Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer zugleich eine weitere Ergänzung zu Alt's Aufsatz über eherne Mauern
im Altertum, in dieser Zeitschrift Bd. 86 (N. F. Bd. 11) S. 33 ff.
Von P. Jensen.
Oben auf S. 68 in Heft 1/2 des Bandes 87 (N. F. Bd. 12)
dieser Zeitschrift habe ich zu den Ausführungen von Alt in
Bd. 86 (N. F. Bd. 11), S. 33ff., dieser selben Zeitschrift über
eherne Mauern im Altertum eine Ergänzung gegeben, in der
ich auf die eherne Mauer um die Insel des Aeolus hinwies.
Ich bedaure es, dabei vor allem übersehen zu haben, daß die
griechische Literatur noch eine weitere eherne Mauer kennt,
nämlich die mit Erz übergossene um Piatos Atlantis-Stadt,
außer der Mauer von Goldkupfererz um deren Burg (s. Piatos
Critias, Übersetzung von Apelt, S. 203). Ob nun etwa spe¬
ziell zwischen den Überlieferungen von diesen beiden ehernen
Mauern Beziehungen bestehen oder nicht, ob beide schlie߬
lich, unabhängig voneinander, auf dem gleichen Motiv von
ehernen als besonders starken und darum besonders schätz¬
baren Mauern') entsprungen sind, läßt sich natürlich nicht
alsbald mit Homer und Plato allein entscheiden. Doch liegen
Dinge vor, die für eine Entscheidung in Betracht kommen
(S.u. S.62ff.).
In der Hauptsache habe ich im folgenden den Nachweis
dafür zu liefern versucht, daß Piatos Mitteilungen über die
Atlantis-Insel auf die babylonische Sage vom Seligen-Heim,
(dies vermutlich im fernsten Westen) zurückgehen und somit
ganz sagenhaft sein könne und ohne irgendeinen Anhalt an
der Wirklichkeit. Zu diesem Zwecke habe ich einerseits Be-
1) Vgl. W. Hklbio, Das Homerische Epos*, S. 94.j
56 P- Jensen, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer.
Ziehungen zwischen diesem Seligen-Heim und der Atlantis
und andererseits solche zwischen dieser und dem Aeolus- und
dem Phaeacen-Abenteuer in der Odyssee aufzuweisen ver¬
sucht, die ihrerseits auf die Erlebnisse Gilgamef bei dem
Sintflut-Helden im Seligen-Heim zurückgehen sollen und
zurückgehen.
Im babylonischen GilgameS-Epos, Tafel Xf. (wozu jetzt
Alb. Schott in dessen Reclam-Ausgabe) wird erzählt, wie
dessen Held GilgameS, nach seines Freundes Enkidu Tod,
sich auf die Reise zu seinem in Weltabgeschiedenheit lebenden
Ahnherrn, dem Helden der Sintflut, Utnapistim-Xisuthros (wie
ihn Berosus nennt) begibt und mit dem Schiffer des Xisuthros
in jenes schnellem Schiffe zu Xisuthros als dessen äußerst un¬
willkommener Gast gelangt und ihn als ein ebensolcher nachher
mit dem Schiffer zusammen wieder verläßt. Dieser Xisuthros
ist zu seinem menschenfernen Wohnsitz, wohl im äußersten
Westen, nach der Sintflut {GilgameS-Epos, Tafel XI) ver-
göttlicht, von den Göttern entrückt worden und teilt nun
seinen Wohnsitz mit Göttern bzw. den Göttern, so auch
mit seinem göttlichen Freunde Ea, dem Gotte des Meeres.
