Englischunterricht in einer Pekinger Mittelschule — alles läuft auf das Mao-Zitat hinaus: „Study well and make progress every day!" Fotos (5): Burkart
Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen
BLICK ÜBER DIE GRENZEN
„Sie dürfen China nicht mit
anderen Ländern vergleichen!"
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rücksichtslose zentrale Machtzu- sammenballung dient.
Ein solches System hat — jeden- falls in China — den Effekt, zwei einander widersprechende Tenden- zen zu fördern: die Initiative der einzelnen Gruppe ebenso wie die zentrale Lenkungskraft. Für beides ein Beispiel:
(aber auch: einer Schule, eines Krankenhauses oder was es sonst alles gibt) ist der „Vorsitzende des Revolutionsrates" (erstaunlich vie- le von ihnen sind Frauen). Es gibt Stellvertreter des Vorsitzenden und Mitglieder, die gemeinsam die Leitung bilden. Ein solcher Revo- lutionsrat wird aber nicht etwa von den Mitgliedern der Genossen- schaft, der Belegschaft oder an- ders aus der Mitte der Gemein- schaft gewählt (wie manche unse- rer Mao-Jünger wohl glauben), sondern von der Parteiorganisation der entsprechenden Ebene einge- setzt. Die Partei ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung: Mao zitierte einmal vor nicht allzu langer Zeit die Zahl von 10 Millionen Mitglie- dern. Aber auch die Partei ist hier nicht frei: Die Einsetzung eines Re-
volutionsrates muß von der nächst- höheren staatlichen Ebene bestä- tigt werden. Dieses System stehtso- gar in der neuen Verfassung der Volksrepublik. Manche Chinabeob- achter glauben, daß seit der „Kul- turrevolution" das Militär entschei- denden Einfluß auf die staatliche Verwaltung habe; wie dem aber auch immer sei: Die Staatsführung hat letztendlich die personelle Oberhoheit. Auch ein Bürgermei- ster als „Vorgesetzter des Revolu- tionsrates" seiner Stadt unterliegt so der Bestätigung durch die nächsthöhere staatliche Steile.
Dieses System wird mit dem Be- griff „Demokratischer Zentralis- mus" beschrieben — ein Begriff, der auch in anderen kommunisti- schen Staaten vorkommt, dort aber mehr als Tarnvokabel für
„Seif-reliance"
Es ist geradezu ein „chinesisches Trauma", daß die Sowjetunion Ende der fünfziger Jahre fast über Nacht sämtliche „Entwicklungshil- fe" abzog, Lieferungen einstellte, Bauarbeiten stoppte, nicht einmal mehr Ersatzteile schickte für die russischen Industrieerzeugnisse, die in China eingesetzt waren.
„Self-reliance", so heißt es auf englischsprachigen Spruchbän- dern in der Industriemesse zu Kan- ton, ist seitdem eines der wichtig- sten Schlagworte der chinesischen Politik und Wirtschaft. Man will sich niemals mehr in Abhängigkeit von einem anderen begeben — nicht einmal durch normale Kredit- aufnahme: China zahlt bar (und pünktlich, erklären westliche Han- delspartner). Wo man auch hin- kommt, zeigen die Gastgeber stolz ihre Webstühle und Spinnmaschi- nen, ihre Uhren, ihre Röntgenappa- rate: chinesische Produktion. Der Begriff „Autarkie" fällt niemals, ob- wohl China zur Zeit autark ist; man will aber in Zukunft doch wieder mehr Handel treiben, vor allem, wenn die nach chinesischen Anga- ben unermeßlichen Ölreserven er- schlossen sind.
„Seif-reliance" wird schon in der Schule gelehrt: Zur Mittelschule (13 bis 17 Jahre) gehört auch eine Werkstatt, in der die Schüler zwei Monate pro Jahr arbeiten müssen;
wir bekamen recht komplizierte Maschinen gezeigt, die die Schüler für ihre Werkstatt selbst gebaut haben. Es ist — das soll das Bei- spiel sagen — kaum vorstellbar, daß solche Leistungen, nämlich das Ersetzen aller fremden Hilfe in nur wenigen Jahren, nur durch
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Mit deutschen Ärzten in China
drückenden Dirigismus von oben möglich gewesen wäre; das Sy- stem enthält Motivationen auch für den einzelnen und die kleinere Gruppe.
Verdienst und Mehrverdienst Übrigens gibt es, obwohl es offi- ziell geleugnet wird, auch „mate- rielle Anreize" individueller Art:
„Aktivisten" können mehr verdie- nen als die durchschnittlichen 60 Yuan monatlich in der Stadt und 40 Yuan auf dem Lande (wir erhielten einen Yuan für etwa 1,30 DM; das Transportmittel Fahrrad kostet 150 Yuan, der Fabrikarbeiter bezahlt für die fabrikeigene Wohnung eine nominale Miete von einem Yuan pro Jahr je Schlafzimmer, der Bau- er für das Kilo Reis 20 Fen). „Akti- visten" haben auch als einzige die Chance, Erholungsurlaub zu be- kommen; sonst gibt es Urlaub nur für diejenigen, die von ihrer Fami- lie getrennt leben müssen.
