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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Die Meinungen über das Leben von Internatsschülern gehen genauso weit auseinan- der, wie zahllose Kinderro- mane und Filme es einseitig überzeichnend dargestellt ha- ben: einmal voll gewitzter Streiche und unzertrennli- cher Kameradschaft, ein an- deres Mal als bedrückenden Kindheitschrecken. Wird hin und wieder im Kreis von Freunden oder Bekannten über vergangene Schulzeiten geplaudert, sehe ich mich als ehemaliger Zögling des Internatsgymnasiums Gaes- donck daher vor neugierige Nachfragen gestellt, was an diesen Klischees vielleicht doch wahr sei.
Bei näherem Hinsehen ist festzustellen, daß Internate so zahlreich und unterschied- lich sind wie Träger und de- ren Ziele. Kirchliche oder vielfältige weltanschauliche Überzeugungen standen bei der Gründung der Institute Pate. Je nachdem, ob liberale oder strenge Erziehungs- grundsätze gelten, welche schulischen Schwerpunkte gebildet werden und welche Kosten monatlich den Eltern entstehen, gibt es deutliche Unterschiede.
Trotz der Differenzen sind dem Schüleralltag der mei-
sten Internate aber einige Grundzüge gemeinsam, die ihn zugleich vom Besuch an- derer Schulformen unter- scheiden: das dauerhafte Le- ben außerhalb des Elternhau- ses in der Gemeinschaft von Erziehern und Mitschülern, der enge Bezug von Schule und Internatsleben, schließ- lich auch die Tatsache, daß ein besonderes Erziehungs- ideal vorgegeben wird, mit dem der Internatsschüler sich auseinandersetzen soll.
Individuelle Förderung Die beständige Lebensge- meinschaft mit Erziehern und teils auch Lehrern sowie die räumliche Nähe von Schule, Wohnhäusern und Angebo- ten zur Freizeitgestaltung er- möglichen eine intensive För- derung der Kinder. Neben der schulischen Ausbildung bieten viele Internate Ar- beitsgemeinschaften oder Einzelunterricht an, um die sportlichen, handwerklichen oder besonders auch musi- schen Interessen ihrer Schü- ler zu unterstützen. Sie ver- mitteln so Fähigkeiten, die für die Selbsterfahrung und das Selbstwertgefühl gegen- über dem Mitschüler eine
wichtige soziale Bedeutung erhalten.
Solche individuelle Be- treuung, die gerade für die Jüngsten erforderlich ist, setzt allerdings voraus, daß die Schüler in kleinen Wohn- einheiten leben. Zimmerge- meinschaften in den unteren Jahrgangsstufen und die Gruppierung der Zimmer um kleine Wohnflure sollten überschaubare Strukturen schaffen.
Der damit verbundene ho- he Personalaufwand und die Kosten internatseigener Frei- zeitangebote können eine er- hebliche Belastung der elter- lichen Finanzen verursachen.
Manche Internate werden da- her von ihren Trägern oder Förderkreisen subventioniert oder gewähren nach sozialen Gesichtspunkten Teil- und Vollstipendien. Dies gilt be- sonders häufig für Internate in kirchlicher Trägerschaft.
Sie wollen den Konfessions- mitgliedern möglichst ohne Unterschied der sozialen Herkunft offen stehen, wohl auch in der Hoffnung, daß der eine oder andere der Zöglinge eine geistliche Be- rufslaufbahn einschlägt. Da- her findet man hier eher eine ausgewogene Zusammenset- zung der Schülerschaft.
Die Gemeinschaft der Mit- schüler hat neben der Bezie- hung zu Erziehern und Leh- rern für den Internatsschüler eine besondere Bedeutung.
Sie ist sicher das wichtigste Erlebnis der Internatszeit.
Schließlich lebt der Heran- wachsende Woche für Woche rund um die Uhr mit seinen Mitschülern zusammen. In ih- rer Gemeinschaft muß er sei- nen Platz bestimmen lernen.
