
spiele ibid. S.81, 115, 167.)
" Die im folgenden erwähnten Autoren grenzen dabei „igtihäd" ausdrücklich nicht auf die Interpretation von Koran, Sunna und igmä' ein, s.u. Anm. 68.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek 343
Feindlichkeit im säfi'itischen madhab nieht gesprochen werden
kann*^
Beim Versuch, die anonyme Abhandlung literaturgeschichtlich
einzuordnen, war das Überwiegen von Zitaten säfi'itischer Auto¬
ritäten neben der Tatsache, daß der Autor nach dem jüngsten
zitierten faqih az-Zarkasi (st. 794/1392) geschrieben haben muß,
wichtigster Anhaltspunkt. Es konnte vermutet werden, daß der
kurze Text im Zusammenhang mit dem ebenfalls überwiegend
von Säfi'iten geführten mugaddid-D'isput steht. Da Galäladdin
as-Suyüti (st. 909/1505) in seiner Schrift ar-Radd seinen An¬
spruch auf die Position des Erneuerers der Religion mit seiner
Fähigkeit zum „igtihäd" begründet hatte", bot sich ein Vergleich
des Textes unserer Handschrift mit dem von HalIl al-Yasr edier¬
ten des Buches ar-Radd an, der tatsächlich eine Vielzahl von
Übereinstimmungen im Wortlaut zutage brachte. Differenzen in
der Anordnung der Textstellen sowie die Tatsache, daß die Hand¬
schrift Passagen aufwies, die in der Edition des Buches nicht zu
finden waren*", verboten es jedoch, die vorliegende Abhandlung
sicher as-Suyüti zuzuschreiben. Es konnte sich ebenso um eine
" Vgl. al-Mäwardi in: al-Ahkäm as-sultäniya. ed. M. Enger, Bonn 1853, S. HO.
Abu Ishäq as-Siräzi: at-Tanbih fi l-fiqh. ed. A. W.T. Juynbolu Batavia 1879,
S.313. an-Nawawi (st. 676/1277): Minhäg at-Tälibin (Le Guide des Zeles Croyants- Manuel de Jurispmdence Musulmane selon de Rite de Chäfi'i - Texte arabe, publie
par Ordre du Gouvernement avec Traduction et Annotations par L. W. C. van den
Berg). Batavia 1884, Bd.3, S.364 und Muhammad Samsaddin ar-Ramili (st.
1004/1595) in: Nihäyat al-muhtäg ilä sarh al-minhäg. Misr 1304/1887, Bd. 7,
S.321 sowie ibrähim al-Bagüri in seinen Glossen zum Fath al-qarib, einem Kom¬
mentar Ibn Qäsims (st. 918/1512) zum Kitäb at-Taqrib fi l-fiqh des Abü Sugä'
al-lsfahäni (Ende 6./12.Jh.) (vgl. Sachau, S. xx). Die Berechtigung des qädi zu
„igtihäd" fand zuvor schon Eingang in die kanonischen //arfi7sammlungen mit
der Tradition von Mu'äd b. Gabais Antworten auf die Frage des Propheten nach
den Rechtsquellen (vgl. Wensinck, Bd.l, S.390 und Bd. 8, S. 257-8), obgleich die Traditionskundler die Echtheit der Überlieferung anzweifelten (vgl. al-Guwaini:
Kitäb al-Igtihäd. ed. Abdalhamid Abü Zunair, Beirut 1987, S.75, Anm.2). Ibn
Qayyim al-Gauziya allerdings bringt Argumente für die Glaubwürdigkeit der ge¬
nannten Tradition. Vgl. Ibn Qayyim, Bd. 1, S.202. Wie in den erwähnten Büchem waren auch in der sl'itischen Rechtsliteratur die an einen qädi gestellten Anfor¬
demngen mit den zum „igtihäd" notwendigen Bedingungen fast identisch (vgl.
N.Calder, Doubt and Prerogative, S.76).
" Vgl. Hallaq, Was the gate, S.27-8. Landau-Tasseron, Cyclical Reform,
S. 87. Galäladdin as-Suyüti: ar-Radd'alä man ahlada ilä l-ard wa gahala anna
l-igtihäd fi kud 'asr fard ed. HalTl al-Yasr, Beirut 1984, S.8-19.
