• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Vergangenheits„bewältigung“ in der Nußschale" (30.03.1989)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Vergangenheits„bewältigung“ in der Nußschale" (30.03.1989)"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Vergangenheits„bewältigung"

in der Nußschale

Sechzehn Beiträge wird die Artikelserie über die Medizin im Natio- nalsozialismus umfassen. Mit diesem Heft sind 11 erschienen, die übrigen werden in dichter Folge in den nächsten Heften veröffent- licht. Die Serie, die mit Heft 17/1988 begonnen hat, wird somit etwa innerhalb Jahresfrist abgeschlossen sein. Die Artikel und der The- menkreis haben im. Leserkreis ein ungewöhnlich starkes Echo ge- funden. Bis zur „Halbzeit" der Serie gingen bei Autoren und Redak- tion weit über 1000 Zuschriften ein, darunter über 200 ausführliche.

AKTUELLE POLITIK

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Bei den Leserbriefen zur NS-Se- rie wurde eine alte redaktionelle Er- fahrung wieder einmal bestätigt: viel Post für die Autoren, etwas weniger für die Redaktion. Die Autoren er- hielten die lobenden, ja begeisterten Briefe; bei der Redaktion wurde vor- wiegend die Kritik abgeladen. Somit sind auch die Leserbriefe zur NS-Se- rie, die seit etwa einem Jahr in nahe- zu jedem Heft erscheinen, nicht re- präsentativ für die Leserschaft.

Wohl aber geben die veröffent- lichten Leserbriefe getreulich die Meinungen, die der Redaktion mit- geteilt wurden, wieder. Denn die Re- daktion hat keine willkürliche Aus- wahl getroffen. Die große Mehrzahl der Leserzuschriften wurde veröf- fentlicht, und es wurde nicht die eine oder die andere Seite mehr oder we- niger bevorzugt.

Eine Reihe von Lesern hat in den letzten Monaten nicht nur ge- genüber der Redaktion, sondern, auch in der Öffentlichkeit ihr Miß- fallen gegenüber einer solchen Handhabung kundgetan. Dabei wur- de es der Redaktion vor allem ver- übelt, daß sie Leserbriefe aus der (um es pauschalierend und vereinfa- chend zu sagen) rechten Ecke veröf- fentlicht hat. Die Redaktion habe antisemitischen und nationalisti- schen Stimmen ihre Spalten geöff- net. Und schließlich der Gipfel der Vorwürfe: die Veröffentlichungspra- xis decouvriere das Deutsche Arzte- blatt. Man habe ja gewußt, daß das Deutsche Ärzteblatt mit der eigenen Vergangenheit nicht fertig werde.

Hier sind zwei Fragen angespro- chen: Wie wollen wir es mit Mei- nungsfreiheit und Pluralismus hal- ten? Wie steht es mit der eigenen Vergangenheits„bewältigung"?

Pluralismus und Meinungsfrei- heit gelten allgemein als hohe, einer demokratischen Gesellschaft ange- messene Werte. In Sonntagsreden sind sie wohlfeil. Es ist auch einfach, sie zu pflegen, wenn es keine kontro- versen Meinungen gibt. So hat zum Beispiel auch eine Zeitschrift mit ei- ner homogenen Leserschaft in der Regel selten Probleme damit. An- ders beim Deutschen Ärzteblatt; es geht an alle Ärzte und hat ein breites Meinungsspektrum zu pflegen, zu- mal heute, wo „die Arzteschaft" alles andere als homogen ist (war sie es je?). In der Behandlung kontroverser Meinungen zeigt sich, wie weit Mei- nungsfreiheit nicht nur bekannt, son- dern auch praktiziert wird.

Die Redaktion wurde mehrfach

— von einzelnen Lesern, in Medien und auch von einzelnen Autoren — aufgefordert, antisemitische und na- tionalistische Meinungen entweder seitens der Redaktion zu kommen- tieren oder zu zensieren oder schlichtweg unter den Tisch fallen zu lassen. Die Redaktion konnte sich nicht zur Zensur entschließen. Jede Zensur ist willkürlich. Wann etwa ist eine Meinung mißbilligenswert?