Von diesem Xisuthros vernimmt nun GilgameS, und so die
Welt, die Geschichte von der Sintflut und der Vergöttlichung
und Entrückung des Sintflut-Helden. Und diese Sage von
GilgameS erscheint nun nach meinen Ermittlungen (s. zuletzt
mein Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur, II, 176 ff.), nach
einem Durchgang durch Israel, zweimal in der Odyssee ver¬
treten, nämlich einmal in deren erster Hälfte, in dem Teil,
den ich Odyssee I nennen muß (vom Ciconen-Abenteuer bis
zur Necyia und Rückkehr des Odysseus zur Circe), und weiter
in der zweiten Hälfte der Odyssee, in dem Teil, den ich
Odyssee II nennen muß (von der endgültigen Abfahrt von
der Circe bis zu der Heimkehr des Odysseus und seinem
Kampf mit den Freiern). — In Odyssee I steht die Aeolus-
Episode an einer Stelle der Gesamtheit, die der von Gilga¬
meS^ Aufenthalt bei Xisuthros im Götterlande wenigstens
entsprechen könnte. Und die eherne Mauer um die Aeolus-
Insel und der glatte Fels, auf dem sie ruht, können ein Aus-
p. Jensek, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer. 57
druck für die Unnahbarkeit des babylonischen Götter- und
Seligenlandes sein. Vgl. die ehernen Wände oder Mauern im
Phaeacen-Palast, wozu unten S. 62. Und Aeolus, der Freund
der Götter, mit seiner Familie bilden eine glückliche Familie,
wie die des seligen Xisuthros, des Freundes der Götter. Und
dem Odysseus, der den Aeolus aufsucht und sein Gast ist,
aber nachher durch einen Fluch von seiner Insel verwiesen
wird, entspricht im GilgameS-ETpos dessen Held, der bei
Xisuthros als unwillkommener Gast anlangt und nach einem
Fluch des Xisuthros dessen Wohnsitz wieder verlassen muß.
Hierzu s. in der Hauptsache schon mein Gilgamesch-Epos in
der Weltliteratur II, 197 ff.
Eben die in Rede stehende Xisuthros-Sage kehrt, wie
gesagt, in Odyssee II wieder, nämlich in der Phaeacen-Epi-
sode, an einer Stelle im griechischen Epos, wo gerade die
Xisuthros-Episode ihr Gegenstück haben müßte. In unserer
Phaeacen-Episode ist das menschenferne Land der Phaeacen
ein treffliches Gegenstück zu dem menschenfernen Wohnsitz
des Xisuthros. Und die Unnahbarkeit von Scheria, das zu
erreichen aber dem Odysseus gelingt, spiegelt ebenso die Un¬
nahbarkeit des Wohnsitzes des Xisuthros wieder, das zu er¬
reichen aber dem GilgameS gelingt, wie seine Ummauerung
mit langen hohen Mauern (Odyssee 7, 44f.), mit Mauern, auf
die andere Städte verzichten (Hklbig, Das homerische Epos^,
S. 94f.). Und die schnellen Schiffe der Phaeacen, auf deren
einem Odysseus von Phaeacen-Schiffern in einer Nacht
nach Hause gebracht wird, entsprechen deutlichst dem schnel¬
len Schiffe von Xisuthros' Schiffer, der GilgameS in kürzester
Frist, in ungewöhnlich kurzer Fahrt, zu Xisuthros hinüber¬
fährt und mit dem er nachher wieder die Heimfahrt antritt.
Und in den glücklichen, gottnahen, den Göttern befreundeten
Phaeacen mit ihrem Könige Alcinous erkennen wir alsbald
die seligen Bewohner des Xisuthros-Landes und speziell den
vergöttlichten Götterfreund Xisuthros wieder. S. hierzu in
der Hauptsache mein oben genanntes Gilgamesch-Epos usw.
II, 176 ff. und im vorigen Abschnitt das Aeolus-Abenteuer.
In diesem oben genannten Buche II, 224 ff. habe ich
58 P- Jbnsbn, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer.
weiter in einem Kapitel über den „Wohnsitz des entrückten
Xisuthros, die Phäaken-Insel Scheria, Tartessus und die
Insel Atlantis" die Vermutung auszusprechen gewagt, daß
auch die Atlantis-Sage letzten Endes aus der Sage von dem
entrückten Xisuthros und seinem Wohnsitz abgeleitet sei.