" Vgl. die Anmerkungen zur Edition des Ms.-Textes.
Schrift handeln, der as-Suyüti Gedanken für sein Buch entnom¬
men hatte, wie auch um ein Exzerpt aus as-Suyütis Buch, dem
Gedanken aus anderen Schriften eingearbeitet worden waren.
Nun, da die Auswertung der Quellen dafür spricht, daß
„igtihäd" als Mittel der Rechtsfindung weit über den von
Schacht und anderen für den „Torschluß" angenommenen Zeit¬
punkt hinaus Gegenstand des Gelehrtendisputs war, interessieren
u.a. die Fragen, ob Juristen den Terminus „igtihäd" stets in der¬
selben Bedeutung gebrauchten, ob die Verfahrensweisen, die mit
„igtihäd" umschrieben wurden, einem Wandel unterlagen, wel¬
che Aspekte des „igtihäd" unterschiedlichen Gelehrten am wich¬
tigsten schienen und welche Fraktionen sich bei der Behandlung
des „igtihäd" und mit ihm verbundener Detailfragen bildeten.
Zunächst seien einige Anhaltspunkte für die Existenz verschie¬
dener Auffassungen von „igtihäd" in der Entwicklung islamischer
Jurisprudenz hier kurz erwähnt*'. Bei as-Säffi wurde „igtihäd"
dem qiyäs, dem Analogieschluß aus den heiligen Quellen Koran
und Sünna, gleichgesetzt**. Az-Zarkasi (st. 794/1392) zitiert in
seinem Kommentar zum w^wZ-Buch Garn al-gawämi' as-Subkis
(st. 771/1370) eine Äußerung des Ibn Abi Huraira (st 345/956)",
in der dieser meint, as-Säffi habe „igtihäd" und qiyäs nieht un¬
terschieden. Das jedoch, so az-Zarkasi, sei unzutreffend. Er kor¬
rigiert dann Ibn Abi Huraira und sagt, as-Säff i habe beide Be¬
griffe nicht gleichgesetzt, vielmehr festgestellt, qiyäs und
„igtihäd" seien von derselben Bedeutung, weil beide zu einem in
den Quellen nicht zu findenden Urteil {hukm gair mansüs 'alaihi)
führen**.
Auch das unten edierte anonyme Manuskript behandelt
„igtihäd" und qiyäs als Begriffe unterschiedlichen Inhalts*'. In
den Ahkäm as-sultäniya al-Mäwardis (st. 460/1068) erscheint
„igtihäd" als eine von den Quellen unabhängige Entscheidung
Über unterschiedliche Auffassungen von „igtihäd" s. auch Hallaq, The
closing und, konzentriert auf das in den ujö/-Büchern immer wieder diskutierte Problem der Zulässigkeit eines prophetischen „igtihäd" neben der Offenbarung, E. Chaumont, Problematique, S. 81-101:
" fa mä al-qiyäs a huwa 'l-igtihäd am humä muftariqän qultu (as-Säß^i) humä ismän h ma'nä wähid. as-Säfi'i: ar-Risäla, S.66.
" Al-Hasan b. Abi Huraira al-Bagdädi, auch bekannt als Abü 'Ali,
U.R. Kahhäla: Mu'gam al-Mu'allißn. Damaskus 1957, Bd.3, S.220.
'8 Ms. Beri. 4402, B1.115a.
" Vgl. Bl.lb/10.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliotliek 345
des Richters™. Die Formulierung al-Mäwardis findet sich fast
wörtlich in den Ahkäm as-sultäniya^^ seines hanbalitischen Zeit¬
genossen al-Farrä' (st. 458/1056)" wieder.
In seinen Anmerkungen zur Erkenntnislehre des 'Adudaddin
al-igi macht van Ess auf eine weitere Definition des Begriffes
aufmerksam, welche die vom faqih aufgewandte Mühe und ihr
Ziel zugleich bestimmt: „Ictihad ist das Streben nach Wahr¬
scheinlichkeit {galabatu z-zann) wo es keinen Beweis gibt."
Dieser Gedanke ist, nach van Ess, bis zum Mu'taziliten und
Säfi'iten Qädi 'Abdalgabbär (st. 425/1025)" zurückzuverfolgen.