Freunde fürs Leben
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Aus gemeinsam bewältig- ten kleinen und größeren Problemen entwickeln sich im Laufe der Jahre jene „dicken Freundschaften", die sich in den so häufig phantasiereich geschilderten Internatsstrei- chen gegenüber Lehrern und Erziehern bewähren und die manchmal ein Leben lang halten. Ich erinnere mich vor allem an eine nächtliche Akti- on, in der das Schulentree re- gelrecht zugemauert wurde mit Alt-Zeitungen, die über lange Zeit heimlich gesam- melt worden waren. Die Be- währung in der Gruppe der Kameraden kann eine frühe Entwicklung zur Selbständig- keit fördern. Wer aber in eine Außenseiterposition gerät, kann bei der Kindern ja eige- nen unbefangenen Härte, mit der sie diesem Mitschüler be- gegnen, auch grundlegende Persönlichkeitsschäden erlei- den. Gerade hier kommt es
„Dicke Freundschaften" - oder Kindheitsschrecken?
Erziehung in engen Lebensgemeinschaften
Die Klassensituation kann im Internat ganz alltäglich aussehen . . . aber sie kann auch einmal ganz andere Formen annehmen.
Dt. Ärztebl. 89, Heft 4, 24. Januar 1992 (89) A1-231
In solch idyllischer Umgebung liegt das in einer früheren Dorfschule im Bergischen Land untergebrachte kleinste deutsche Internatsgymnasium (Alzen bei Moisbach/Sieg;
Tel: 0 22 94/71 19). — Expertenhilfe bei der Auswahl des „rich- tigen" Internates gibt die Zentralstelle für Internatsberatung, die von der gemeinnützigen Arbeitsgemeinschaft Verbrau- cherschutz im Bildungs- und Erziehungswesen getragen.
wird. Hier bemüht man sich — notfalls in ausführlichen Ge- sprächen —, Eigenschaften und Bedürfnisse der Jugendlichen mit den Internatsangeboten zur Deckung zu bringen (ZFI,
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Postfach 40, 6301 Allendorf/Lumda, Tel: 0 64 07/86 04). ❑IIl
Internate ) —
auf eine selbstkritische, gute Zusammenarbeit von Inter- nat und Eltern an.
Ideale
11111111111■1111111111 Die ideellen Ziele, welche die Erziehung im Internat lei- ten, machen eine eingehende Untersuchung nötig, bevor man sich für eines von ihnen entscheiden mag. Dies ist bei kirchlichen Einrichtungen leichter möglich. Die weltan- schaulichen, pädagogisch- philosophischen Hintergrün- de anderer Einrichtungen hingegen sind oft nur mit grö- ßerem Aufwand zu erkennen.
Eltern sollten sich dieser Mü- he unbedingt unterziehen. Ihr Kind ist in dieser Phase des Heranwachsens sehr aufnah- mebereit und die Internats- jahre vermitteln positiv wie negativ eine bleibende Prä- gung. Gelingt es den Erzie- hern, eine Überzeugung grundzulegen, die später noch den Erwachsenen zu tragen vermag, so ist dies si- cher eine der besten Voraus- setzungen, die das Internat für das weitere Leben schaf- fen kann.
Vorüberlegungen
BIMS M111111111111 Im Gegensatz zu Interna- ten in England, deren Be- such in den sogenannten bes- seren Kreisen zur Familien- tradition gehört, können hier- zulande Internate nicht auf ein solches gesellschaftliches Muß zurückgreifen. Sie ver- suchen sich vielmehr durch ihr besonderes Leistungspro- fil als Alternative zum öffent- lichen Schulbetrieb auszu- zeichnen.
Beweggründe, sein Kind einem Internat anzuvertrau- en, stammen wohl am häufig- sten daher, daß Familienle- ben, Freizeit und Schule nicht in dem gewünschten Maße miteinander in Einklang zu bringen sind: der weite, bela- stende und gefährliche Weg zu einer Schule, die das elter- liche Vertrauen verdient; der häufige, durch berufliche Veränderung der Eltern be- dingte Ortswechsel verhin-
dert, daß die erforderlichen Bindungen zu einer Schule und Freunden sich entwik- keln können; die verfahrene Situation nach schulischen Mißerfolgen, aus der die Chance eines grundlegenden Neuanfangs gesucht wird, den Eltern und bisherige Schule nicht mehr bieten können; fehlende Gelegen- heit für Einzelkinder, das Le- ben in einer großen Gemein- schaft Gleichaltriger zu erler- nen, die nicht nur auf die werktäglichen Schulstunden beschränkt ist.
