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Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

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Die sechziger Jahre:

Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

ich kann nicht umhin, mich gleichsam gespalten zu sehen: in einen mann, der das, was ihm auferlegt ist an pflichten und freuden, die pflichten auch bringen, tun wird, und in einen „Privatmann", der das gefühl, glücklich zu sein, nicht kennt

(1966)'

Dokument 22: Lebenslauf 1965

Ernst Schumacher, Lebenslauf v. 21.12.1965.

(Bundesarchiv, Abt. Berlin, DR3/B13568, Β 1.3-4)

Aus der Arbeiterklasse stammend, wurde ich am 12. September 1921 in Ur- spring, Kreis Schongau, Oberbayern, geboren. Ich besuchte acht Jahre die Volksschule, dann die Humanistischen Gymnasien in Kaufbeuren, Augsburg und Kempten (Reifezeugnis 1940).

Von 1940 bis 1943 war ich Soldat. Auf Grund einer Verwundung entlassen, begann ich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München das Studium der Germanistik. Das Studium dauerte bis 1947. Ich Schloß es am 30. Septem- ber 1953 mit der Promotion an der Karl-Marx-Universität in Leipzig ab. Der Titel meiner Dissertation lautete: ,Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts von 1918-1933'.

Von 1947 bis 1957 arbeitete ich hauptsächlich als freier Journalist für fort- schrittliche und kommunistische Zeitungen und Rundfunkstationen in beiden Teilen Deutschlands. Wegen dieser Tätigkeit wurde ich mehrfach gerichtlich belangt. 1956 besuchte ich die Volksrepublik China und die Demokratische Republik Vietnam. Ich veröffentlichte darüber das Buch ,Lotosblüten und Turbinen'.

Von 1957 bis 1961 war ich wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Mein Auftrag war, das Werk Bertolt Brechts wissenschaftlich zu erforschen. Zur selben Zeit spezialisierte ich mich auf Theaterkritik und moderne Dramaturgie. Ein Sammelband meiner Kritiken erschien unter dem Titel,Theater der Zeit - Zeit des Theaters' in München im Jahr 1960. A b 1964 bin ich ständiger Theaterkritiker der .Berliner Zeitung'.

1958 nahm ich als westdeutscher Delegierter im Auftrag des Deutschen Schriftstellerverbandes an der Konferenz der Schriftsteller der asiatisch-afri- kanischen Länder in Taschkent teil.

1 AAdK, ESA 75.

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2 3 2 Die sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

Neben meiner Tätigkeit als Theaterkritiker, Essayist und politischer Publi- zist hielt ich wissenschaftliche Vorträge an den Universitäten Hamburg, Mün- chen, Rom, Leipzig, an der Technischen Hochschule Stuttgart, am Literatur- institut Leipzig und an den Evangelischen Akademien in Berlin und Loccum.

1960 hielt ich auf der Tagung des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West das Hauptreferat über ,Schöne Literatur im Zeitalter der Wissenschaft'. 1963 nahm ich als einziger westdeutscher marxistischer Literaturwissenschaftler an der internationalen Kafka-Konferenz in Liblice (CSSR) teil. Im gleichen Jahr sowie in den darauffolgenden sprach ich im Auftrag des Ministeriums für Kul- tur der D D R bzw. im Auftrag der Betriebsparteiorganisationen der SED vor Theaterensembles in Berlin, Rostock, Dresden, Weimar, Cottbus, Magdeburg über westdeutsches Theater und aktuelle Probleme der deutschen und inter- nationalen Dramatik. Über Probleme der Dramaturgie Brechts sprach ich vor den Studenten des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Univer- sität zu Berlin, der Karl-Marx-Universität Leipzig und der SED-Parteihoch- schule Potsdam.

Von September 1962 bis Dezember 1963 war ich Habilitationsaspirant der Karl-Marx-Universität Leipzig. Seit Januar 1964 bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter des Germanistischen Instituts der Humboldt-Universität zu Ber- lin, Abteilung Literaturtheorie und allgemeine Literaturwissenschaft. Seit die- ser Zeit bin ich mit Lehrveranstaltungen befaßt.

Am 24. Juli 1965 Schloß ich an der Philologischen Fakultät der Karl-Marx- Universität Leipzig mein Habilitationsverfahren erfolgreich ab. Das Thema meiner Habilitationsschrift lautete:,Bertolt Brechts ,Leben des Galilei' - Dra- ma und Geschichte'.

Ich bin seit 1949 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, der Gewerkschaft und der VVN. Seit Februar 1965 gehöre ich dem Vorstand des Zentralen Bühnenclubs ,Die Möwe' Berlin an. Seit 1964 bin ich Mitglied des Präsidiums des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West. Außerdem gehöre ich dem Deutschen Kulturbund an.

Mein ständiger Wohnsitz war bis zum Sommer 1962 München. Ich bin mit Frau Rosa Hillebrand verheiratet und Vater von zwei Söhnen im Alter von acht und sieben Jahren.

Berlin, 21. Dezember 1965 Dr. Ernst Schumacher2

2 Dieser handschriftliche Lebenslauf wurde anläßlich des Berufungsverfahrens zum Hochschullehrer für das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen der D D R ver- faßt; ein MfS-Bericht von 1976 reicherte Schumachers eigene Lebensläufe von 1962 und 1965 durch Informationen an, die z.T. Mißtrauen gegen den DDR-Neubürger verraten:

„Von 1940 bis 1943 gehörte er der faschistischen Wehrmacht [...] an. [...] 1949 trat er der KPD [...] bei. [...] An der Universität Leipzig promovierte er 1953 mit der Dissertation ,Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts von 1918 bis 1933'. Zu seinen Mentoren zäh- len die Renegaten Ernst Bloch und Hans Mayer. 1956 besuchte er die VR China und die D[emokratische]R[epublik] Vietnam. [...] 1963 nahm er in seiner Eigenschaft als westdeut- scher Literaturwissenschaftler an der besonders von den [sie!] Renegaten Ernst Fischer

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23: in die E m i g r a t i o n 233 Dokument 23: in die Emigration (3. Juli 1962)

Ernst Schumacher, „3. Juli 62".

(Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ernst-Schumacher-Archiv Nr. 56) Der blaue Himmel über Berlin macht mich unglücklich. Ich denke an Ober- bayern, an meine Heimat, an den Sommer dort. An dieses weiße Blau, das sich aus der Nacht schält. An den Schatten des Morgens in Mutters Garten.

An das Kuhgebrüll. An das Einmähen, das Wetzen der Sensen, das feuchte Gras auf den Heuwagen in der Frühe. An Frische und Tau. An die warme Milch auf dem Herd. Die kalten nackten Beine, die sich bald in der Sonne wärmen würden, wie die Katze auf dem Fenstersims an Bellmunds Haus3. An den Scheck. A n meine ganze Sommerkindheit, an die schönsten Jahre meines Lebens: als ich Schüler war und in Ferien (o diese Sommer).

Über eine Woche bin ich nun in B.4 Zum erstenmal begriff ich (wußte ich nicht nur, konnte ich nicht nur ahnen, nein: erfuhr ich (dabei noch nicht ein- mal unwiderruflich, unter günstigen Umständen)), was es heißt, in die Emi- gration zu gehen. Ich werde ihn nicht vergessen, diesen Sommersonntag (24. Juni), als ich in L. erfuhr, daß M.5 verhaftet, folglich ich entweder das glei-

o r g a n i s i e r t e n i n t e r n a t i o n a l e n K a f k a - K o n f e r e n z in Liblice ( Ü S S R ) teil. In d e n f o l g e n d e n J a h r e n e n t w i c k e l t e er eine emsige Vortragstätigkeit [...] ü b e r F r a g e n d e s w e s t d e u t s c h e n T h e a t e r s c h a f f e n s u n d ü b e r a k t u e l l e P r o b l e m e d e r d e u t s c h e n u n d i n t e r n a t i o n a l e n D r a m a - tik. D a r ü b e r h i n a u s r e f e r i e r t e er h ä u f i g zu P r o b l e m e n d e r D r a m a t u r g i e B r e c h t s vor Stu- d e n t e n d e s T h e a t e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Instituts d e r H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t zu Berlin, d e r K a r l - M a r x - U n i v e r s i t ä t Leipzig u n d d e r S E D - P a r t e i s c h u l e in P o t s d a m . [...]

1962 siedelte er bei [sie!] B e i b e h a l t u n g seiner B R D - S t a a t s b ü r g e r s c h a f t in die D D R über.

In d e r Z e i t von 1962 bis 1963 w a r er H a b i l a s p i r a n t d e r K a r l - M a r x - U n i v e r s i t ä t Leipzig.

1964 b e g a n n er als wissenschaftlicher M i t a r b e i t e r d e s G e r m a n i s t i s c h e n Instituts d e r H u m - b o l d t - U n i v e r s i t ä t zu Berlin tätig zu w e r d e n . [...] 1966 w u r d e er zum P r o f e s s o r mit L e h r a u f - trag f ü r d e n T h e m e n b e r e i c h T h e o r i e d e r d a r s t e l l e n d e n K u n s t u n d zum D i r e k t o r d e s Insti- tuts f ü r T h e a t e r w i s s e n s c h a f t d e r H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t zu Berlin b e r u f e n . 1968 legte er d a s D i r e k t o r a t nieder, weil er sich m e h r d e r F o r s c h u n g w i d m e n wollte. 1969 w u r d e er [...]

z u m O r d e n t l i c h e n P r o f e s s o r f ü r d a r s t e l l e n d e K ü n s t e d e r H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t zu Berlin b e r u f e n . [...] A u c h b e g a n n er sich als H e r a u s g e b e r , als D r a m a t i k e r u n d als Ü b e r s e t z e r zu v e r s u c h e n ( z . B . ü b e r s e t z t e er 1958 18 G e d i c h t e M a o Tse Tungs f ü r e i n e n w e s t d e u t s c h e n Verlag). [...].