S. zu dieser Sage Piatos Timaeus und Critias (Übersetzung
von Apelt) und dazu Hans Herter, Piatons Atlantis in den
„Bonner Jahrbüchern", Heft 133, S. 28fF. Zur Begründung
meiner Vermutung über die Atlantis-Sage ließe sich zunächst
vorbringen :
Wie der Wohnsitz des entrückten Xisuthros, so liegt die
Atlantis weit entfernt von den Stätten der Menschen, und
mit großer Wahrscheinlichkeit haben wir, wie die Atlantis,
so auch den Wohnsitz des Xisuthros im fernsten Westen zu
suchen. Die Atlantis ist von besonders glücklichen Menschen
bewohnt, und der Wohnsitz des Xisuthros ist ein Aufent¬
haltsort von Seligen. Daß die Atlantis zu den Wohnsitzen des
Meergottes Poseidon gehört, und der Wohnsitz des Xisuthros
ein solcher auch gerade des Meergottes Ea ist, gehört aber
nur zu den Koinzidenzen von geringerer Bedeutung. Wich¬
tiger jedoch scheint zu sein, daß nach Piatos Critias (Über¬
setzung von Apelt, S. 199) die Atlantis bewohnt wird von
einem der zu Anfang dort aus der Erde entsprossenen Männer,
nämlich Euenor, dem Sohne des Poseidon und dessen Gattin
sowie von deren einziger Tochter, daß aber gemäß der
Version des Berosus nach der Sintflut zum Seligen-Lande
entrückt werden Xisuthros, der Freund des Meergottes Ea,
und seine Gattin nebst deren beider Tochter, doch wohl
einziger Tochter. Nach dem Tode des Euenor und seiner
Gattin sichert Poseidon deren Tochter durch eine starke
Schutzwehr so, daß ihr Wohnsitz (für Menschen) unzugäng¬
lich wird (Piatos Critias, Übersetzung von Apelt, S. 199).
Und von dem Wohnsitze des Xisuthros wissen wir, daß er
unnahbar und unzugänglich für die Menschen sein soll.
Von der Atlantis wird gesagt, daß sie von einer großen
Flut — infolge eines Erdbebens — überflutet worden (Piatos
Critias, Übersetzung von Apelt, S. 192) und so mit ihren
p. Jensen, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer. 59
Bewohnern untergegangen sei. Ganz Derartiges bietet die
Xisuthros-Sage nun nicht, doch aber Anklingendes. Denn
Xisuthros ist ja der Sintflut-Held, der die Sintflut erlebte
und danach zu dem Lande entrückt wurde, dem die Atlantis
möglicherweise entspricht. So daß also die babylonische Sage
(GilgameS-'Epoa, Tafel XI) von einer Sintflut berichtet,
welche die ganze Erde überflutet und die ganze übrige
Menschheit dahinrafft, außer Xisuthros und seinen Angehöri¬
gen, der zu einem glücklichen Wohnsitz in der Ferne ent¬
rückt wird, Plato aber von einer glücklichen Insel Atlantis
im fernen Westen erzählt, die selbst von einer Flut über¬
flutet wird, mitsamt ihren Bewohnern. Somit finden wir in
der Atlantis-Sage dieselben Elemente wie in der babyloni¬
schen Flut-Sage, nur in anderer Weise miteinander verknüpft.
Die Stelle, an der sich einst die Insel Atlantis befunden
hat, wird gekennzeichnet durch eine Schlammasse, die jedes
Weiterfahren hindert (Critias, Übersetzung von Apelt,
S. 192). Ehe andererseits GilgameS zu Xisuthros gelangt,
dessen Land ja vielleicht durch jene Insel Atlantis repräsen¬
tiert wird, deren einstige Stelle durch die oben besprochenen
Schlammassen angedeutet wird, muß er durch die gefähr¬
lichen Wasser des Todes, die dem Xisuthros-Lande vor¬
gelagert sind und die dessen Erreichen sehr schwierig machen.
