Deutsches Ärzteblatt
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17. Januar 2014 23M E D I Z I N
EDITORIAL
Psychopharmaka-Verordnungen bei Kindern und Jugendlichen
Gerd Lehmkuhl, Ingrid Schubert
Editorial zum Beitrag:
„Antipsychotika- Verordnungen bei Kindern und
Jugendlichen“
von Christian Bachmann und Koautoren auf den
folgenden Seiten
handlung anstelle einer Psychotherapie. Eine Zunahme psychischer Störungen scheint nach Ansicht der Auto- ren unter Bezug auf eine Metaanalyse nicht zu beste- hen, auch finden sich keine geänderten Leitlinienemp- fehlungen durch die Fachgesellschaften.
Es muss überraschen, dass trotz der nicht gesicherten Datenlage eine Zunahme von Antipsychotika-Ver - ordnungen in vielen westlichen Ländern beobachtet wird. So stellten Rani und Mitarbeiter (7) in England zwischen 1992 und 2005 eine Verdoppelung der anti- psychotischen Medikationen fest und fanden den größ- ten Anstieg bei Kindern im Alter zwischen 7 und 12 Jahren. Sie bringen dies mit einer Erweiterung des In - dikationsspektrums in Zusammenhang, einer Verände- rung der Diagnosekriterien sowie einem generellen Trend zu mehr Medikation. Darüber hinaus würden klassische Neuroleptika zunehmend durch Atypika er- setzt.
In einer eigenen Studie (8) fanden wir zwischen 2000 und 2006 ebenfalls einen deutlichen Anstieg, der jedoch etwas niedriger ausfiel als in England. In diesem Zeitraum nahm die Verschreibung von Atypika zu, wo- hingegen die Verschreibung von klassischen Antipsy- chotika zurückging. Insbesondere die Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen – und hier die Jungen – erhielten verstärkt Neuroleptika. Da Erkrankungen aus dem schi- zophrenen Spektrum nicht vermehrt auftraten, sind an- dere Indikationen für diesen Anstieg verantwortlich.
Hierbei dürfte es sich vor allem um aggressive und im- pulsive Verhaltensauffälligkeiten handeln (8).
Tyrer und Koautoren überprüften die Effekte von Neuroleptika auf aggressives Verhalten bei geistiger Behinderung und kamen zu der kritischen Einschät- zung, dass antipsychotische Medikamente nicht länger als eine Routinemaßnahme bei dieser Patientengruppe eingesetzt werden sollten (9). Es zeigte sich gegenüber einer Placebo-Behandlung keine signifikante Verbesse- rung, jedoch traten viele unerwünschte Wirkungen auf.
Für Matson und Wilkins (10) ist diese Studie vor allem deshalb so bedeutsam, weil sie die generelle Indikation für Neuroleptika bei oppositionell-aggressivem und impulsivem Verhalten infrage stellt und auf einige spe- zielle, besonders ausgeprägte Formen reduziert.
Zurzeit ist jedoch ein gegensätzlicher Trend zu beobachten, bei dem der Anwendungsbereich für Neuroleptika gerade bei aggressiven Störungen eher erweitert wird und damit verhaltenstherapeutische In- terventionen, die sich empirisch als überlegen gezeigt
P
sychische Störungen im Kindes- und Jugendalter haben als Behandlungsanlass in den letzten Jah- ren deutlich zugenommen. Dabei sind nicht nur Kin- der- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten ge- fragt, sondern auch Kinder- und Allgemeinärzte – ins- besondere wenn es um eine medikamentöse Behand- lung mit Psychopharmaka geht (1).Dank des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), der von 2003 bis 2006 durchgeführt wurde, gibt es relativ aktuelle Daten unter anderem zur psy- chischen Gesundheit, Arzneimittelanwendung und In- anspruchnahme medizinischer Leistungen von Kindern und Jugendlichen (2). Auffallend ist, dass sich trotz ei- ner deutlich beeinträchtigten Lebensqualität nur circa die Hälfte der Betroffenen in Behandlung befindet.