S c h u m a c h e r ist in zweiter E h e mit R e n a t e S c h u m a c h e r geb. S t o e l b v e r h e i r a t e t , mit d e r er einen S o h n hat. Seine erste F r a u . R o s a H i l l e b r a n d , u n d seine b e i d e n S ö h n e sind B R D - B ü r g e r . " Vgl. B e z i r k s v e r w a l t u n g f ü r Staatssicherheit G r o ß - B e r l i n , A b t . X X / 7 . Bericht ü b e r S c h u m a c h e r v. 30.5.1976, in: A A d K , E S A 151-2, Bl. 15-19.

3 N a c h b a r f a m i l i e in S c h u m a c h e r s G e b u r t s o r t U r s p r i n g .

4 G e m e i n t ist O s t - B e r l i n , wohin S c h u m a c h e r im J u n i 1962 w e g e n d r o h e n d e r V e r h a f t u n g a u f g r u n d seiner illegalen K P D - A r b e i t a u s d e r B u n d e s r e p u b l i k ü b e r g e w e c h s e l t war; d e r a r - tige Wechsel in d a s „ R ü c k z u g s g e b i e t " D D R w a r e n w ä h r e n d d e r Illegalität d e r w e s t d e u t - schen K P D in d e n 1950er u n d 1960er J a h r e n k e i n e Seltenheit.

5 G e m e i n t ist Emil Möllinger, Mitglied d e r illegalen w e s t d e u t s c h e n K P D . mit S c h u m a c h e r im A u f t r a g des K P D - P o l i t b ü r o s K o o r d i n a t o r d e r von K P D bzw. S E D f i n a n z i e r t e n M ü n c h - n e r Zeitschrift „ D e u t s c h e W o c h e " ; vgl. Β A B . B Y 1/2572: Möllinger w u r d e gleichzeitig mit

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2 3 4 D i e sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

che Schicksal erleiden würde6 oder mich vorläufig aus M.7 zu entfernen hätte8. Diese Fahrt: die strotzende Rheinebene entlang, die Müdigkeit (in H. hatte ich zu mitternächtlicher Stunde durch einen Automaten vier Aufnahmen von d e m f r ü h e r e n C h e f r e d a k t e u r d e r „Deutschen Woche", Carl A . Weber, unter d e m Verdacht d e r Spionage für die Sowjetunion von d e r westdeutschen Polizei im Mai 1962 verhaftet.

6 Ü b e r Schumachers F u n k t i o n bei d e r Zeitschrift „ D e u t s c h e W o c h e " enthalten D D R - A k - ten unterschiedliche A n g a b e n ; sein H o c h s c h u l p e r s o n a l b o g e n von 1965 v e r m e r k t f ü r 1961-62 Tätigkeit als festangestellter R e d a k t e u r , w ä h r e n d die K P D - F ü h r u n g festhielt, S c h u m a c h e r sei „selbst nicht Mitglied d e r R e d a k t i o n " gewesen, s o n d e r n „ f u n g i e r t e [...]

sozusagen als Mittelsmann zwischen der Partei und d e r R e d a k t i o n " und „ h a b e bisher vor allem T h e a t e r k r i t i k e n in der ,Deutschen Woche' publiziert"; vgl. B A B , BY1/2572, Bl. 141, K P D , Politbüro, Notiz ü b e r Schumacher, o . D . [ca. F r ü h j a h r 1962]; in seinen D D R - L e - bensläufen suchte S c h u m a c h e r das T h e m a „ D e u t s c h e W o c h e " k n a p p a b z u h a n d e l n o d e r auszusparen; vgl. B A B , DR3/B13568, Bl. 1-4, Staatssekretariat f ü r H o c h - und Fachschul- wesen der D D R , B e r u f u n g s a k t e Dr. Ernst Schumacher, P e r s o n a l b o g e n v. 21.12.1965 und handschriftlicher Lebenslauf v. 21.12.1965; das MfS hingegen hielt f ü r b e m e r k e n s w e r t ,

„ d a ß Sch. auch in die A n g e l e g e n h e i t , D e u t s c h e Woche' [...] verwickelt war"; zugleich wur- de „festgestellt, d a ß Sch. beim Politbüro der K P D b e k a n n t ist, zentral f ü r die K P D arbei- tet u n d unter einem b e s o n d e r e n M o d u s steht"; vgl. Ministerium f ü r Staatssicherheit der D D R , Übersichtsbericht über Schumacher v. 6.7.1971, in: A A d K , E S A 151-1, Bl. 10-13, insb. Bl. 10 und Bl. 12; die K P D - F ü h r u n g hatte d e m MfS o f f e n b a r nicht mitgeteilt, d a ß sie mit S c h u m a c h e r 1962 wegen seiner A r b e i t bei d e r „ D e u t s c h e n W o c h e " in Konflikte gera- ten war; das K P D - P o l i t b ü r o h a t t e im J a n u a r 1962 mit einer „ P a r t e i u n t e r s u c h u n g " gedroht,

„da wir meinen, d a ß sich der G e n ö s s e E r n s t Sch. nicht in j e d e m Fall an die g e t r o f f e n e n Festlegungen und an die g e f a ß t e n Beschlüsse hielt und f ü r d e r e n D u r c h s e t z u n g eintrat";

d e m g e g e n ü b e r „bestritt" S c h u m a c h e r „die Berechtigung des Vorwurfes", d e n n er h a b e stets o f f e n „seine B e d e n k e n " gegen den Plan d e r P a r t e i f ü h r u n g zur Umgestaltung der Zeit- schrift g e ä u ß e r t , a b e r d e n n o c h „einen e r n s t h a f t e n Versuch u n t e r n o m m e n " , die Weisungen umzusetzen; Vertreter d e r K P D - F ü h r u n g b e h a r r t e n d a r a u f , „ d a ß die gegen ihn e r h o b e n e n Vorwürfe, Beschlüsse d e r Partei mißachtet zu h a b e n , gerechtfertigt" seien, und legten Schumacher „mit aller Eindringlichkeit" nahe, „seine eigenen Versäumnisse noch einmal gründlich zu d u r c h d e n k e n und [...] Schlußfolgerungen f ü r seine z u k ü n f t i g e A r b e i t zu zie- h e n " ; auf der Sitzung des K P D - P o l i t b ü r o s vom 1. F e b r u a r 1962 war a b e r von e i n e m Partei- v e r f a h r e n keine R e d e mehr, stattdessen w u r d e S c h u m a c h e r f ü r die Abwicklung der Zeit- schrift belobigt; vgl. Β A B , BY1/2572, Bl. 134-137, K P D , Politbüro, „ A u f z e i c h n u n g ü b e r die Besprechung mit Ernst Sch. und Emil Möllinger a m 13.1.1962", o . D . , sowie B1.46, K P D , Politbüro, „Fortsetzung der Sitzung des P B vom 31.1. a m 1 . F e b r u a r 1962", o . D .

7 M ü n c h e n .

8 Nach der V e r h a f t u n g Webers und Möllingers (s. A n m . 5 ) im Mai 1962 bestand auch f ü r S c h u m a c h e r a k u t e Verhaftungsgefahr; d a r u m beschloß das Sekretariat d e r K P D , ihn einst- weilen in die D D R zurückzuziehen, was fluchtartig im Juni 1962 erfolgte; ein H a f t b e f e h l gegen S c h u m a c h e r w u r d e von d e r Bundesanwaltschaft erst im O k t o b e r 1962 erwirkt (und bis S o m m e r 1968 a u f r e c h t e r h a l t e n ) ; die D D R - S t a a t s s i c h e r h e i t resümierte: „Sch. k a m 1962 aus M ü n c h e n [...] in die D D R , weil gegen ihn in Westdeutschland ein H a f t b e f e h l des Er- mittlungsrichters beim Bundesgerichtshof wegen des Verdachtes, s t r a f b a r e Beziehungen zum Z K der K P D u n t e r h a l t e n zu h a b e n , b e s t a n d . " Vgl. Ministerium f ü r Staatssicherheit der D D R , Übersichtsbericht über Schumacher v. 6.7.1971, in: A A d K , E S A 151-1, Bl. 10-13, insb. Bl. 10; a m 3. Juli 1962 hatte Schumacher in Ost-Berlin ein G e s p r ä c h mit einer D D R - Bürgerin, die er f ü r eine gute F r e u n d i n hielt, die j e d o c h als „ G e h e i m e r I n f o r m a t o r " ( G l )

„ M a r i o n " dem M f S zwei Tage später berichtete: „ A m 3.7.1962 b e s u c h t e mich E. S C H U - M A C H E R und teilte mit, d a ß er seit ca. 1 W o c h e in Berlin sei. [ N a m e geschwärzt] h ä t t e