Man mag diese Berührungen zwischen den beiden Sagen als
bedeutungslos beiseite schieben. Immerhin darf man nicht
leugnen, daß die beiden oben erwähnten Berührungen zu¬
sammen ernst genommen werden dürfen, sofern wir über¬
haupt die Berechtigung dazu haben, die Atlantis-Insel und
den Wohnsitz des Xisuthros versuchsweise miteinander zu
identifizieren. Vor allem glauben wir, die Identität der beiden
Flut-Sagen doch in ernstliche Erwägung ziehen zu dürfen,
schon weil die Abweichung der Atlantis-Sage bezüglich der
Verknüpfung der Einzelteile, der GilgameS-Saige und der
Flut-Sage auch sonst belegbar ist, in gleichartigen Abwei¬
chungen, ob diese nun gleichen Ursprungs sind oder nicht:
In Nr. 6 der Buddhistischen Märchen („Märchen der Welt¬
literatur"; Die glückliche Insel), einem anscheinend ganz
60 P- Jbnsen, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer.
fraglosen Absenker von GilgameS^ Reise zu Xisuthros und
der ihm von diesem erzählten Sintflut, werden die in der Sint¬
flut Untergehenden von der Sintflut erfaßt auf einer von
ihnen aufgesuchten Insel, die in dem Märchen dem
späteren von GilgameS aufgesuchten Wohnsitz des Xisuthros
entspricht. Indem ich andere Märchen-Parallelen übergehe,
erwähne ich doch noch das ägyptische Märchen auf S. 17 der
Altägyptischen Erzählungen und Märchen („Märchen der
Weltliteratur"; Die Schiffbrüchigen auf der Dracheninsel),
vielleicht auch ein Echo von Gilgamefs Besuch bei Xisuthros
und der Sintflut, ein Märchen, in dem die Insel des prä-
sumptiven Xisuthros ins Meer versinkt, nachdem der prä-
sumptive GilgameS sie wieder verlassen hat.
Trotzdem werden wir, scheint's, gut tun, wenn wir die
Parallelen in dem indischen und in dem ägyptischen Märchen
nicht, wie oben vorgeschlagen, ausnützen. Denn dem ägyp¬
tischen Märchen an sich ließe sich ja recht wohl entnehmen,
daß der Erzähler die Insel vom Meere verschlungen werden
läßt, nachdem der Besucher deren göttlichen Herrn ver¬
lassen, einfach, damit er sie nie wieder aufsuchen könne. Und
das ist ein Motiv, das sich ebenso gut und besser geradeswegs
aus dem GiZga/we^-Xisuthros-Abenteuer allein, ohne eine
Kombination mit der Sintflut-Sage erklärt, aus dem Gil-
game^-Xisuthros-Abenteuer, in dem GilgameS als ein höchst
unwillkommener Besucher des Xisuthros-Heimes erscheint,
das er fraglos nie wieder betreten soll und wird, so wenig wie
andere nach ihm. Und wir werden somit aus dem Versunken¬
sein der Atlantis-Insel im Meere, falls wir überhaupt die
Atlantis-Sage wenigstens in der Hauptsache mit Recht so
deuten, wie wir es zu tun versuchen, auch entnehmen dürfen,
daß sie nach der Sage letzten Endes versunken ist, damit sie
den Menschen entschwinde, und so wäre also die versunkene
Atlantis-Insel als ein versunkenes Xisuthros-Heim ein, wenig¬
stens äußerliches, Gegenstück zu dem Phaeacen-Lande
Scheria, nach oben S. 57 auch einem Abbild des Xisuthros-
Heimes, das, als die Phaeacen-Schiffer von der Heimbringung
des Odysseus zurückkehren, hinter einem großen Berge ver-
p. Jenskn, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer. 61
schwindet. Falls wir nicht gar, ohne Rücksichtnahme auf das
GilgameS-Epos, annehmen dürfen, daß die Sage die Atlantis
hat im Meere verschwinden lassen, weil sie als eine Insel der
bloßen Phantasie — in der Welt der Wirklichkeit unauf¬
findbar war.