In solchen Fällen können Internate die gewünschte Hil- fe bieten. Ersatz für den grundlegenden Halt bei den eigenen Eltern können und wollen sie ihren Schülern aber nicht sein. Man beden- ke, daß allein durch Wochen- enden und Ferien auch Inter- natsschüler gut ein Drittel des Jahres zu Hause sind. Da- her ist die gute Zusammenar- beit von Internat und Eltern eine Voraussetzung für die positive Entwicklung des Kin- des (Collegium Augustinia- num Gaesdonck, Gaesdon- cker Str. 220, W-4180 Goch, Tel: 0 28 23/60 71-2, Fax:
0 28 23/8 89 63). Georg Fassin
Schulische
und menschliche Förderung
Das Bodelschwingh-Gym- nasium in Herchen im Siegtal ist ein staatlich anerkanntes Gymnasium in kirchlicher Trägerschaft, dem ein Inter- nat mit 90 Plätzen ange- schlossen ist. Die vierzügige Schule ist wesentlicher Be- standteil der Bildungs- und Erziehungsarbeit in Herchen.
Das Internat will Eltern bei der Erziehung unterstützen und den Kindern eine beson- dere schulische und menschli- che Förderung bieten.
Durch das Zusammenle- ben in Hausgemeinschaften von zwölf Schülern mit Erzie- hern als festen Bezugs- personen sowie durch ein ausgewogenes Verhältnis von Pflichten und Freiheiten sol- len die jungen Menschen so- ziale Fähigkeiten und Ver- antwortungsbereitschaft ent- wickeln. Die Unterstützung im schulischen Bereich be- steht in Hausaufgabenbetreu- ung und einer Fülle von zu- sätzlichen Förderungen durch Lehrer der Schule. Au-
ßer dem Gymnasium können auch die kommunale Haupt- oder Realschule besucht wer- den. Der Freizeitbereich stellt einen wichtigen Teil des Internatslebens dar. Gewählt werden kann aus Angeboten im künstlerischen, sportli- chen, wissenschaftlichen, so- zialen und ökologischen Be- reich (Bodelschwingh-Gym- nasium der Evangelischen.
Kirche im Rheinland, Bodel- schwinghstraße 2, W-5227 Windeck-Herchen, Tel:
0 22 43/20 65). ❑
Erziehung zur Verantwortung
Die Stiftung Louisenlund an der Schlei verdankt ihr Entstehen im Jahr 1949 Her- zog Friedrich zu Schleswig- Holstein, der von dem Päd- agogen Kurt Hahn angeregt worden war.
Das Landeserziehungs- heim Stiftung Louisenlund ist ein staatlich anerkanntes Gymnasium in freier Träger- schaft. Der Fremsprachenun- terricht beginnt mit Englisch (5. Schuljahr) und wird mit Latein oder Französisch (ab 7. Schuljahr) fortgesetzt. In der Reformierten Oberstufe wird im Kurssystem unter- richtet.
Louisenlund bietet seinen Schülerinnen und Schülern eine umfassende schulische, praktische und soziale Erzie- hung, genau abgestimmt auf die Bedürfnisse der verschie- denen Altersgruppen. Die Ju- nioren (Klasse 5 bis 8) haben ihre eigene Welt auf dem Hof Louisenlund, etwa 800 Meter vom Schloß entfernt. In den mittleren Jahrgängen spielen die klassischen Internatsakti- vitäten, wie zum Beispiel Kut- tersegeln und Feuerwehr, ei- ne besonders wichtige Rolle.
In den letzten Jahrgängen lie- gen die Schwerpunkte auf dem geistigen und wissen- schaftlichen Gebiet. Die Er- ziehung zur Verantwortung ist eines der herausragend- sten Ziele Louisenlunds (Stif- tung Louisenlund, W-2336 Güby, Tel: 0 43 54/17-0; Fax 0 43 54/1 71 71). ❑ A1-232 (90) Dt. Ärztebl. 89, Heft 4, 24. Januar 1992