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23: in die Emigration 235 mir blitzen lassen; ich sah die Bilder mit Erstaunen: so also drückt sich der K u m m e r aus, a u ß e r Landes zu gehen; es war ein b e k ü m m e r t e s Gesicht (sollte ich nicht sagen: ein konfuses, ein ratloses, ein genötigtes?) Ich beschloß, sie aufzubewahren, auch wenn sie mir mißfielen; vielleicht, ο dunkle A h n u n g , würde mich dieses Gesicht noch eines Tages trösten), die unerträgliche Luft im Abteil, dann, draußen im G a n g bei g e ö f f n e t e m Fenster, der Schwall von Sommerwind ins Gesicht, das Zischen der Räder, die Fahrt, der Flug durch Sommer, Sommer, das Neckartal hinaus, das Vilstal, die Geislinger Steige, vorbei an D ö r f e r n , Städten, Wiesen, Wäldern, dem Fleiß, der Anständigkeit, der Ehrbarkeit, der Unbelehrtheit, der Ahnungslosigkeit, mitten hindurch, begierig, dies alles diesem vergeßlichen Raster des Gehirns, der Wachstafel des G e f ü h l s einzuprägen. Auf der A l b die Erinnerungen an die Zeit vor zwan- zig Jahren, den Beginn des großen Unglücks, die Übungen des Abschlach- tens9. D a n n die D o n a u , dann die schwäbische, dann die oberbayerische Hoch- ebene. Ein hoher Sonntagshimmel. Im Lech, im Lech die Schwimmer. Augs- burg: ein Blick zurück. U n d dann nach Süden: so nahe, was ich liebe, und schon unerreichbar. Ja, es waren das Hochplatt, der Tegelberg, der Säuling, die Zugspitze, die zu sehen waren, vergleißend im Dunst, aber sie waren zu sehen! Ich k o n n t e den Blick nicht von ihnen trennen. A r m e Mutter. Kein Sommer f ü r uns, vielleicht keiner m e h r in U.1 0 Niemals mit den Kindern im Sommer dort! Das D a h i n d o n n e r n des Zugs: über alle H o f f n u n g e n , Freuden.

Die Konsequenz der Entscheidungen, der einen Entscheidung. Gleise, Wei- chen, aber kein Aufenthalt, kein Anhalten. Sie verschwanden im Dunst: die Pfeiler freundlichen Einsts. D o r t irgendwo der A m m e r s e e , die grünen Tiefen, die Wolkentürme, die Segel, der Peißenberg. Volksfest in Olching. Paulaner Thomas, weißblau, das Bierzelt, der große Lärm, das Verschlungenwerden, Betäuben. Die rasende Flucht auf der Eingleisigkeit, dem Eisenweg, nach vor- ne. Nie werde ich diesen Sonntag vergessen.1 1

über die .Deutsche Woche' geplaudert und zwei Leute seien verhaftet worden. D a er an- nehmenmüßte [sie!], daß seine Verhaftung ebenfalls bevorstünde, sei er nach Berlin ge- kommen. Wielange [sie!] er in Berlin bleibe, würde auch von den G e n o s s e n [der K P D - Führung] abhängen. [...] Er hat jetzt lediglich Befürchtungen, o b seiner Familie das Her- k o m m e n nach Berlin gelingen wird. [...] Im Laufe des Gesprächs sagte mir Sch., daß er schon seit Jahren vor [Name geschwärzt] als Agent gewarnt und vorgeschlagen hatte, ihn mit einer Abfindung zu Versehen [sie!] und abzuschieben. Leider hätte er kein Gehör ge- funden [...]. D a s D i l e m m a wäre jetzt da. Er nimmt an. daß man [Name geschwärzt] als Al- ternative stellte, über die Deutsche Woche alles auszusagen, um .seinen Kopf" zu retten.

Er bedauert es, [Name geschwärzt] keine Mitteilung darüber geben zu können, daß er ,seinen K o p f dadurch keinesfalls retten könne."' Vgl. Abschrift: G l „Marion"', ..Informa- tion betr. Dr. Ernst S C H U M A C H E R und Deutsche Woche" vom 5.7.1962. in: A A d K . E S A . D u B 151-2. Bl. 9.

9 Schumachers Wehrmachts-Ausbildung während des Zweiten Weltkrieges.

10 Schumachers oberbayerischer Geburtsort Urspring.

11 D e r hastige Wechsel Schumachers in die D D R hatte auch befreiende Aspekte; die ge- gen seinen Widerspruch vom KPD-Politbüro verfügte Einstellung der Zeitschrift „Deut- sche Woche" zum 31. März 1962 hatte Schumacher zwar seines festen Einkommens be-

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2 3 6 Die sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

Dokument 24: im Kleinen groß, im Großen klein (16. September 1962) Ernst Schumacher, „16.9.62".

(Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ernst-Schumacher-Archiv Nr. 57) Gestern Abend Voraufführung von [Peter] Hacks' „Sorgen und die Macht"

im Deutschen Theater12. Man könnte pointiert sagen: Sie machen Sorgen, die- se „Sorgen und die Macht"13. Man amüsiert sich und ist doch enttäuscht. Der

raubt, zugleich aber die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Karriere (Brecht-For- schung) wieder möglich werden lassen; der KPD-Führung gab er noch vor seiner hastigen Übersiedlung in die D D R zu verstehen: „Er sähe nach Einstellung dieser Zeitung zunächst keine Möglichkeit!,] a uf diesem Gebiet weiter tätig zu sein, da die ihm bekannten anderen fortschrittlichen Zeitungen bereits andere Kräfte zur Verfügung hätten. Er möchte gerne an seinen Brechtforschungen und Veröffentlichungen weiterarbeiten und hierfür um ent- sprechende Möglichkeiten bitten. E r stellte außerdem die Frage, ob er sich in West- deutschland oder in der D D R um eine Habilitation bemühen solle." vgl. B A B , BY1/2572, B1.141, KPD, Politbüro, Notiz über Schumacher, o . D . [ca. Frühjahr 1962]; der Wechsel in die D D R klärte das Problem; „Gl Marion" berichtete aus ihrem Gespräch mit Schuma- cher: „In Berlin möchte er jetzt seine Habilitation machen". Abschrift: G l „Marion", „In- formation betr. Dr. Ernst S C H U M A C H E R und Deutsche Woche" vom 5.7.1962, in:

A A d K , ESA, D u B 151-2, B1.9.

12 Das 1960 in Berlin und Senftenberg uraufgeführte und kritisierte Stück „Die Sorgen und die Macht" von Peter Hacks erlebte in einer Neufassung unter Regie von Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater am 2. Oktober 1962 seine Erstaufführung; anfangs von SED-Presse und ZK-Kulturabteilung gelobt, wurde die Inszenierung im Oktober 1962 vom „Neuen Deutschland" wegen ihres ,,Zerrbild[es] einer Parteiorganisation" und des

„Mißverstehenjs] von der Rolle der Partei im Stück" heftig attackiert; auf Weisung Ul- brichts im Januar 1963 abgesetzt, wurden Stück und Inszenierung auf dem damals stattfin- denden VI. Parteitag der SED als Negativbeispiel angeprangert; insbesondere der schei- dende Politbüro-Kandidat Alfred Kurella - der laut N D als Premierenbesucher noch

„herzlichen Beifall" gespendet hatte - tat sich als Kritiker hervor: „In diesem Theater- stück und im Auftreten einiger seiner Verteidiger zeigen sich Überreste oder Ansätze ei- ner uns fremden, sich in einigen Fällen gegen unsere sozialistischen Grundsätze richten- den Auffassung. [...] Von einer Auffassung vom Sozialismus, wie sie bei Peter Hacks vor- kommt, von einer Vorstellung als einer ,Kette von Fehlern', von der Partei als einer A r t Gesinnungsverein, ist es nicht mehr weit zum nächsten Schritt. Dieser besteht darin, daß man sich beengt vorkommt [...] durch die Partei und ihre Funktionäre. [...] Und von da geht es dann schnell weiter zum Ruf nach ,Befreiung', [...] nach Freiheit von [...] der Len- kung des Kunstlebens durch unsere Partei." Vgl. Christa Hasche / Traute Schölling / Joachim Fiebach, Theater in der D D R . Chronik und Positionen, Berlin 1994, S. 45^17.

13 Der Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der wegen Problemen mit der SED-Kulturpolitik 1963 die D D R verließ, bot zuletzt auch wegen seines Eintretens f ü r Hacks „und sein offiziell stark befehdetes Theaterstück ,Die Sorgen und die Macht'" An- griffsflächen: „Der Titel war ein abgewandeltes Ulbricht-Zitat. D e r Genösse Walter hatte bekannt, wer die Macht habe, habe auch die Sorgen. Wie das konkret aussehen mochte in der D D R , das wollte Hacks auf der Bühne demonstrieren: mit vielen Pointen, die man so verstehen konnte oder auch so, und die genußvoll verbreitet wurden durch die mündliche Zeitung in jedem Ort. Nun zeigten sich die Folgen einer Bildungsreform, welche die Kin- der vom Dorf und aus der Arbeitersiedlung in die Hörsäle trieb [...]. Seitdem gehörten die ideologischen Konflikte nicht mehr zum Herrschaftswissen, sondern wurden überall in der

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24: im Kleinen groß, im Großen klein 237

Berg der Sorgen wird an der Oberfläche abgekitzelt. Dabei werden die Pro- bleme der Macht bereits um vieles offener an- und ausgesprochen als in der übrigen DDR-Dramatik.14

Hacks ist im Kleinen groß, im Großen klein. Wäre er nicht ein exzellenter Poet, wäre ganz klar, daß er in der dramatischen Substanz, im Problem der Gestaltung eines großen Gegenstandes, schwach ist.15