Und doch mahnt uns eine Tatsache, zu unserer ersten
wegen des Untergangs der Atlantis geäußerten Vermutung
noch einmal zurückzukehren und sie wenigstens als eine Ver¬
mutung von mehreren möglichen auch in Geltung zu erhalten :
Die babylonische Sintflut stellt sich als eine Strafe für die
darin Untergehenden dar, beschlossen in einer Götterver¬
sammlung. Genau das gleiche aber gilt von der Flut, welche
die Atlantis und ihre Bewohner hinwegrafft (Critias bei
Apelt, a. a. 0., 210 f.). Also die Atlantis-Katastrophe doch
wenigstens auch ein Widerhall der Sintflut, die Xisuthros
nach dem GilgameS-Epoa erlebte?
Ob nun unsere oben S. 58 f. vorgebrachten Zusammenstel¬
lungen berechtigt sind oder nicht, ob die Atlantis ein Abbild
des Xisuthros-Heimes ist oder lediglich sein könnte, dieses
,,könnte" wird man schon jetzt nicht bestreiten dürfen.
Wir haben demnach 1. oben auf S. 56f. auf zwei Wider¬
spiegelungen des babylonischen Seligen-Heims in der Odyssee
hinweisen können und 2. als wenigstens möglich auf eine
dritte in der Atlantis-Sage. Vorausgesetzt nun, daß die zwei
Absenker in der Odyssee oder wenigstens einer von ihnen
etwa mit der Atlantis-Sage eine gemeinsame Entwicklung
durchgemacht hätten, so wäre es als wenigstens möglich zu
erwarten, daß die zwei Sagen oder doch eine von ihnen bei
Homer Züge aufwiesen, die wir auch in der Atlantis-Sage
finden, und eine solche Gemeinsamkeit würde die Bestim¬
mung der Atlantis-Sage als einer Xisuthros-Heim-Sage
ebenso wie die zwei homerischen Sagen bekräftigen:
Zwischen der Phaeacen-Sage und der Atlantis-Sage sind
nun allerdings die Berührungen nur geringfügig: Beide sind
an Länder oder spezieU Inseln geknüpft, die in der fernsten
menschenfernen Welt, dabei wohl beide im Westen liegen,
und auf denen eine Schifferbevölkerung wohnt. Daß die
62 P- Jensen, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer.
Phaeacen-Stadt hinter einem großen Berge verschwindet und
die Atlantis vom Meere überflutet wird, eine anscheinend
bedeutsame Parallelität, dürfen wir aber nach oben S. 59 ff.
nur bedingt als eine solche ansprechen. Anders steht es mit
der Aeolus- und der Atlantis-Sage. Von Aeolus, dem Be¬
herrscher der Aeolus-Insel, erzählt Homer, daß er sechs
Söhne und sechs Töchter hatte, die sechs Ehepaare bildeten
Plato aber berichtet, daß Poseidon, der Herr der Atlantis,
dort fünf Zwillingssöhne hatte (Critias, Übersetzung von
Apelt, S. 199 unten). Somit soll der erstere sechs, der zweite
aber fünf Kinder-Paare gehabt haben. Und von der Aeolus-
Insel heißt es bei Homer, daß 1. ein glatter Fels emporlief,
offenbar der, welcher die Insel oder die Stadt trug, und daß
2. eine eherne unzerbrechliche Mauer die Insel umgab; vgl.