Kein persönlicher Entscheidungsspielraum
Das andere Beispiel: Der Zentralis- mus bedeutet trotz seines Bei- wortes, daß das individuelle Lebensschicksal sehr streng ge- lenkt wird. Nach dem Schulab- schluß ist es obligatorisch, daß man mindestens zwei Jahre lang in der landwirtschaftlichen oder indu- striellen Produktion arbeitet — kör- perlich arbeitet, wird dabei immer wieder betont. Der Wehrdienst von zwei bis vier Jahren — je nach Waffengattung — kommt dazu.
Und dann entscheidet „die Kom- mune" oder „die Fabrik", ob je- mand weiter ausgebildet werden, das heißt, auf die Universität gehen darf. Praktisch heißt das: Es ent- scheidet der jeweilige „Revolu- tionsrat", also das zuständige von Partei und Staat gelenkte Verwal- tungsorgan.
Wir spielten einen Fall durch: Im Jugendpalast zu Shanghai hörten wir ein elfjähriges Mädchen mit großer Virtuosität und viel musika-
lischer Begabung Klavier spielen.
Ein Arbeiterkind, wurde gesagt; na- türlich hat sie zu Hause kein Kla- vier, sie kommt dreimal in der Wo- che in den Jugendpalast zum Un- terricht und Üben. Durchaus mög- lich, daß in diesem Mädchen eine zukünftige Meisterpianistin steckt.
Muß sie, wenn sie 17 ist, auch zwei Jahre körperlich arbeiten? Ja, selbstverständlich. Könnte diese Begabung nicht damit ruiniert wer- den, durch Handarbeit und Unter- brechung des Übens? Ach — wir haben so viele Begabte, war die et- was resignierende Antwort.
Nivellierung nach unten
Die „permanente Revolution", die Mao verlangt, kommt noch dazu.
Der Begriff, über den bei uns sehr viel philosophiert wird, hat eine ganz praktische Bedeutung: Er ent- hält die Verpflichtung für jeden, der eine gehobene Position inne- hat, in gewissen Zeitabständen in die „Produktion" auf dem Lande oder in der Fabrik zu körperlicher Arbeit zurückzukehren; die Füh- rungskräfte sollen „von den Mas- sen lernen". Auch Ärzte sollen re- gelmäßig eine Zeit auf dem Lande arbeiten, damit sie „von den Bau- ern lernen". Wieweit dies tatsäch- lich durchgeführt wird, ist schwer zu übersehen. Beabsichtigt ist je- denfalls, der Bildung neuer Eliten oder neuer Klassen vorzubeugen;
man darf wohl auch befürchten, daß ein solches System eine Nivel- lierung beabsichtigt und hervorruft
— eine Nivellierung nach unten al- lerdings. Die Gefahr ist vorhanden, daß Aufstiegsmöglichkeiten knapp und unsicher sind, der entspre- chende Leistungsanreiz also fehlt oder aber durch politisches Wohl- verhalten ersetzt ist (wonach ent- scheidet wohl ein Revolutionsrat, wenn ein paar junge Pianistinnen weiterüben wollen, statt Reis anzu- bauen?)
Andererseits muß hervorgehoben werden, daß gegenüber vorrevolu- tionärer Zeiten der Bildungsstand der breiten Masse gestiegen, der Analphabetismus eingedämmt ist
— bei der Schwierigkeit der chine- sischen Bilderschrift gewiß eine beachtliche Leistung, die aber na- türlich mit straffer, politischer In- doktrination der Schüler verbunden ist: Die Englischstunde in der Mit- telschule, die wir beobachteten, be- gann mit der Jangtsekiang-Brücke
— als größte Brücke der Welt und
„great victory of Mao Tse-tung's thought" bezeichnet — und endete mit einem Mao-Spruch.
Nun ist China seit jeher nicht ein Land des Individualismus gewesen.
Personenkult fand sein Objekt nur im Kaiser, an dessen Stelle heute im Bewußtsein der Masse der Chi- nesen Mao Tse-tung getreten ist — nach Meinung vieler Kenner dieses Volkes ein ganz normaler Vorgang, ja eine psychologische Notwendig-
keit: Am Mao-Kult dürfte man sich nicht stören. Was aber in Ostblock- staaten Personen wie Stachanow oder Hennecke als offiziell geprie- sene Vorbilder sind, das ist in Chi- na bezeichnenderweise eine Kom- mune — „Lernen von Tach`ai" ist eine oft zu hörende Parole; Tach`ai ist eine zentralchinesische Muster- kommune.
Universitäten: noch nicht erholt Das Schulsystem ist also auf Bil- dung in die Breite, nicht aber in die Spitze angelegt. Die Kulturrevolu- tion wirkt noch immer nach: Die Universitäten haben bis heute ihren vollständigen Lehrbetrieb noch im- mer nicht aufgenommen, weil man, wie uns ganz offen erklärt wurde, noch nicht so recht weiß, wie das Bildungsangebot an den Universi- täten gestaltet werden soll. Man kann vermuten, daß es gerade das politische Ziel der Vermeidung des Entstehens neuer Eliten und damit Klassen ist, das den Universitäts- betrieb behindert: Höhere oder bessere Bildung führt eben auto- matisch zur Elitenbildung.
• Wird fortgesetzt
Anschrift des Verfassers:
Walter Burkart
5 Köln 40, Postfach 40 04 30
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