Der große Gegenstand ist die Organisation der neuen „Geschäfte", der so- zialistischen Produktion. Hacks hat einen dramatischen Vorwurf, der die Wi- dersprüchlichkeit und Kompliziertheit dieses historischen Prozesses zur An- schauung [...] [bringen] könnte: die V E B Brikettfabrik liefert schlechte Kohle an die Hohlglasfabrik. Hier müßten nun die Beweggründe sichtbar werden, warum die Arbeiter und Leitung der Brikettfabrik zulassen, noch weiter aus- geholt, warum die Art des Produzierens so „heruntergekommen" ist, denn früher, unter dem Kapitalismus, lieferte diese Fabrik offensichtlich „integre"

Briketts. Aber über diese Ursachen ist bei H. wenig zu erfahren. Die großen Probleme: das zerstörte Deutschland, die gestörte Produktion, die neuen Lei- tungen in den Betrieben, die offene und geheime Sabotage dieser Neuorgani- sation, die sehr große Unbewußtheit der Arbeiter, all das reduziert sich bei Hacks auf einige allgemeine Redensarten darüber (große Ansprache zur un- garischen Konterrevolution16, im übrigen verstreut in den Dialogen) und vor allem auf das Bestreben der Arbeiter, eine möglichst volle Lohntüte nach

Republik am Abendbrottisch und beim Bier erörtert. Auch die zuständigen Organe muß- ten sich informieren: sie hatten zu wissen, welches Buch bedenklich war, welches gefähr- lich, welches unerträglich." Obwohl Mayer Hacks selbst kritisch bewertete, wollte er des- sen Maßregelung nicht dulden und lud ihn zu einer Lesung an die Leipziger Universität:

daß diese mit einer Ulbricht-Kundgebung zusammenfiel, soll der S E D - A p p a r a t als geziel- te Provokation gedeutet haben; vgl. Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerun- gen, Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, S.245.

14 Schumacher übte diese Kritik zu einer Zeit, als Hacks' Stück noch als Beispiel modern- sten sozialistischen Theaters gelobt wurde, bevor ab O k t o b e r 1962 die geschilderte Welle öffentlicher Kritik und Verurteilung einsetzte.

15 Zum Verhältnis zu Hacks erinnerte Schumacher später: „Ich hatte ihn noch zu seiner münchner zeit kennengelernt [...]. U m 1959/60 sollte er als dramaturg am deutschen thea- ter berlin zum kritischen befürworter meiner komödie .saison in badgastein' (im fernsehen ,der gamsbart') werden, in der ich den ost-west-konflikt komödi[anti]sch, mit vielen mu- siknummern, [...] in den dramatischen griff zu kriegen trachtete (deren Inszenierung je- doch durch errichtung der mauer in berlin gleichsam überrolllt wurde). Natürlich verfolgte ich seine linksradikalen ansichten [...] und war meist ganz auf seiner seite. Mein im früh- jahr 1962 beginnendes .freiwilliges exil' [...] brachte mich nach voller bewunderung für seine bearbeitung des ,friedens' von aristophanes (in der gleichgenialen Inszenierung durch benno besson im oktober 1962) wenig später in eine kritischere position gegenüber .den sorgen und die macht' [...], da ich sie [...] als .Sekundärdramatik', die grundursache der ausgestellten .übel' aussparend, sie umgehend, ihr ausweichend, empfand, ohne mich mit diesem dissens in der öffentlichkeit zu äußern, da ich die angriffe auf hacks wie [seinen Regisseur] langhoff als sozialismusschädigend empfand." Vgl. Ernst Schumacher. Tage- buchnotiz v. 31.8.2003, in: A A d K , E S A 41.

16 D e r blutig niedergeschlagene ungarische Volksaufstand gegen die sowjetische Herr- schaft von 1956.

(8)

2 3 8 D i e sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

Hause zu bringen (das ist andererseits wiederum ein Fortschritt, daß von die- ser „materiellen Interessiertheit" offen gesprochen wird; aber wiederum bleibt ungesagt, warum den Arbeitern das Geld nicht ausreicht: weil die Preise für die Lebenshaltung sehr hoch sind, weil der Krieg und die unqualifizierte Ar- beit bezahlt werden müssen, weil sie etwas kosten). Und hier wiederum ver- läßt der Autor endgültig die objektive Widersprüchlichkeit und verniedlicht sie zu der Auseinandersetzung zwischen Männchen und Weibchen, nur daß es sich nicht mehr um die bürgerlichen Helden Ibsens, sondern eben um Arbei- ter handelt. Im Prinzip handelt es sich nur um eine Einkleidung für die alte Geschichte zwischen den Geschlechtern. Gewechselt wurden die Kulissen.

Das Motiv ist das alte, es ist nur in neue „Umstände" transponiert, an ihnen wird es strapaziert. Dem großen Dramatiker aber würde es genau um das Ge- genteil zu tun sein: das Substantielle des Prozesses zur Anschauung zu bringen und die „alte Geschichte" als Akzidens zu behandeln.

Wenn es so ist, daß die Arbeiter ausschließlich auf die Lohntüte schauen (und schauen müssen), dann muß es die Aufgabe des Dramatikers sein, zu zei- gen, warum das so ist und warum es falsch ist. Grosse17 hatte vollkommen recht, als er in der nachherigen Diskussion sagte, er sei von der ursprünglichen Argumentation des alten Barrikadenkämpfers am stärksten beeindruckt gewe- sen, daß unter Umständen ein Leben lang auf die Früchte der Annehmlichkeit verzichtet werden müsse, um sie für die Kinder und Kindeskinder, für ewige Zeiten zu sichern.18 Dabei drängt sich natürlich wiederum die Frage auf, das heißt, sie müßte sich einem Dramatiker [aufdrängen], der sein Sujet immer wieder an den fundamentalen Problemen (Widersprüchen, Herausforderun- gen) der Gegenwart mißt, warum die Arbeiter unter kapitalistischen Bedin- gungen, zumindest in den hochkapitalistischen Staaten, auf diese Annehmlich- keiten nicht verzichten müssen (nämlich, weil sie sie den Unannehmlichkeiten verdanken, denen zwei Drittel der Menschheit ausgesetzt sind). Hacks erwi- derte darauf, daß er darauf verzichtet habe, weil er glaube, die Menschen hät- ten die Stücke mit politischer Beweisführung satt, sie seien mehr interessiert, was es mit den Menschen unter den neuen, anerkannten Bedingungen, unter sozialistischen eben, auf sich habe. Das ist leichtfertiges Gerede, denn die eigentliche Größe eines Dramatikers besteht ja gerade darin, daß er den schärfs- ten, bedeutendsten Widerspruch zu gestalten vermag, das ist [in] dem erwähn- ten Fall eben die Frage, warum die Arbeiter gegebenenfalls auf die Annehm- lichkeit verzichten müssen. Die Stärke des Autors hätte sich darin zu bewähren, daß er für die größte Widersprüchlichkeit, für die es nur die politische Beweis- führung geben kann, eine Veranschaulichung findet, die die Beweisführung der

17 Herwart Grosse.

18 D e n volkstümlich-proletarischen Kommentar zu diesem Argument lieferte auf unnach- ahmliche Art der Schauspieler Manfred Krug als Brigadier Balla im 1965 entstandenen, in der D D R bis 1989 verbotenen DEFA-Film „Die Spur der Steine", als er auf derartige Parolen erwiderte: „Und die Enkel feixen."

(9)

24: im K l e i n e n g r o ß , im G r o ß e n klein 239 trocknen Illustration von Leitartikeln oder ökonomischen Analysen entreißt.

Hacks gibt überall die konsequente Behandlung der Hauptwidersprüche zu- gunsten einer Poetisierung der kleinen individuellen Konflikte und Konflikt- chen preis. Das gute alte ewig Menschliche, Allzumenschliche (gegen das Hacks immer mit viel Witz und Polemik zu Felde gezogen ist) hat sich hinten- herum wieder eingefunden, auf dem Umweg über die Ideologie, über die Lo- sung vom Humanismus und so weiter. Hacks befindet sich ohne zu wollen in der Gesellschaft derjenigen, die prinzipielle Wahrheiten über das Wesen des Sozialismus sagen, aber den Wesen, die davon betroffen sind, nicht die größere Wahrheit, nämlich die der Verwirklichung dieses Wesens in der gegenwärtigen Phase bewußt zu machen vermögen oder überhaupt wollen. Alles ist auf fort- schrittlich gemacht, nur wird das Fortschreiten nur abstrakt vorgeführt, vor- nehmlich aber verdeckt durch die Vorführung der individuellen Problemchen.