Bei einem der bedeutendsten Rechtsgelehrten und Theologen des
5. /II.Jahrhunderts, dem Imäm al-Haramain al-Guwaini (st.
478/1085) findet sich die von van Ess dem Qädi 'Abdalgabbär
zugeschriebene Deutung des „igtihäd"^'* ohne Quellenverweis.
Zur weiteren Erhellung des Problems unterschiedlicher Auffas¬
sungen von „igtihäd" sei abschließend mit der Darstellung des
igtihäd-Yerständnisses von az-Zarkasi ein kleiner Beitrag gelei¬
stet.
Die Untersuchung der Aussagen az-Zarkasis bezüglich des
„igtihäd" schien mir interessant, weil Watt ihn als einen der
(angeblich wenigen) Säfi'iten erwähnte, die gemeinsam mit den
Hanbaliten gegen die Meinung, der „igtihäd" sei unzulässig, po¬
lemisierten". Auch Hallaq bringt seinen Namen mit der Vertei¬
digung der Freiheit zum „igtihäd" in Verbindung'*. Doch kennen
beide die Aussagen az-Zarkasis nur in Vermittlung über die
Schriften as-Saukanis (st. 1248/1832).
wa 't-tälit (von den Bedingungen, die ein Richter im Amt zu erfüllen hat) 'ilmuhu bi ta'wil as-salaf ßmä 'gtama'ü 'alaihi wa ßmä 'htalafü ßhi liyatba' ab igmä'wa yagtahid ra'yahuß 'l-ihtiläf. al-Mäwardi, al-Ahkäm, S. 110 (vgl. igtihäd
als von Koran und Sunna unabhängige Rechtsentscheidung bei al-Mäwardi auch
Schneider, S.206).
" Ed. Muhammad Hamid al-FäqI, Beirut 1983, S.61.
" M.B.AL-HuSAiN, GAL Bd.l, S.398.
" Abü '1-Hasan al-Hamdäni. GAL Bd.l, S.418, Suppl. 1, S.343 (vgl. J. van Ess: Die Erkermtnislehre des 'Adudaddin abigi. Wiesbaden 1966, S.242).
Vgl. as-Sämd ß usül ad-din. 1. Kitäb ablstidläl. ed. H.Klopfer, Wiesba¬
den/Kairo 1960/1961, S.\5L: yaglub 'alä zann an-näzir auwalan amrß 'l-mugta-
hadßhi tumma yatbut bi daläla qäti'a annahü yagib 'alaihi al-'amal bimä galab
'alaihi zannuhü.
" Watt, Closing, S.676.
Hallaq, Was the gate, S. 26.
In seinem Rechtswörterbucli Qawä'id al-fiqh'^'' widmete az-Zar¬
kasi dem Begriff „igtihäd" einen umfangreiclien Artikel'*. Darin
finden sich keine Aussagen zum Disput um Zulässigkeit und Ver¬
werflichkeit des „igtihäd", auch werden keine zum „igtihäd" not¬
wendigen Fähigkeiten erläutert. Es wird davon ausgegangen, daß
der Richterspruch Resultat eines „igtihäd" sein kann. Der wesent¬
liche, alle Abschnitte des Artikels durchziehende Gedanke ist die
Frage, ob ein dureh „igtihäd" erreichtes Urteil annulliert (naqd)
werden kann. Die Antwort fällt in ihrer Tendenz negativ aus. Als
wichtigsten Grund für die Ablehnung der Annulierung von
„igtihäd" führt az-Zarkasi die Unbegrenzbarkeit solchen Verfah¬
rens an. Wäre es möglich, ein durch „igtihäd" gefundenes und
gesprochenes Urteil zu annullieren, so könne man ja aueh das
Resultat der Annullierung wiederum ungültig machen, eine Pra¬
xis, die letztlich zur Negierung aller nachkoranischen Urteile füh¬
ren müsse, zur Instabilität des Gefüges der Rechtsregeln. Deshalb
hätten sich die Gelehrten darauf geeinigt, daß alle Urteile, in
denen ein Entscheid nach „igtihäd" gesprochen werden kann,
nicht annulliert werden dürfen".