Und selbst wenn sie den Weg in eine Praxis oder Insti- tution finden, ist damit nicht gesichert, dass sie auch angemessenen versorgt werden: Kinder und Jugendli- che, bei denen als Vorstellungsanlass eine psychische Störung vorlag, erhielten nur in gut 30 % der Fälle kin- derpsychiatrische und psychotherapeutische Leistun- gen, wie eine versicherungsbezogene epidemiologische Studie zeigte (3). Die im Kinder- und Jugendgesund- heitssurvey (KiGGS) erfassten aktuellen Arzneimittel- anwendungen belegen deren hohe Behandlungsrele- vanz. Arzneimittel zur Behandlung des Nervensystems lagen dabei mit 7,2 % immerhin auf dem 4. Platz (4).
Atypische Neuroleptika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Bachmann und Koautoren (5) weisen in ihrem Artikel auf generelle Probleme bei der Verordnung von Anti- psychotika hin. Es sind nur wenige atypische Neurolep- tika für das Kindes- und Jugendalter zugelassen, so dass ihre Verordnung häufig off-label erfolgt. Das Indi- kationsspektrum ist darüber hinaus für das Jugendalter auf schizophrene, wahnhafte und bipolare Störungen eingegrenzt sowie für Kinder mit aggressiven, impulsi- ven Verhaltensreaktionen und Selbstverletzungen bei geistiger Behinderung beziehungsweise Autismusspek- trumstörungen (6).
Offen bleibt, warum die Versorgungszahlen von Neuroleptika weiter ansteigen. Es mag überraschend erscheinen, dass die Verordnungszahlen von Neurolep- tika weiter ansteigen. Bachmann und Koautoren nen- nen einige mögliche Erklärungsansätze: Eine veränder- te Versorgungssituation, ein intensives Marketing aty- pischer Neuroleptika sowie eine medikamentöse Be-
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Uniklinik Köln:
Prof. Dr. med.
Lehmkuhl, Dr. rer. soc. Schubert
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haben, in der Umsetzung allerdings aufwendig sind, vernachlässigt werden. Dies unterstreicht noch ein- mal die Einschätzung von Bachmann und Koautoren (5), dass angesichts der Diskrepanz zwischen vorhan- dener Evidenz und Verschreibungspraxis ein erhebli- cher Bedarf an weiteren Studien zu den Wirkungen von Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen be- steht.
Bedeutung versicherungsbezogener Routinedaten für das Versorgungssystem
Die Längsschnittuntersuchung von Bachmann und Ko- autoren (5) wertet Daten einer Krankenkasse zur Be- handlung von Kindern und Jugendlichen mit Antipsy- chotika im gesamten Bundesgebiet über einen Zeit- raum von acht Jahren aus. Den Vorteilen eines solchen Untersuchungsansatzes – zum Beispiel große, unselek- tierte Populationen untersuchen zu können – stehen ei- nige Nachteile – wie die fehlende Möglichkeit zur Überprüfung der Diagnosestellung, Fehlen wichtiger Informationen zur Krankheitsdauer und -schwere so- wie sozialer Belastung – gegenüber. Dennoch sind sol- che – auch auf eine Krankenkasse bezogene – Untersu- chungen außerordentlich wertvoll, da sie uns mit Ent- wicklungen und Trends in Diagnostik und Therapie vertraut machen, die sonst nicht so eindeutig zu erken- nen wären. Veränderungen der Verordnungsprävalenz über die Zeit lassen sich ebenso feststellen wie die An- zahl von Off-label-Behandlungen. Routinedaten der Krankenkassen ermöglichen dabei eine Untersuchung ohne Verzerrung durch eine Selektion der Befragten, wie zum Beispiel in praxis- oder krankenhausbezoge- nen Erhebungen, sowie ohne Erinnerungsverzerrungen und Antwortverweigerungen. Geschlechts- und alters- spezifische Effekte bei der Medikation werden transpa- rent, ebenso mögliche Unterschiede in der Behand- lungspraxis in Abhängigkeit von der Region (Stadt, Land) oder auch Veränderungen in der durchschnittli- chen Zahl an Tagesdosen je Empfänger im Verlauf der Jahre (11).Der Beitrag von Bachmann und Koautoren (5) er- laubt es, wichtige Schlussfolgerungen zu ziehen, und regt zur kritischen Überprüfung der Behandlungspraxis mit Antipsychotika an: Auch ohne überzeugende Evi- denz werden vor allem Atypika off-label über einen längeren Zeitraum in der Behandlung von aggressiv- impulsiven Störungen zunehmend eingesetzt. Diese In- dikation findet sich nicht in den entsprechenden Leitli- nien und die Mehrzahl der Verordnungen erfolgt nicht durch den Kinder- und Jugendpsychiater, wobei offen bleibt, ob die Medikation Teil eines multimodalen Vor- gehens ist. Das am meisten verordnete Antipsychoti- kum Risperidon wird in 61,5 % der Fälle bei Patienten mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und in 35,5 % der Fälle bei Störungen des So- zialverhaltens gegeben. Diese Ergebnisse unterstrei- chen, dass die Autoren eine wichtige Diskussion über die adäquate Behandlung von Kindern und Jugendli- chen mit aggressiv-impulsiven Störungen angestoßen haben.