Man erkennt die Typen, man merkt, hier werden Typen veranschaulicht, das Ganze m u ß einen positiven Ausgang haben. D a der Dramatiker immerhin so fortschrittlich ist, d a ß er es nicht bei Schwarz-Weiß-Charakteren belassen kann, bekommt jeder etwas vom Schwarzen und vom Weißen, die Hauptfiguren sind grundsätzlich positiv angelegt, sie bedürfen nur der Vervollkommnung, und diese erhalten sie im Kollektiv. Analysiert man Hacks' Komödie unvoreinge- n o m m e n , so stellt sich heraus, daß sich Hacks im tiefsten Einvernehmen mit allen Zeiten und nicht zuletzt mit der allerjüngsten Zeit in diesem Bereich be- findet, gegen die er theoretisch allerlei vorzubringen hat.1 9 Er ist auf dem Weg der „Einfühlungsdramatik" wesentlich vorangekommen (die selbstverständlich nicht ohne die Aufzeigung und Gestaltung von Widersprüchen wirksam sein konnte, wie man aus den Theorien der Antiaristoteliker eigentlich entnehmen müßte, die für sich in Anspruch nehmen, die Widersprüchlichkeit zum ersten- mal als dramaturgisches Prinzip entdeckt zu haben (die tiefere Wahrheit ist:

daß die besten von ihnen (die es noch gar nicht gibt) bewußt die Widersprüche objektiver Art (die immer menschliche Bezüge haben) aufzeigen)). Er macht in Stimmung auf fortschrittlich, ohne daß sich die Stimmung aus der dramatur- gischen Funktion der Szene, der Charaktere usw. zwingend ergeben würde, noch schärfer ausgedrückt, aus der engen Beziehung, der Nachgestaltung und Abbildung von wirklichen Vorgängen hätte, die an sich und für sich, geschicht- lich eben, dramatisch sind. Hacks läßt sein Stück zur Zeit der Ungarn-Ereignis- se 5620 spielen, aber die Einbeziehung dieser historischen Vorgänge in die Handlung ist keineswegs zwingend, der dramatische Konflikt, so wie er ihn an-

19 H a c k s w u r d e durch d e n g l e i c h z e i t i g e n E r f o l g s e i n e r A r i s t o p h a n e s - B e a r b e i t u n g „ D e r F r i e d e n " a b O k t o b e r 1962 rehabilitiert: n o c h 1989 b e r i c h t e t e e i n e o f f i z i e l l e C h r o n i k d e s D D R - K u l t u r m i n i s t e r i u m s v o m E r f o l g d i e s e r A u f f ü h r u n g , w ä h r e n d d i e K a m p a g n e g e g e n . . D i e S o r g e n u n d die M a c h t " v e r s c h w i e g e n w u r d e : vgl. U n s e r e Kultur. D D R - Z e i t t a f e l 1 9 4 5 - 1 9 8 7 . hrsg. v. Institut für M a r x i s t i s c h - L e n i n i s t i s c h e Kultur- u n d K u n s t w i s s e n s c h a f t e n an d e r A k a d e m i e für G e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t e n b e i m Z K der S E D . B e r l i n [Ost] 1989.

S. 129-132.

2 0 Vgl. A n m . 16.

(10)

2 4 0 D i e sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

gelegt hat, wird dadurch nicht essentiell beeinflußt. Die Erwähnung der Ereig- nisse gibt ihm lediglich Gelegenheit, den Parteisekretär ein analytisches Glau- bensbekenntnis zur Sache des Sozialismus ab[...]legen [zu lassen] (das im übri- gen bis auf die letzten Verse von einer beachtlich schlechten poetischen Qualität ist). Natürlich verbessert das die ideologische Zensur, die Hacks für das Stück zu erwarten hat, genau so wie die Szene, in der unter dem Lenin- bild21 Selbstkritik abgelegt wird. Aber beide Szenen, die politisch stimmen und politisch auch eine Bedeutung für die Belehrung des Publikums besitzen, ver- bessern die drama(turg)ische Struktur des Stückes nicht, sie verschlechtern sie, weil alles, was nicht zwingend ist, der Vollkommenheit schädlich ist, die das große Kunstwerk auszeichnet. Es gibt Szenen, auf die verzichtet werden kann.

Es gibt Auftritte, die nur komische Effekte erzielen oder in ihrer Veranschauli- chung (in ihrer Symbolkraft) durch die weitere Handlung nicht als notwendig und sinnvoll ausgewiesen werden [...].

Überall, in jeder Szene gibt es Situationskomik, ohne daß die Situation das Komische, das Tragikomische und das Tragische des Gesamtprozesses erken- nen ließe, wieder in Erinnerung brächte, ins Bewußtsein höbe.

Aber natürlich ist diese Malaise nicht in der dramatischen Unfähigkeit des Autors zu suchen. Die eigentliche Ursache dafür, daß dieses dramatische Ab- bild der sozialistischen Gegenwart so unbefriedigend wirkt, ist darin zu su- chen, daß der große Gegenstand, von dem ich eingangs gesprochen habe, nämlich die Organisierung einer neuen Art des industriellen Produzierens, noch dazu unter den Bedingungen eines verlorengegangenen Krieges, des Post- und Präfaschismus (vom Westen des Vaterlandes her) nicht auf die übli- che alte Weise auf dem Theater erzählt werden kann. Der Prozeß ist so kom- pliziert und vielfältig und langwierig, daß ein zweieinhalbstündiges, dreistün- diges Theaterstück ganz einfach nicht mehr die angemessene dramatische Ab- bildung ergeben kann, besonders dann nicht, wenn die dramatische Struktur im Prinzip nach aristotelischen Prinzipien angelegt ist, nämlich eine Handlung und Charaktere besitzen muß, die nach dem alten Schema zu einer positiven Lösung gebracht werden müssen. Nein, der Gegenstand kann in seiner Größe und Kompliziertheit viel besser in anderen künstlerischen Abbildungen und Gestaltungen zur Anschauung und zur Bewußtheit gebracht werden als da sind Roman und Film, oder aber er erfordert auf dem Theater eine neue Büh- ne oder (und) wenn er diese nicht hat, eine neue Veranschaulichungsform, die viel mehr in Richtung einer szenischen Dokumentation, einer viel stärkeren

21 Mit der Entstalinisierung ab 1956/61 wurde der 1953 verstorbene sowjetische „Führer"

Stalin nicht mehr als Vorbild betrachtet, während sein 1924 verstorbener Vorgänger Lenin umso stärker herausgehoben wurde; Stalin habe seine ,,große[n] Verdienste" „maßlos überschätzt" und durch „Verherrlichung seiner Person" die „innerparteiliche Demokratie sowie die sozialistische Gesetzlichkeit aufs gröbste" verletzt; aber „die KPdSU überwand die schädlichen Folgen des Personenkults und stellte die Leninschen Normen des Partei- lebens und der Prinzipien der staatlichen Tätigkeit wieder her"; vgl. Art. „Stalin", in:

Meyers Neues Lexikon, Bd. 7, Leipzig 1964, S.721.

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24: im Kleinen groß, im G r o ß e n klein 2 4 1

Einbeziehung des Technischen (mehr also in Richtung der alten Piscatorbüh- ne2 2 aus den zwanziger Jahren oder der starken Vereinfachung der besten Brecht-Stücke ü b e r den Kapitalismus (Mahagonny, J o h a n n a2 3) ) gehen m ü ß t e als in Richtung einer „wirklichkeitsnahen" typisierenden realistischen Gestal- tung, wie sie Hacks versucht2 4. Hacks' Stück beweist gerade noch, d a ß m a n

„die alten Geschichten" neu aufmutzen kann, nicht aber, d a ß die neue Ge- schichte auf diese Weise einen ihr angemessenen großen Ausdruck fände.

Wenn man sich d a r ü b e r im Zweifel sein mag, o b Hacks nicht im G r u n d e ur- sprünglich ein Poet ist, der lediglich dekorativ ist, weil er für Beschreibungen seine besonders anschauliche, plastische F o r m im sprachlichen Ausdruck fin- det, so ist er jedenfalls zu dieser Poetisierung gezwungen, weil er die größere Poesie, die Poesie der Wirklichkeit, die Poesie der großen Konflikte, nicht auf die B ü h n e zu bringen vermag (weil er kein Wunder zu verrichten vermag).2 5

Das Stück beweist außerdem, daß es ein verniedlichendes Unterfangen ist, mit Hilfe der Schöpfung neuer alter Typen die besondere Form der Arbeit und damit des Arbeiters in unserer Epoche auf adäquate Weise anschaulich zu ma- chen. D e r große Gegenstand vollzieht sich in der Form der Auseinanderset- zung von Kollektiven, die als Individuen natürlich „Namen und Anschrift" be- sitzen, die aber in ihrer Funktionalität (und damit ihrer Effektivität, ihrer ge- schichtlichen Wirksamkeit) ein Kollektiv bilden, das für sich als neue G r ö ß e besteht und sich an anderen G r ö ß e n gleicher A r t mißt. Diese neue geschichtli- che Gestalt kann auf der Bühne nur in einer verniedlichenden Schema-F-Ma- nier (Aufgliederung in sogenannte Typen) veranschaulicht werden. Es kann vielleicht in der Kunst überhaupt nicht als solcher Wert dargestellt werden. Es kann vielleicht nur noch und überhaupt wissenschaftlich, abstrakt, in der politi- schen Ökonomie erkannt und in der Wirklichkeit der Produktion zur Anschau- ung, zur sinnlichen A u f n a h m e , zur sinnlichen Veranschaulichung gelangen.

Die Menschen haben sich amüsiert. Sie haben gelacht. Sie stimmten dem A u t o r zu. Sie waren mehr als zufrieden damit, daß wenigstens einige Dinge gesagt wurden, die sie ständig bereden, die aber in der Kunst keinen Nieder- schlag, keine Gestaltung gefunden haben. Sie identifizierten sich mit den Hel- den. Sie erkannten in den dramatischen Typen sich und ihresgleichen wieder.

2 2 D a s kommunistische Agitprop-Theater des Regisseurs Erwin Piscator (1893-1966).

2 3 Brechts Stücke „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (Libretto für die Oper von Kurt Weill, 1930) und „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe'· (Drama, 1929/30).