Ein von az-Zarkasi weniger vordergründig vorgetragener, je¬
doch nicht minder bedeutsamer Aspekt ist der der partiellen Zu¬
lässigkeit der Revision von Urteilen durch „igtihäd". Az-Zarkasi
betont die Tatsache, daß jeder „igtihäd" auf einem anderem grün¬
de und weist damit den Weg zu einer Neubewertung des einmal
durch „igtihäd" gelösten Problems: Statt den vermeintlich fehler¬
haften „igtihäd" zu annullieren, mit der fehlerhaften Lösung des
Problems also zugleich das Problem selbst zu beseitigen, prakti¬
ziert man erneut „igtihäd" und verfährt entsprechend der zweiten
Entscheidung. An einem Beispiel aus dem Bereich der kultischen
Bestimmungen ( 'ibädät) erläutert er das Gesagte : Wenn ein Mus¬
lim die Gebetsrichtung durch „igtihäd" bestimmen muß, kann er,
nachdem er festgestellt hat, daß die gewählte Richtung falsch ist,
" S. Anm. 6.
" Ms. Orient. A 978 (Gotha), B1.5a-5b.
" Ms. orient. A 978, Bl. 5 a/4-5 : wa yu 'addi ilä an lä yastaqirr al-ahkäm wa min tumma ittafaq al-'ulamä' 'alä an lä yunqad hukm al-häkim fi 'l-masä'il al-mugta- hada fihä. Der Gedanke taucht auch bei al-Gazäll auf: wa lau naqad al-igtihäd bi
'l-igtihäd la nuqida an-naqd aidan wa H tasalsul fa 'dturibat al-ahkam. al-Gazäli,
al-Mustasfä, Bd.l, S.382 (vgl. zu diesem Problem auch Schneider, S.190, 193,
224-7. M. H. Kamali: Appelate Review and Judicial independence in Islamic Law.
In: Islamic Studies (Islamabad), Vol. 29/3 (1990) S. 215-251.)
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forscliungsbibliothek 347
durch neuen „igtihäd" eine andere Gebetsrichtung bestimmen
und das solange wiederholen, bis er von der Richtigkeit der ge¬
wählten qibla überzeugt ist*".
Zu den wenigen Umständen, die sogar eine Annullierung des
„igtihäd" erlauben, gehören der offene Widerspruch zwischen
dem Urteil und einer koranischen Bestimmung wie auch die Ver¬
letzung der im Gerichtsprozeß zu beachtenden Gebote, die vom
qädi ausgeglichenen Gemütszustand und ausreichend gute kör¬
perliche Verfassung fordern. Das Urteil eines übelgelaunten Rich¬
ters z. B. kann so für ungültig erklärt werden*'.
Im Kommentar az-Zarkasis zum Garn' al-gawämi'' as-Subkis*^
ist der „igtihäd" Gegenstand des siebenten und letzten Kapitels.
Az-Zarkasi begründet die Erörterung des Begriffes am Schluß des
Buches damit, daß „igtihäd" auf allen zuvorgenannten Prinzipien
gründe*'. Auf den ersten Seiten des Kapitels macht der Kommen¬
tator az-Zarkasi die Bedingungen, welche ein zum „igtihäd" be¬
fähigter Gelehrter {mugtahid) aufweisen sollte, zum Gegenstand
seiner Ausführungen. Er beruft sich auf Aussagen al-Gazälis und
ar-Räzis (st. 606/1209), um nachzuweisen, daß über die normati¬
ven Texte - Koran, Sunna - und den Konsens {igmä) -*" hinaus
*° Ms. orient. A 978, B1.5a/10-1. Das Bestimmen der Gebetsrichtung (qibla)
ohne Orientierungsmöglichkeit, beilspielsweise auf Reisen in der Wüste, erscheint bereits bei as-Säfi'i als Beispiel für die Erneuerung eines „igtihäd" (vgl. as-Säfi'i, Risäla, S. 68) und wird von späteren Autoren, z.B. al-Gazäli, Bd.l, S.382, immer wieder angeführt.
" Ms. Orient A 978, B1.5a/27-8. Die Umstände, unter denen ein qädi vom
Rechtsspruch Abstand nehmen sollte, waren auch Gegenstand verschiedener Bü¬
cher zum normgerechten Verhalten des Richters (adab al-qädi). (Vgl. dazu Schnei¬
der, S. SOff).