oben S. 57 zum Phaeacen-Abenteuer, und Plato läßt anderer¬
seits 1. den Hügel, auf dem Poseidons Geliebte und die
Mutter seiner Zwillingspaare wohnen, von Poseidon geglättet
und 2. die Atlantis-Stadt von einer mit Erz begossenen
Mauer umgeben sein (Critias bei Apelt, a. a. 0. S. 199 und
S. 203). Dies die Tatsachen: Einige Ähnlichkeiten zwischen
Homers Aeolus-Insel und Piatos Atlantis-Insel sind da. Wie
sind sie zu beurteilen? Zufall oder nicht? Die verhältnis¬
mäßige Geringfügigkeit der Koinzidenzen muß uns einen Zu¬
fall als durchaus möglich erscheinen lassen, da doch die
Zahl und die Art der Kinderpaare in beiden Sagen nicht
ganz die gleiche ist und da die Glätte des Felsens und die
eherne Mauer in beiden Sagen voneinander unabhängige
Erfindungen sein könnten, die die beiden Inseln als besonders
gut geschützt erscheinen lassen sollten. Vgl. oben S. 55.
Wenn nun aber doch nicht Zufall, was dann? Dann sind
zwei Annahmen wenigstens möglich : Die Übereinstimmungen
beruhen auf einer gemeinsamen Entwicklung der zwei Sagen,
zeigen also, daß die Atlantis-Sage so gut wie die Aeolus-Sage
wirklich eine Xisuthros-Sage ist; oder es hat Plato oder sein
Gewährsmann oder bereits die Volksüberlieferung eine
Atlantis-Sage mit Zügen aus der älteren Aeolus-Sage aus¬
geschmückt. Diese Möglichkeiten bestehen speziell für die
p. Jensen, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer. 63
ehernen Mauern der Atlantis-Stadt, so daß wir unter allen
Umständen annehmen dürfen, daß diese mit der ehernen
Mauer') des Aeolus sagenverwandt ist.
Ob alle oben besprochenen Parallelen von Bedeutung
sind oder nicht, unleugbar scheint es nunmehr, daß die
Atlantis-Insel nach dem bisher Ausgeführten ein Widerschein
des Xisuthros-Heimes sein könnte und durch dieses seine
voll ausreichende Erklärung finden würde. Es kommt nun
aber noch etwas anderes von Wichtigkeit hinzu. Da nach
oben S. 61 f. die Atlantis-Sage mit der Phaeacen- und der
Aeolus-Sage urverwandt zu sein scheint, diese beiden aber über
Israel nach Griechenland gekommen sein sollen, so müßte
auch für die Atlantis-Sage auf ihrem Wege von Babylonien
nach Griechenland Israel als Durchgangsland angenommen
werden.
Nun aber scheint es, daß an solchen Wanderungen von
Israel nach Griechenland Ägypten nicht unbeteiligt ist.
S. vorderhand mein oben mehrfach genanntes Gilgamesch-
Epos in der Weltliteratur II, 391 ff. Ich kann deshalb nicht
umhin, anzunehmen, daß 1. damit im Zusammenhang steht,
daß nach oben S. 60 gerade eine ägyptische Erzählung eine
gewisse Berührung mit der Atlantis-Sage zeigt, und 2., daß
nach Plato die Atlantis-Sage dem Solon in Ägypten erzählt
worden ist als eine ägyptische Überlieferung, und daß so
die zunächst ägyptische Herkunft der Atlantis-Sage unseren
Untersuchungen ein nicht gering zu achtendes Siegel der
Bestätigung aufdrückt.
Aus den oben verwerteten Tatsachen braucht man
unsere Schlußfolgerungen nicht als unerschütterliche Ergeb¬
nisse abzuleiten. Aber andererseits fügen sie sich so zu einem
Ganzen zusammen, daß man jetzt zum mindesten mit grö¬
ßerer Sicherheit schließen darf, daß die Atlantis-Sage eine
aus Babylonien stammende, über Israel und Ägypten zu den
1) An eine Erwähnung einer, wenigstens mit Erz verglichenen
Stadtmauer, (nämlich der von Uruk-Erech), in Tafel 1,11 des Gil-
gamei-Epos (und in einem Paralleltext dazu in Tafel XI desselben
Epos) erinnert uns Alb. Schott.