2 4 „Das politische Theater Piscators" und „Brechts Theorie des epischen Theaters" hat- ten Schumacher stets begeistert und waren Themen seiner Brecht-Dissertation von 1953 wie die genannten Brecht-Dramen „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe"; vgl. Ernst Schumacher, Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918-1933, Berlin [Ost] 1955. insb. S. 125ff„ S. 156ff„ S.262ff. und S.434ff.

^ Dieser Vorbehalt gipfelte 1985 in Schumachers Sottise über Hacks als „Scribe des Sozialismus", worin er den unterdessen zum „Klassiker" Avancierten mit dem seinerzeit berühmten, aber seichten Dramatiker der „Belle Epoque" Eugene Scribe (1791-1861) verglich; vgl. Taschenkalender-Eintrag vom 16.4.1985, in: A A d K , E S A 32.

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2 4 2 D i e sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

Sie hatten an ihnen nur auszusetzen, daß sie nicht typisch genug seien. Kurz, sie vergnügten sich auf ihre neue alte Weise. Hacks gab dem Publikum, was des Publikums ist. Er gab es einem neuen Publikum in alter Manier. Das ist das tiefere Problem einer solchen Art Dramatik. Das Stück ist im kleinen groß, im Großen aber klein. Der große Gegenstand und die mit ihm verbun- denen tieferen gesellschaftlichen und politischen Wahrheiten werden lediglich als Aufhänger für „die alten Geschichten" benützt. Die Größe eines Dramati- kers in unserer Epoche aber besteht darin, daß er nach neuen Wegen sucht, eben diese neuen, qualitativ neuen Gegenstände zur Anschauung zu bringen.

Vielleicht ist das unmöglich, weil die Menschen einen unstillbaren Drang ha- ben, sich abgebildet zu sehen. Aber die große Bewältigung (im dramatischen Sinn, im Sinn einer organischen Nachgestaltung der großen Konflikte) schlös- se eben eine solche Nachbildung ein. Nur müßte der Dramatiker eben die Kraft haben, die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit als Poesie anschaulich zu machen. Das kann nicht erreicht werden, indem man dem unterentwickel- ten ästhetischen Bewußtsein des Publikums nachgibt, sondern es herausfor- dert, darüber nachzusinnen, zu erfühlen zu versuchen, daß es sich nicht nur um eine qualitativ neue Wirklichkeit, sondern um eine neue Poesie handelt.

Hacks geht, wenn er diesen Weg weitergeht, den Weg allen Fleisches, den er nicht gehen wollte26. Er erweist sich als kleinformatiger Dramatiker, der nur über mehr formale Poesie verfügt als diejenigen, über die er die Nase rümpft.

Dokument 25: in der unbehaustheit (10. Oktober 1962) Ernst Schumacher; „10.10.62".

(Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ernst-Schumacher-Archiv Nr. 58) Schreibe diese Zeilen in einer miesen Stimmung, obwohl (weil?) draußen blau- er, blasser herbsthimmel. fühle mich allein in dieser Stadt, sehe nicht, wie es geändert werden kann, hoffe still, der weg nach „drüben", nach „rückwärts"

möge sich nochmals auftun, und weiß, daß es nur den nach vorne geben kann, ich habe zeitlang27 nach oberbayern, nach den menschen, die mir nahestehen.

2 6 Ein ähnliches Verdikt wie Schumacher fällte dessen unterdessen in der Bundesrepublik lebender Lehrer Hans Mayer: „Peter Hacks kam [nach der Maßregelung von 1962/63]

glimpflich davon. Er versuchte sich nochmals [1965] mit Themen der D D R , einem ,Moritz Tassow', also einem Dichter Tasso, mit Abusch zu reden, in der ,lebensstarken Welt des umfassenden Aufbaus des Sozialismus'. Neue Misere. Kann das gespielt werden oder nicht? Und Peter Hacks beschloß, ein Klassizist zu werden: gebildete, historische und mythologische Themen. Das hätte an sich den Ärger noch nicht gebannt, wie das Beispiel des Kollegen Heiner Müller bewies. Doch gefällig, und in hübschen Versen." Vgl. Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, S.252.

2 7 Süddeutsch für „Sehnsucht".

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25: in der unbehaustheit 243

die Vormittage, die nachmittage, die abende, die nächte, man kann arbeiten (aber schon wie: schlecht, ohne bücher, ohne ruhe, ohne anregung, ohne abre- gung) und trotzdem bleibt diese zähe Verdrießlichkeit, das nicht-ganz-un- glücklich-sein (weil schon zu bewußt, nicht mehr spontan genug in seinen ge- fühlen), aber eben auch das nicht-glücklich-sein. die grüße von rosl2 8, die grü- ße von mutter, sie bringen mir in erinnerung, wie es sein könnte (wenn es könnte) und zu bewußtsein, wie es ist: hart, grimmig, vierzigjährig sozusagen, kalt, frostig, mit wenig aussieht auf sonne, ich sehe die jungen leute, vermag nicht, ihnen neidig zu sein, weil sie Illusionen haben, ich sehe die älteren, ihre gesichter, in denen die mühe des jahrzehnts steht, ich sehe die alten, die es ganz erbärmlich haben (selbst wenn sie [es] warm haben).

In allen erkenne ich einen teil von mir. ich gehöre mir nicht mehr: ich befin- de mich in meinem eigenen gewahrsam, sehe mich in der isolierung, in der unbehaustheit, ein ich, das ebenso gut nicht mehr zu sein bräuchte, weil es nie sein mußte. ist es wahr, daß jeder des glückes schmied ist? was wenn der ham- mer zu groß, die kraft zu schwach, der amboß zu klein sein sollten?2 9 aber ich habe die entschuldigung nicht, das macht mich niedergeschlagen, leidend, da- mit für andere unleidig, ich werde richtig sentimental, wenn ich an oberbayern denke, an daheim (das doppelte3 0) und bin ohne freude. wenn ich an die Zu- kunft denke, diese zwanzig jähre, die es vielleicht noch sein werden - ich sehe mich diese zwanzig jähre diesen unsicheren gang weitergehen, ohne großen erfolg, es war ein kleiner, nicht gelungener versuch, werden, nein würden ein- mal kritische beobachter zu diesem „lauf durch die weit" sagen müssen, wenn es solche gäbe, zu diesem versuch, der „niedrigkeit", der begrenztheit im geis- tigen, dem kleinkarierten zu entgehen, (er besaß nicht einmal die fähigkeit,

„sich zu verkaufen", würden sie sagen). Ich wünsche noch nicht, nicht mehr zu sein; aber wie lange wird es noch dauern, bis ich es wünsche?3 1

2 8 Schumachers damalige Ehefrau.

2 9 Anspielung auf die Hammer-Amboß-Metapher im ..Kophtischen Lied" von Johann Wolfgang von Goethe, die der SED-Vorsitzende Otto Grotewohl anläßlich seiner Weima- rer Rede zur Feier des 200. Geburtstages Goethes 1949 aufgriff: bei Goethe heißt es: ..Du mußt steigen oder sinken, / Du mußt herrschen und gewinnen / Oder dienen und verlieren, / Leiden oder triumphieren, / Amboß oder Hammer sein." Grotewohl zog daraus die Schlußfolgerung: „Wir haben an der zwölfjährigen Barbarei eines einzigen Hitler genug, wir brauchen und wir wollen keinen neuen. [...] Du. deutsche Jugend, mußt steigen oder sinken. Du mußt herrschen über die dunklen Kräfte, die dich in der Vergangenheit miß- braucht und von Katastrophe zu Katastrophe geführt haben. [...] Einen Mittelweg gibt es nicht. Du darfst nicht Amboß. sondern du mußt Hammer sein!" Vgl. Otto Grotewohl.

„Amboß oder Hammer. Aus der Rede zur Goethefeier der Freien Deutschen Jugend am 22. März 1949". in: Otto Grotewohl. Über Geschichte. Politik und Kultur. Ausgewählte Reden und Schriften 1945-1961. hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D . Berlin [Ost] 1979, S. 93-127. insb. S. 103 und S. 127.

3 0 Elternhaus in Urspring und Schumachers Wohnung in München.

31 Nach seiner Übersiedlung in die D D R lebte Schumacher zunächst in provisorischen Verhältnissen; seit Mai 1962 wohnte er als Untermieter bei der befreundeten Altkommunis- tin Hedwig Remmele. zugleich arbeitete er 1962/63 als ..Habilaspirant" (besoldeter Nach-

(14)

2 4 4 Die sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

Dokument 26: soldat des lieben gottes (l.März 1963) Ernst Schumacher, „1. März 1963".

(Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ernst-Schumacher-Archiv Nr. 94) Beim exzerpieren von Karl Kraus' „Letzten Tagen der Menschheit"32 stoße ich auf den feldkuraten33 anton allmer. Er, der „einige schüsse abfeuert" und dazu

„Bumsti!" sagt, was ihm die rufe einträgt: „Bravo! Ist das aber ein edler pries- ter! Hoch unser lieber feldkurat!"34, erinnert mich allzu sehr an den kuraten alfons satzger, der seit kriegsende in der wieskirche35 sein Unwesen treibt.