" Vgl. Anm. 68. Frau Lüth von der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kul¬
turbesitz schulde ich Dank für die Bereitstellung von Kopien des Kommentars.
" innamä ahharahü (as-Subki) 'an al-gami' hanna 'l-igtihäd mutawaqqif 'alä ma'rifat al-adilla wa'alä ma'rifat at-ta'ädul wa 't-targih. In anderen wjü/-Büchern steht „igtihäd" ebenfalls am Ende der Ausführungen des Autors. Chaumont,
S. III, kommentiert diesen Umstand für al-Guwainis Burhän ß usül al-ßqh und
as-Siräzis Luma'ß usül al-ßqh wie folgt: „le Kitäb al-ijtihäd est explicitement
presente comme un appendice (mulhaq) du traite proprement dit. Toutes les
questions strictement techniques ... de la science des usül al-fiqh ont deja ete
abordees et chacune a repu une solution lorsque trouve place le chapitre de
l'ijtihäd." (vgl. auch al-Gazäli, Bd.2, S.350ff az-Zarkasi: Saläsd ad-dahab, ed.
Muhammad as-SinqIti, Kairo 1990, S. 437 ff. Ibn Humämaddin al-Hanafi (st.
861/1457): at-Tahrir. Ms. Beri. Ahlw. 4416/Spr. 604, B1.131bff.).
" dald näqd min nass wa igmä'. Ms Berl. 4402, Bl. 116a.
auch die Sicht des Richters*' Bestandteil der Rechtsfindung sein muß.
In den Erläuterungen zu as-Subki nimmt die Frage nach dem
ersatzlosen Widerrufen eines durch „igtihäd" gefundenen Urteils
wie in den Qawä'id verhältnismäßig großen Raum ein. Aus der
Gegenüberstellung unterschiedlicher Auffassungen zur Annullie¬
rung des „igtihäd", die az-Zarkasi hier zitiert,, ergibt sich der
Schluß, daß „igtihäd" in bestimmten Fällen wiederholt und sein
Ergebnis auf diese Weise verändert werden kann**, daß jedoch
ein durch „igtihäd" gewonnenes Urteil nicht annulierbar ist*'. Als
Beispiel für Revidierbarkeit eines „igtihäd" erscheint u.a. das Ur¬
teil eines Hanafiten über die Gültigkeit einer ohne zustimmenden
Vormund {walC) geschlossenen Ehe, welches unter bestimmten
Umständen durch den „igtihäd" eines Säfi'iten neu bewertet wer¬
den kann**.
Weitere Anhaltspunkte zur Bewertung des „igtihäd" durch az-
Zarkasi finden sich im m5ü/- Handbuch Saläsil ad-dahab^'^, in dem
grundsätzliche Fragen behandelt werden, wie z. B. die, ob jeder
„igtihäd" praktizierende Gelehrte die richtige Entscheidung tref¬
fen kann, oder ob es nur eine richtige Entscheidung gibt'". Daran
anknüpfend erörtert az-Zarkasi die Frage, wie sich ein Muslim
verhalten soll, wenn zwei zum „igtihäd" zugelassene Gelehrte, die
sich in ihrer Vertrauenswürdigkeit nicht unterscheiden, bezüglich
seiner Anfrage zu verschiedenen Ergebnissen kommen". Am En¬
de seiner Ausführungen zu diesem Thema bringt er die unkom¬
plizierte Antwort, die er dem Opus eines ungenannten faqih ent¬
nimmt: Der Gläubige solle die Entscheidung vorziehen, die er für
richtig hält'l Die Zulässigkeit des „igtihäd" wird hier gar nicht
zum Gegenstand der Diskussion gemacht.
" ad-dalil al-'aqli aiy al-bara'a al-asliya, ibid.
Ms. Berl. Ahl. 4402, Bl. 123 a.
" Ms. Berl. Ahl. 4402, Bl. 122a/12ff.
" Ms. Berl. Ahl. 4402, Bl. 123a/10ff.
" s. Anm. 83.