Zensur hätte zudem bedeutet, der Leserschaft ein verfälschtes Bild zu vermitteln. Der Leserbriefteil hätte eine scheinbare, tatsächlich aber nicht existierende Harmonie vorge-

gaukelt. Hätte man dennoch, etwa mit Rücksicht auf Leser, die im Drit- ten Reich gelitten haben, oder mit Rücksicht auf ausländische Beob- achter harmonisierend verfahren sol- len? Die Frage sei zumindest ge- stellt.

Eine Veröffentlichungspraxis im Sinne von Pluralismus heißt, daß der Leser als mündig angesehen wird, reif genug, Meinungen selbst bewer- ten zu können und Meinungen von Briefschreibern nicht als Auffassun- gen der Redaktion anzusehen. Le- serbriefe geben nicht die Auffassung der Redaktion wieder — eigentlich überflüssig, das festzustellen. Und im übrigen: über einzelnen, umstritte- nen Zuschriften sei nicht die Haupt- sache vergessen: die Artikelserie!

Die Leserbriefe und auch einige Beiträge der Artikelserie offenba- ren, wie schwierig es ist, mit einer solchen Vergangenheit wie der unse- ren zu leben. Heftige Auseinander- setzungen zwischen einzelnen Le- sern und einzelnen Autoren sowie von Lesern untereinander zeigen, wie schwierig (wenn nicht unmög- lich) es ist, in Gelassenheit eine (heute kaum glaubliche) Vergangen- heit aufzuarbeiten. Statt Objektivität

— Anklagen und Rechtfertigungen.

Man mag die Leserdiskussion somit auch als Ausdruck der Schwierig- keiten mit unserer Vergangenheit bewerten — Vergangenheits„bewälti- gung" in der Nußschale des Ärzte- blattes, kaum anders als in der „gro- ßen" Öffentlichkeit.

Vor Beginn der Serie wurde der Redaktion vorgeworfen, über die NS-Zeit schweigend hinwegzugehen.

Schon damals stimmte der Vorwurf nicht so ganz. Er kann erst recht jetzt nicht aufrechterhalten werden. Statt dessen wird von einer Gruppierung, die daran interessiert zu sein scheint, den alten Vorwurf zu nähren, nun- mehr aus einigen Leserbriefen eine Anklage zusammengezimmert. Das ist ein übles Spiel. Wir können nie- manden daran hindern, dabei mitzu- spielen. Wir spielen allerdings nicht mit, sondern werden die Artikelserie (die Beiträge werden nach Abschluß der Serie zu einem Buch zusammen- gefaßt) wie geplant zu Ende bringen und weiterhin Meinungsfreiheit und Pluralismus pflegen. NJ Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989 (17) A-853

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Vergangenheits- und Versöhnungsarbeit beschränkt sich nicht allein auf die Förderung von Dialogmaßnahmen, sondern umfasst auch die Unterstützung strukturbildender Maßnahmen wie

Nein, paradiesische Steuer-Verhältnisse wie Esch- born sind in Kelkheim nicht zu erwarten, auch wenn die Steuereinnahmen für das kommende Jahr nach ersten Schätzungen höher

Online-Marketing und mehr Aktivität auf den So- cial Media-Kanälen haben auch andere Unternehmen genutzt, um in der Krise zu bestehen: Mahabir Singh, der Geschäftsführer des

Stellvertreter (§ 40 Absatz 2 Satz 3 BBiG). Die für die Berufung von Prüfungsausschussmitgliedern Vorschlagsberechtigten sind über die Anzahl und die Größe der

Der „Green Deal“ kann letztlich für Euro- pa insgesamt – nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für Politik und Bürger – zum Erfolg werden, wenn die europäische

Wenn es also darum geht, wie künftig Anschläge verhindert werden können, so gilt für Deutschland ebenso wie für Frankreich: Nicht durch strengere.. Gesetze sondern durch

Wer sich, seine Familie, seine Volksgruppe oder sein Land dauerhaft dazu verdammt sieht, auf der Verliererstraße des globalen Wettbewerbs geparkt zu sein, wird durch

Frau Klocke qualifi- zierte sich 2011 zur Kosmetik- fachberaterin, 2017 zur Fach- beraterin für Senioren und darf sich seit März 2019 auch Phyto-Dermazeutin nennen. »Senioren