Er war Vorsteher des jugendheims in kaufbeuren im allgäu, wo ich fünf jäh- re meiner jugend verbrachte, als ich in das progymnasium ging. Ein strammer kerl, meiner erinnerung nach schon im ersten weitkrieg „dabei" (meiner erin- nerung nach bei den kraftfahrern), deshalb nachher ein besessener motor- sportler (inhaber einer beiwagenmaschine ,,norton"(?), mit der er große stre- cken zurücklegte)). Nach dem krieg dann geistlicher, schnell avancierend in der katholischen Jugendbewegung (deutsche jugendkraft36), wegen seiner Sympathien, die er bei den jugendlichen fand (besonders bei den katholischen gesellenvereinen) dann direktor des erwähnten Jugendheimes.

wuchswissenschaftler) bei Professor Hans Mayer an der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo er 1953 promoviert hatte; vgl. MfS D D R , H A V/1/4, Bericht über Dr. Ernst Schumacher v.

24.7.1962, sowie Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin, Abt.XX/7, Bericht über Ernst Schumacher v. 30.5.1976, in: A A d K , ESA, D u B 151-2, Bl. 10 und Bl. 16.

32 Vgl. Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Sonderheft der „Fackel" Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien o. J. [1919], seither immer wieder aufgelegte Tragi- komödie über Österreich im Ersten Weltkrieg.

3 3 Bezeichnung für einen katholischen Militärgeistlichen in der österreichisch-ungarischen A r m e e bis 1918.

3 4 Zitat aus der ö.Szene des II. Aktes: „(Ein Infanterieregiment dreihundert Schritt vom Feind. Heftiger Feuerkampf.) Ein Infanterieoffizier: Da schauts nach rückwärts, unser gu- ter Feldkurat kommt zu uns. Das is schön von ihm. / D e r Feldkurat Anton Allmer: Gott grüße Euch, ihr Braven! Gott segne eure Waffen! Feuerts tüchtig eini in die Feind? / D e r Offizier: Habe die Ehre, Hochwürden - wir sind stolz, einen so unerschrockenen Feldku- raten zu haben, der trotz feindlicher Feuerwirkung, der drohenden G e f a h r nicht achtend, sich unserer Feuerstellung nähert. / D e r Feldkurat: Gehts, laßt mich auch a wengerl schie- ßen. / Der Offizier: Wir freuen uns alle, einen so tapferen Feldkuraten zu haben. (Er reicht ihm ein Gewehr. D e r Feldkurat feuert einige Schüsse ab.) Der Feldkurat: Bumsti! Rufe:

Bravo! Ist das aber ein edler Priester! Hoch unser lieber Feldkurat!" - In der folgenden Szene wiederholt sich dieses Ereignis beim Besuch des Feldkurats in einer Artielleriestel- lung: „Der Feldkurat: Mit Gott möcht ich auch einmal ein Geschütz probieren. D e r Offi- zier: Gern, Hochwürden, hoffentlich treffen Sie einige Russen. / (Der Feldkurat feuert ein Geschütz ab.) / D e r Feldkurat: Bumsti! / Rufe: Bravo! / [...] D e r Offizier: Jetzt erst, da Hochwürden geschossen hat, sind unsere Waffen gesegnet!" - Zit. nach: Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in 5 A k t e n mit Vorspiel und Epilog, 2 Bde., Mün- chen 8. Aufl. 1982, S.184f.

3 5 Barocke Wallfahrtskirche in Oberbayern.

36 1920 gegründeter katholischer Jugendsport-Verband (DJK), vom NS-Regime 1935 ver- boten, in Westdeutschland 1947 wiederbegründet.

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26: soldat des lieben gottes 245

Burschikos, derb, aber charmant, ein großer Verführer, weil er geschmack besaß auch im kirchenwesen (er war gegen kitsch, für klarheit), Verführer be- sonders deshalb, weil er mit den jugendlichen in die berge ging, das Wochen- ende über mit ihnen an seen zeltete, „was auftrieb" („organisierte" hieß es wohl noch und schon wieder) und zuwegbrachte. Von hilfsbereitschaft gegen- über den armen. Von den bäuerlichen eitern der schüler schon deshalb hoch- geschätzt, weil er mit ihnen in ihrem dialekt redete und kein geheimnis, son- dern einen Vorzug daraus machte, daß er selbst ein bauernsohn (seine angehö- rigen hatten einen hof bei kaufbeuren [...]).

Nun das herausfordernde: dieser Satzger erwies sich nach kurzer zeit selbst für die schwach begreifenden jungen als fermator des Widerstandes gegen die nazis, die bei der bewußteren jugend, da schon katholisch erzogen, zunächst keinen großen anklang fanden und ihn auch nie recht finden sollten. Er kämpfte um die macht über die jugend. Er wollte der hitlerjugend nicht die deutsche jugendkraft überlassen. Er duldete die HJ und das Jungvolk in seinem heim, aber nur, weil es nicht anders ging; insgeheim hielt er die katholischen jugendlichen zusammen und organisierte die bekenntnistage der katholischen jugend, sorgte für materielle Unterstützung für die [...] Organisa- tionen, hielt ihnen ideell den köpf hoch, wurde ein bewundernswertes vorbild eines katholischen gegners der nazis, scheute auch keine mühen, bewies kühn- heit, zeigte keine furcht, war schließlich mehr unterwegs als in seinem heim, das er einem aus der katholischen Studentenbewegung „Unitas" kommenden präfekten überließ (Dr. karl rüdinger, heute im bayerischen kultusministerium bzw. würzburg, wohin er, siehe herterich3 7, sicher gut paßt).

Ich weiß nicht mehr, ob er3 8 vom bischöflichen Ordinariat in augsburg, dem er direkt unterstand, weggeholt wurde, um die katholischen Organisationen auf Vordermann christus zu halten, oder ob sein abgang bereits die folge des drucks war, den die nazis ausübten.

Jedenfalls wurde satzger schließlich von den nazis angeklagt und des landes bayern verwiesen (er hielt sich dann in Württemberg auf). Ab und zu tauchte er bei irgendwelchen katholischen Veranstaltungen zwischen finster und siehst- michnicht auf, blieb also eine treibende kraft, geriet aber bei den jugendlichen des heims etwas in Vergessenheit, so auch bei mir, weil die neuen leiter die auf- merksamkeit auf sich zogen (warum, wäre ein anderer fall zu schildern).

Dieser Satzger nun wurde bei ausbruch des krieges mobilisiert. Wie ich hör- te, soll er sich aber freiwillig gemeldet haben. Er brachte es zum Divisions- pfarrer an der Leningrader front. Dort tat er sich weniger als priester denn als Sturmtruppführer hervor; jedenfalls war er bei unternehmen dabei, bei denen für gewöhnlich kein pfaffe angetroffen wurde. Wie es heißt, soll er schließlich eigenhändig einen schwer zu nehmenden bunker der russen mit handgranaten

3 7 Vgl. Elmar Herterich, Sie werden weiter marschieren... Die Nazi-Justiz. Eine D o k u - mentation. dargestellt am Beispiel Würzburg, Würzburg 1963.

3 8 A l f o n s Satzger.

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2 4 6 D i e sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

„ausgeräuchert" haben. Dabei verlor er seinen linken arm (es kann auch der rechte sein). Für seine tapferkeit schlug ihn der divisionär39 zum ritterkreuz vor (die beiden eisernen kreuze hatte er schon vorher; das eine bereits aus dem ersten weitkrieg). Hitler selbst soll der fall vorgelegt worden sein. Aus aversion gegen die pfaffen soll Hitler prinzipiell gegen die Verleihung von hohen auszeichnungen an diese gehilfen gottes gewesen sein, schlug also die dekorierung mit diesem blutorden des Schlachtfeldes ab.

Satzger wurde demobilisiert, übte wieder seinen beruf als geistlicher in zivil aus. Nach dem krieg konzentrierte er sein bestreben darauf, kurat in der wiesfkirche] zu werden. Aus diesem gründe drückte er, wie man in meiner heimat sagt, den vierthalter beni, der seit mehr als zwei Jahrzehnten dort geist- licher war, weg und machte aus der wies ein jugendzentrum für die diözese augsburg. Schon bei den ersten predigten, mit denen er sich in der wies ein- führte, wurde deutlich, was sein ureigentlichster antrieb war: beileibe nicht die abneigung gegen den nazismus, wie es einmal scheinen mochte, sondern ein tödlicher, ingrimmiger, niemals ruhender, ihn sicher achtzig und hundert jähre am leben erhalten werdender haß gegen den kommunismus. Die feindschaft gegen den nazismus erwies sich nachträglich als beleidigtsein und erbitterung, daß ihm und seinesgleichen nicht mehr die führung einer an sich gemeinsa- men sache zugestanden sein sollte. Dagegen der haß gegen den kommunismus war etwas viel ursprünglicheres. Dutzende von bauerngeschlechtern, ent- mannt und kastriert seit den bauernkriegen, an das joch der kirche so gewöhnt, daß das bibelwort von der Süße dieses Jochs4 0 auf bornierte weise geglaubt wurde, rebellierten in ihm bei der Vorstellung, daß ihnen der hof, das ein und alles, von diesen Untermenschen4 1 weggenommen werden soll und so weiter.

Als stimulans kam dazu die giftig-wilde Ideologie des römischen christenwe- sens, dieser deutsche katholizismus, der keinen höheren ehrgeiz kannte, als alle formen der Unterdrückung zu segnen, und der nun, da der gottseibeiuns4 2

in gestalt der sowjetischen divisionen an der elbe stand, von einer hysterie in die andere fiel und immer wieder, was ortsmäßig besonders wirkte, an die his- torische Schlacht auf dem lechfeld4 3 gegen die hunnen4 4 erinnerte. D a stand

3 9 Der Divisionskommandeur.