Interessenkonflikt
Prof. Lehmkuhl erhielt Honorare für Beratertätigkeit (Advisory Board Strattera) von der Firma Lilly.
Dr. Schubert erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
LITERATUR
1. Kamtsiuris P, Bergmann E, Rattey P, Schlaud M: Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Ergebnisse des Kinder- und Jugend - gesundheitssurveys (KiGGS). Bundesgesundheitsbl – Gesundheits- forsch – Gesundheitsschutz 2007; 50: 836–50.
2. Ravens-Sieberer U, Wille N, Bettge S, Erhart M: Psychische Ge- sundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheits- schutz 2007; 50: 871–8.
3. Lehmkuhl G, Köster I, Schubert I: Ambulante Versorgung kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen – Daten einer versicherten - bezogenen epidemiologischen Studie. Prax Kinderpsychol Kinder- psychiat 2009; 58: 170–85.
4. Knopf H: Arzneimittelanwendung bei Kindern und Jugendlichen.
Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007; 50: 863–70.
5. Bachmann CJ, Lempp T, Glaeske G, Hoffmann F: Antipsychotic prescription in children and adolescents—an analysis of data from a German statutory health insurance company from 2005–2012.
Dtsch Arztebl Int 2014; 111(3): 25–34.
6. Fegert JM, Häßler F, Rothärmel S: Atypische Neuroleptika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Stuttgart: Schattauer 1999.
7. Rani F, Murray MA, Byrne PJ, Wong ICK: Epidemiologic features of antipsychotic prescribing to children and adolescents in primary care in the United Kingdom. Pediatrics 2008; 121: 1002–9.
8. Schubert I, Lehmkuhl G: Increased antipsychotic prescribing to youths in Germany. Psychiatric Services 2009; 60: 269.
9. Tyrer B, Oliver-Africano PC, Ahmedz Z, et al.: Risperidone, haloperidol, and placebo in the treatment of aggressive challenging behaviour in patients with intellectual disability: A randomised controlled trial. Lancet 2008; 370: 9–10.
10. Matson JL, Wilkins J: Antipsychotic drugs for aggression in intel- lectual disability. Lancet 2008; 371: 9–10.
11. Schubert I, Köster I, Lehmkuhl G: The changing prevalence of atten- tion-deficit/hyperactivity disorder and methylphenidate prescrip - tions: a study of data from a random insurance company in the Ger- man State of Hesse, 2000–2007. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(36):
615–21.
Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Uniklinik Köln Robert-Koch-Straße 10 50931 Köln
gerd.lehmkuhl@uk-koeln.de
Englischer Titel: Psychotropic Medication in Children and Adolescents
Zitierweise
Lehmkuhl G, Schubert I: Psychotropic medication in children and adolescents.
Dtsch Arztebl Int 2014; 111(3): 23–24. DOI: 10.3238/arztebl.2014.0023
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The English version of this article is available online:www.aerzteblatt-international.de