5 *
64 P- Jbnsen, Die Insel Atlantis und ihre eherne Mauer.
Griechen, speziell Plato, gelangte Überheferung sein könnte
bzw. zu sein scheint, somit die Atlantis-Insel zum minde¬
sten als rein sagenhaft betrachtet werden darf, daß sie des¬
halb für wildeste oder auch noch so scharfsinnige oder auch
spitzfindige Hypothesen über ihre einstmalige Existenz in
unserem Räume nicht mißbraucht werden darf, für Hypo¬
thesen, die in keiner Weise einen Anhalt an beweisbaren oder
wenigstens wahrscheinlich zu machenden Tatsachen haben.
Auch Albert Hermann dürfte durch seine Ausgrabungen in
Tunis (s. den Genannten im „Tag" vom 11. April und vom
23. Juni des verflossenen Jahres) den Beweis für eine einstige
Realität der Atlantis, speziell in Tunis, nicht geliefert haben.
Somit wird es dabei bleiben, daß es das beste ist, in der
Atlantis-Sage eine letztlich aus Babylonien stammende, auf
weiten Wanderungen umgestaltete bzw. verzerrte Überliefe¬
rung zu sehen, die von Plato oder Leuten vor ihm zu be¬
stimmten Zwecken phantastisch ausgebaut ist. Vgl. des schon
oben genannten Hans Hertkr's Abhandlung Piatons At¬
lantis in den „Bonner Jahrbüchern", Heft 133, S. 28ff.
[Korr.-Nachtr. zu S. 8: Jensen hält (nach briefl. Mitt. an Schott)
in diesem Zusammenhang den Umstand für bemerkenswert, daß Al-
kinoos außer einer Tochter 5 Söhne hat (Od. 6, 62), die Zahl seiner
Kinder also 6 beträgt. — Für Jensen, der erkrankt ist, hat Schott
die Korrektur dieses Aufsatzes gelesen.]
Die mitteljapanischen konfuzianischen Philosophen
und ihr Verhältnis zum Buddhismus ihres Landes.
Von 0. Kressler.
In seinem Geleitwort zu Oda's großem buddhistischem
Wörterbuche faßt Tetsujirö Inoue, der Nestor der japanischen
Philosophen älteren Stils, die überragende Bedeutung des
Buddhismus für die kulturelle Entwicklung der Länder Ost¬
asiens aufs treffendste zusammen in den Worten: „Der Bud¬
dhismus ist eine große Weltreligion, und sein Einfluß auf die
Kultur der Länder östlich von Indien ist in der Tat außer¬
ordentlich. Daher muß man, sofern man die Eigenart ost¬
asiatischer Kultur überhaupt kennen lernen will, unter allen
Umständen die Lehren des Buddhismus von Grund auf ver¬
stehen, ohne Rücksicht darauf, ob man nun selbst ein An¬
hänger des Buddhismus ist oder nicht" ^).
Keine Philosophie hätte nun an einer geistigen Macht
von solcher Tiefe und Wirkungsweite, wie sie dem Buddhis¬
mus eigen, achtlos vorübergehen können, jede mußte viel¬
mehr auf Schritt und Tritt in eine Lage kommen, wo sie
sich in der einen oder anderen Weise zur Stellungnahme ein¬
fach gezwungen sah. Bei dem hier gebotenen Versuche, die
zwischen dem Konfuzianismus des japanischen Mittelalters und
dem Buddhismus Japans obwaltenden Beziehungen in ihren
Hauptmomenten aufzudecken, kann es sich naturgemäß nur
darum handeln, allgemeinere Richtlinien grundsätzlicher Ein¬
stellung der bedeutendsten Philosophen herauszuheben.
Die Epoche der japanischen Geistesgeschichte, die den
Namen „mitteljapanische Philosophie" trägt, deckt sich in
1) T. Oda, Bukkyö Daijiten (Tökyö 1918) pg. 4.
ZeltacbrUt d. D. U. 0. Nene Folge Bd. Xm CBd. 88) 5