4 0 Anspielung auf das im Matthäus-Evangelium berichtete Jesus-Wort: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht." (Mt 11,30)

41 Der Begriff des „Untermenschen" bezeichnete in der NS-Ideologie als rassisch wertlos betrachtete Kategorien von Menschen - hier auf die durch ihre „bolschewistische" Ideolo- gie noch zusätzlich zu „Untermenschen" gestempelten, schon aufgrund ihrer „slawischen Rasse" als „minderwertig" abgewerteten Russen gemünzt.

4 2 Indirekte Bezeichnung für den Teufel, gegen den Gott um Beistand angerufen wird.

4 3 In der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg besiegte 955 das deutsche Heer unter Führung König Ottos I. die in das Land eingedrungenen Reitertruppen der damals noch heidnischen Ungarn.

4 4 Die Hunnen waren - ähnlich wie die Ungarn, mit denen Schumacher sie verwechselt - ein asiatisches Reitervolk, das im 5. Jahrhundert in Europa eindrang und ein kurzlebiges

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26: soldat d e s lieben g o t t e s 2 4 7

also nun dieser soldat des lieben gottes auf der kanzel der schönsten, bunte- sten, lebendigsten, zur Versöhnung geradezu herausfordernden, einen mit dem Christentum versöhnen lassenden kirche und geiferte von h a ß gegen den kom- munismus und bolschewismus, organisierte eine jugendtagung nach der ande- ren, auf [der] die jungen bauernburschen und bauernmädel von der donau bis ins allgäu herangeholt und „aufgeklärt" wurden, und machte schließlich eine landvolkshochschule mit eigenen gebäuden auf, die zum Zentrum der antibol- schewistischen und antikommunistischen agitation und propaganda man kann sagen Schwabens und oberbayerns wurde.

Ich sah diesen menschen nach dem krieg noch ein paarmal in „seiner" kir- che, die einmal die „meine" gewesen war, soweit man d a r u n t e r die anhäng- lichkeit, die bewunderung, die Verliebtheit in ein künstlerisch hochwertiges gebilde verstehen kann. Er mengte sich liebenswürdig, triefend vor freund- lichkeit, überquellend vor charme unter die leute, erklärte ihnen mit schillern- den Worten das wunder der wies, das er natürlich ganz als Offenbarung des göttlichen, nicht des menschlichen geistes erläuterte, und versäumte nicht ein einzigesmal, auf die drohung hinzuweisen, die dieser Schönheit, von gott ge- offenbart. durch den bolschewismus drohe. Natürlich versäumte er auch nie, gegen den gottlosen materialismus [im] eigenen land zu wettern, die Verfüh- rung durch das wirtschaftswunder zu verurteilen, aber immer unter dem ge- sichtspunkt, daß damit die abwehrkraft und die „ f r o n t " gegen den bolschewis- mus geschwächt würde.

Wer diesen typ „im a m t " gesehen hat, weiß, welche gegner die sieger von morgen einmal erwarten werden. Er begreift blitzartig, wenn er ein gespür für die langwirksamkeit solcher „typen" auf die mentalität des volkes hat und einige erfahrungen sammeln konnte, wie unmöglich es ist, auf die diktatur der neuen k r ä f t e zu verzichten und einen weg der Verständigung und Versöhnung mit diesen alten kräften zu begehen. Wahrhaftig, wir sind todfeinde: einer von uns ist zuviel auf der erde, das ist die Wahrheit. Er, dieser militante faschist im pfarrerrock, würde, davon bin ich überzeugt, nicht einen augenblick zögern, mich, uns, unseresgleichen bis ins siebte glied4 5 auf den Scheiterhaufen zu schicken oder unter die erde zu bringen. Wir sagen, daß wir das nicht nötig haben. Ich bin auch überzeugt, d a ß wir es nicht mehr nötig haben. A b e r dieses menschlichseinkönnen wird uns unmenschliche mühen kosten, denn allein so- lange sie einhergehen, sind sie Stachel für alle antiquierten gefühle der breiten massen, das mittelalter im denken. U n d niemand sollte die ungeheure restau- ration alles veralteten, mittelalterlichen in diesen j a h r f ü n f t e n nach dem zwei-

G r o ß r e i c h u n t e r i h r e m K ö n i g Attila s c h u f e n ; im übrigen w u r d e n im 20. J a h r h u n d e r t mit d e n H u n n e n w e n i g e r die R u s s e n verglichen als die D e u t s c h e n , d e n n die b e r ü c h t i g t e ..Hun- n e n r e d e " Kaiser W i l h e l m s II. von 1900 a u f g r e i f e n d w u r d e n sie w ä h r e n d d e s E r s t e n Welt- krieges von d e r feindlichen P r o p a g a n d a zu b a r b a r i s c h e n . . H u n n e n " g e s t e m p e l t .

4 5 A n s p i e l u n g auf biblische W o r t e d e s A l t e n T e s t a m e n t s ü b e r die B e s t r a f u n g nicht nur derer, die g e g e n G o t t u n d sein Volk gesündigt h a t t e n , s o n d e r n auch ihrer K i n d e r u n d Kin- d e s k i n d e r „bis ins s i e b t e " o d e r gar „bis ins z e h n t e G l i e d " .

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2 4 8 D i e sechziger Jahre: „Freiwilliges Exil" im ostdeutschen Teilstaat

ten weitkrieg in Westdeutschland unterschätzen. Wer es tut, hat diese typen wie satzger nie genau gesehen, nie genau beobachtet, nie persönlich erlebt.

Ach, wären es nur wölfe, wären es nur nattern, wären es nur tiger! Sie sind freundlich, liebenswürdig, menschlich, wohlwollend! Es gehört ein großer scharfsinn allein an psychologie dazu, sie in ihrer art zu durchschauen; es ge- hört viel wissen dazu, ihre Unwahrheiten zu durchschauen; es gehört unter den heutigen bedingungen in Westdeutschland ein großer mut dazu, sich von ihnen loszusagen oder gar gegen sie aufzutreten. U n d wenn all das vorhanden ist, sind sie immer noch vorhanden, haben eine breite basis, haben alle gefühle für sich und letztlich das dumpfste, aber brutalste, das des Privateigentums. Die- sen hebel werden sie ohne Skrupel bedienen, wenn es darauf ankommt, und dann sprechen wir uns, liebe freunde, die ihr das alles für übertrieben haltet, jedenfalls für subjektiv gefärbt, wieder, wenn sie euch so sehr pisacken, daß ihr ständig schwankt zwischen der Versuchung zum individuellen terror oder zum massenterror. Jedenfalls, die Wies ist mir seitdem verleidet. Ich denke an sie mit wehmut, weil ich diese Schönheit liebe, aber die lüge und das verbre- chen, das in ihr einhergeht, noch mehr hasse.

Dokument 27: Die roten fahnen wehen (1. Mai 1963) Ernst Schumacher, „Berlin, 1. Mai 1963".

(Archiv der Akademie der Künste Berlin, Ernst-Schumacher-Archiv Nr. 62)

Die roten fahnen wehen von peking bis havanna. Der rote wimpel wirbelt durch die Vorstufen zum Weltall. Die rote rakete hat sich donnernd gelöst46 - wie groß wird ihre beschleunigung bis ende des jahrhunderts sein! D e r kom- munismus ist die bestimmende kraft des jahrhunderts, nein der epoche gewor- den. Das „neue deutschland" von heute bringt die Wahlergebnisse aus italien:

Rote mehrheiten in den alten Städten bologna, florenz, genua, mailand.4 7 Und siehe neues aus meiner heimat: eine halbe million metallarbeiter im lohn- kampf4 8. Bleicher, der metallarbeiterführer aus Württemberg: Die arbeitneh-

4 6 Anspielung auf den damaligen Vorsprung der Sowjetunion gegenüber den U S A in der Weltraumfahrt, der 1961 mit dem ersten bemannten Weltraumflug des Kosmonauten Juri A. Gagarin dokumentiert worden war.

4 7 D i e italienischen Wahlen v o m April 1963 erbrachten G e w i n n e für die oppositionellen Kommunisten und Liberalen und schwächten die v o m christdemokratischen Ministerprä- sidenten A m i n t o r e Fanfani bewirkte Öffnung nach Links durch Koalitionen mit sozialisti- schen Parteien; Fanfani mußte im Mai 1963 zurücktreten, doch E n d e 1963 bildete der Christdemokrat A l d o Moro - der früher Fanfanis Kurs noch bekämpft und stattdessen für eine Öffnung zu den Neofaschisten plädiert hatte - eine neue Mitte-Links-Regierung, die bis 1968 hielt.

4 8 Seit dem 29. April 1963 streikten die Metallarbeiter im Tarifgebiet Baden-Württem- berg, worauf die Metall-Arbeitgeber erstmals seit 1928 mit einer einheitlichen Aussper-

Abbildung

Abb. 20: Ernst Schumacher (links) kurz nach seiner Übersiedlung aus der Bundesrepu- Bundesrepu-blik in die DDR mit dem Lyriker Peter Hüchel (Mitte), damals noch Chefredakteur der  Zeitschrift „Sinn und Form", und dem Schriftsteller Georg Maurer vor Hüc
Abb. 22: Intellektuelles Leben in der DDR Mitte der 1960er Jahre: die Malerin Lea  Grundig (vorn links), der SΕD-Kulturfunktionär Alfred Kurella (2
Abb. 24: Väterlicher Freund:

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