'° mas'ala al-musib min al-mugtahid ß 'l-i'tiqädät wähid, az-Zarkasi, Saläsil,
S.442. In al-Guwainis K. abigtihäd nimmt die Behandlung dieser Frage großen
Raum ein (vgl. al-Guwaini, Igtihäd, S. 26-61) und wird in den Zusammenhang mit der Diskussion um Willensfreiheit gestellt.
Az-ZarkasI, Saläsil, S.452f
" wa 'l-asahh an ya'hud bimä sä'a, az-Zarkasi, Saläsil, S.453.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek 349
Die Gedanken der referierten Quellen zusammenfassend", läßt
sieh feststellen, daß az-Zarkasi mit der Darstellung des „igtihäd"
für eine selbständige Rechtsentscheidung durch den Richter plä¬
diert, jedoch zugleich auf die Wahrung der durch Koran und
Sunna, aber auch die Entscheidungen früherer Richter geformten
Rechtstradition bedacht ist. Die Ausführungen az-Zarkasis kön¬
nen als Versuch gewertet werden, den Ausgleich zwischen not¬
wendiger Flexibilität der Rechtsentscheidung (Zulässigkeit des
„igtihäd") und Wahrung des traditionellen Kontextes (Unzuläs¬
sigkeit der Annulierung eines „igtihäd") islamischer Rechtswis¬
senschaft zu finden. Az-Zarkasi stützt sich dabei zwar auf Zitate
aus Werken der bedeutendsten Autoren der säfi'itischen und der
mälikitischen Schule''', setzt aber durch deren Auswahl und An¬
ordnung Schwerpunkte, die erkennen lassen, welehe Aspekte des
„/^///!äi/"-Problems ihm selbst am wichtigsten scheinen.
Nur kurz soll hier noch daraufhingewiesen werden, daß in den
nicht die usül al-fiqh behandelnden Büchern einiger Zeitgenossen
az-Zarkasis Regeln für einen freien Rechtsentscheid formuliert
wurden, die unterstreichen, daß man „igtihäd" nicht ablehnend
gegenüberstand. At-Tarsüsi (st. 760/1358) z.B. erlaubte dem qädi
und mugtahid im Abschnitt über das Verhalten des Richters
{adab al-qadä') seiner Aktenkunde sogar, gegen die Regeln seines
madhab zu urteilen und berief sich dabei auf eine Aussage des
Abü Hanifa". Auch bei der Entscheidung über die Haftdauer
eines Schuldners sollte nach at-Tarsüsi der Richter seinem eige¬
nen Eindruck entsprechend entscheiden'*.
Die von Hallaq gebrachten Beispiele für die Auseinanderset¬
zung mit dem Phänomen „igtihäd" auch in späteren Jahrhunder¬
ten sind zahlreich". Das Spannungsfeld zwischen selbständiger
" Auch im «jüABuch al-Bahr al-muhit az-Zarkasis finden sich Artikel zum
„igtihäd". Es war mir, da bisher noch nicht ediert, bei der Erarbeitung des Bei¬
trages nicht zugänglich.
" Z.B. Ibn al-Hägib (st. 646/1248).
" GuELl.lL, s.334. Allerdings berichtet Ibn Qädi Suhba von Tribunalen, vor denen sich einzelne Rechtsgutachter wegen der Überschreitung von Schulgrenzen in einem fatwä zu verantworten hatten. So mußte im Jahre 786/1384 der maliki¬
tische Richter Gamäladdin b. al-Hair sein Amt aufgeben, nachdem andere Rich¬
ter seiner Rechtsschule die Fehlerhaftigkeit eines seiner Rechtsgutachten bestätigt hatten. Ibn Qädi Suhba, S. 135.
Guellil, S.31 8: hädä kulluhü yargi' ilä igtihäd al-qädi.
" Hallaq. Was the gate, 28 ff
Rechtsentscheidung und unkritischer Übernahme früherer Ge¬
lehrtenmeinungen {taqlid) wurde öfter als andere Probleme der
Rechtstheorie in kurzen, in sich geschlossenen Abhandlungen
thematisiert. Bei Durchsicht der Handschriftenkataloge im Där
al-kutub zu Kairo stieß ich auf bislang noch nicht publizierte
Traktate kleineren Umfangs, die sich in weiterem Sinne mit
„igtihäd" beschäftigen'*. Doch auch die Autoren größerer usül-
Bücher behandelten „igtihäd" weiterhin als bedeutsames Ele¬
ment ihrer Wissenschaft".
Auch von muslimischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts wurde
„igtihäd" immer wieder als Argument für Flexibilität und Moder¬
nität der islamischen Lehre im allgemeinen und islamischer
Rechtssprechung im besonderen genutzt. In historischen Studien
machten so Autoren wie Muhammad Sälih Mijsä Husain'°° und
Muhammad Abu Zahra'°' die Anwendung des „igtihäd" in allen
Phasen der islamischen Geschichte zum Ausgangspunkt von Aus¬
führungen, in denen die Bedeutung des „igtihäd" für eine zeitge¬
mäße und situationsbezogene Rechtssprechung herausgestellt
wurde. Die /4z/?ar-Gelehrten al-Fädil b. Ashur und Muhammad
Nür al-Hassan stellten Zitate aus Koran, Hadit und ßqh-Kom-
pendien zusammen, die Gottgefälligkeit und Nützlichkeit des „ig¬
tihäd" nachweisen sollten und die Frage, ob jedes Zeitalter seine
zum „igtihäd" befähigten Gelehrten {mugtahid) habe, positiv be¬
antworteten'"^.
Zu den muslimischen Autoren, die „igtihäd" als Schlüssel zu mo¬
derner islamischer Rechtssprechung sahen, gehörten Abu A'lä al-
MaudüdI und 'Umar Jäh. al-Maudüdi, herausragender Vertreter
des islamischen Staatsgedankens, widmete dem „igtihäd" ein eige-
Ms. usül Taimur 94 (Ich hoffe, diese Abhandlung bald einem größeren Le¬
serkreis zugänglich machen zu können). Ms. usül Taimur 125 (Risälaß l-taqlid).
Ms. usül Taimur 166 (at-Taßmß l-igtihäd wa 1-taqlid).
" Ibn Humämaddin al-Hanafi (st. 861/1457), At-Tahrir (über hanafitische und säfi'itische Rechtsprinzipien), Ms. Berl, Ahlw. 4416/Spr. 604, Bl. 131b. AL-'Ämili (st 1011/1602), Ma'älim, B1.79bff
'°° Muhammad Sälih Müsä Husain: al-Igtihädß 's-sari'a 1-islämiya. Damaskus 1989.
Muhammad Abü Zahra: Tärih al-madähib al-islämiya. Kairo o.J.
Al-Fädil b. Ashur, Muhammad Nür al-Hassan: Al-Idjtihad ... Past and
Present. In: AI Azhar - The First Conference of Islamic Research (Kairo)
1381/1964. (Den Hinweis auf diese beiden Artikel verdanke ich Herm Dr. Seba¬
stian Günther, Halle.)
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forscliungsbibliothek 351
nes Kapitel in seiner Konzeption vom muslimischen Gemeinwe¬
sen'"'. Umar Jah'"" bezeichnete „igtihäd" als „vehicle for the devel¬
opment of Islamic Law" und forderte die fuqahä' der Gegenwart
auf, sieh den Herausforderungen der modernen Gesellschaft durch
von den Quellen unabhängige Rechtsentscheidung {igtihäd) zu
stellen. Zugleich führte er sozialgeschichtliche Aspekte in die Un¬
tersuchung des „/^//7jfli/"-Begriffes ein.
Die Erkenntnis, daß Erörterung und Praktizierung von
„igtihäd" nicht durch „Torschluß" unterbrochen wurde, darf
nicht mechanisch die Umkehrung aller mit dem „Torschluß"-Po-
stulat verbundenen Gedanken nach sich ziehen'"'. Vielmehr muß
künftiger Untersuchung die Beantwortung der Frage überlassen
bleiben, inwieweit islamische Jurisprudenz in der Lage war, sich
in unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung aufgrund prakti¬
scher Erfordernisse von den Vorgaben älterer Gelehrtengeneratio¬
nen zu lösen'"*. Auch sollte im Zusammenhang mit dem
„igtihäd"-Begnf( der Terminus Methodologie"" noch vorsichtig
gebraucht werden. Ich habe oben versucht zu zeigen, daß die
fuqahä' unterschiedlicher Epochen und Schulen „igtihäd" auch
unterschiedlich auffaßten, von einer festgefügten Methodenlehre
zunächst nicht die Rede sein kann.
In der Diskussion um „igtihäd", in der sich die noch bedeuten¬
dere über die Anpassungsfähigkeit islamischer Rechtslehre an
Abu 'l-A'lä al-Maudüdi: The Islamic Law and Constitution. Lahore o.J.,
72-92.
'Umar Jäh: The Importence of Ijtihäd in the Development of Islamic Law. In:
J. of Islamic Comparative Law 7 (1977), S.31-40.
Ansatzweise findet sich diese Einstellung in einem Artikel G. Makdisis, in dem „igtihäd", mit „Lehrfreiheit" gleichgesetzt, die These von der Unabhängig¬
keit der fuqahä' im mittelalterlichen Schulbetrieb stützen soll. Am Schluß der Abhandlung relativiert Makdisi jedoch diesen Ansatz durch Beispiele für die Ab¬
hängigkeitsbeziehung, in der sich Gelehrte späterer Zeit oft zu den weltlichen Autoritäten befanden. (G. Makdisi: Freedom in islamic jurisprudence-Ijtihäd,
Taqlid, and academie freedom. In: La Notion de liberte au Moyen Age: Islam,
Byzance, Oeeident. The Penn-Paris-Dumberton Oaks Colloquia, IV, Session des
12-15 Octobre 1982, ed. G. Makdisi et al., Paris 1985, S. 79-88, vor allem S.81.) Die Argumentation für die Zulässigkeit von „igtihäd" selbst scheint lange Zeit wenig kreativ gewesen zu sein, man führte immer wieder dieselben Argumen¬
te ins Feld ohne erkennbaren Zusammenhang mit dem sich wandelnden rechts¬
praktischen Kontext. Vielleicht relativieren künftige Studien zur Einbettung der Sicht auf „igtihäd" in einen bestimmten geschichtlichen Zusammenhang diesen Eindruck.
Hallaq, Was the gate, S. 32.
konkrete geschichtliche Gegebenheiten bündelt, stehen wir noch
am Anfang. Doch wäre es ein schöner Erfolg der bislang zum
Thema vorliegenden Studien, wenn die Verfasser von Überblicks¬
darstellungen der islamischen Reehtsgeschichte den Entwick¬
lungsaspekt dieses Stoffes künftig differenzierter behandelten.
Das Wort vom „Torschluß" ist nicht geeignet, irgendeine Etappe
der Herausbildung islamischer Jurisprudenz und ihrer Wirkung
auf die Praxis adäquat zu beschreiben.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek
Gotha (Blätter lb-5b)
Der Text liegt in gut lesbarem Nashi auf glattem, mattglänzen¬
dem Papier geschrieben vor. Absätze werden durch die Verwen¬
dung roter Tinte hervorgehoben. Die Blätter haben einen Umfang
von ca. 18,5 cm mal 14,0 cm, der Schriftspiegel umfaßt 11,5 cm
mal 9,5 cm. Jede Seite hat 15 Zeilen. Blatt 5 ist unwesentlich
beschädigt
Es gibt kaum orthographische oder syntaktische Besonderhei¬
ten. Ungewöhnlich oft fehlt nur der Punkt über dem Buchstaben
däl. Offenbare Flüchtigkeitsfehler des Schreibers wurden still¬
schweigend korrigiert. Aus Parallelquellen oder dem Sinnzusam¬
menhang ergänzte korrupte Stellen werden durch lateinische
Buchstaben bezeichnet.
Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek 353
Blatt 1 b
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Zeile 3: az-Zarkasi, Qawä'id al-fiqh. Ms. Orient A 978 (Gotha), Bl. 120 a/8 ff.
Z. 7 „wa bi 'l-gumla ..." - 11 „bi sadad kull hädita igtihäd": as-Sahrastäni, Milal, S.37-8.
"° Z. 11 „tamma 'l-igtihäd" - „mutamäUla" (bei as-Sahrastäni „fä'ila") : as-Sah¬
rastäni, S.44 und sinngemäß in as-Suyüti, ar-Radd, S.74 und S.77;